Mit fast 30 sollte ich mein Leben im Griff haben …
Spoiler: Hab ich nicht.
Und wenn ich ganz ehrlich bin: Ich weiß auch nicht, ob das jemals wirklich der Fall sein wird. Das Gefühl, mein Leben nicht im Griff zu haben, trifft mich nicht nur bei den großen Fragen. Es überfällt mich interessanterweise besonders in diesen kleinen, banalen Momenten, in denen der Alltag einfach nicht mitspielt. Wenn ich seit vier Tagen an einem Wäscheständer vorbeilaufe, der immer noch abgehangen werden will. Wenn auf meinem Schreibtisch immer noch die nicht unterschriebene Patientenverfügung liegt. Oder wenn ich mich an einem Dienstagvormittag frage, warum sich gerade alles ein bisschen schwer anfühlt, obwohl objektiv alles läuft.
Dann ist da dieses nagende Gefühl, dass ich mit knapp 30 mein Leben eigentlich längst sortiert, strukturiert, abgesichert und im Griff haben müsste. Weil man das mit 30 doch so macht. Oder?
Boss im Business, Chaos privat – so what?
Als Unternehmerin treffe ich Entscheidungen, die Auswirkungen habe. Und ich mag, was ich tue. Und gerade deswegen taucht manchmal dieser innere Vorwurf auf: „Wie kannst du eine Unternehmensgruppe zu führen, wenn du privat keine Kraft hast, den verdammten Wäscheständer wegzuräumen?“ Aber warum eigentlich nicht?
Warum glauben wir, dass eine gute Position automatisch bedeutet, dass wir in allen anderen Lebensbereichen auch alles im Griff haben müssten? Dass man kein Chaos im Kopf oder in der Wohnung haben darf, wenn man tagsüber Entscheidungen über sechsstellige Budgets trifft?
Als Unternehmerin bin ich konstant im Lernmodus. Ich reagiere auf Veränderungen, baue Systeme auf, werfe sie wieder um. Und genau so ist es auch im Leben. Der Unterschied: Im Business ist es völlig okay, dass Prozesse Zeit brauchen, dass nicht alles perfekt läuft, dass Scheitern dazugehört. Privat glauben wir, genau diese Dinge wären ein Zeichen von Schwäche.
Laut Rentenversicherung werde ich über 100 Jahre alt
Ich habe mit Freundinnen und Freunden gesprochen. Anfang 20, Ende 30, mitten im Leben. Und die meisten von ihnen sagen irgendwann denselben Satz: „Ich dachte, ich müsste mein Leben mit Anfang/Mitte/Ende zwanzig im Griff haben.“ Als gäbe es da draußen so etwas wie eine Lebens-Deadline. Bis 30: Karriere gemacht, Altersvorsorge geregelt, mentale Stabilität, perfekter Freundeskreis, Wohnung mit Pflanzen, die nicht eingehen und ein funktionierender Tagesablauf mit Meal-Prep und Yoga-Einheiten.
Aber ich hab mal nachgerechnet: Laut aktueller Sterbetafel der Deutschen Rentenversicherung werde ich vermutlich 101,2 Jahre alt. Wenn das stimmt, dann habe ich gerade mal 29 Prozent meines Lebens hinter mir. Nicht mal ein Drittel. Warum zur Hölle sollte ich jetzt schon alles wissen, alles geregelt haben, alles verstanden haben? Und selbst wenn ich’s irgendwann „im Griff“ hätte: Was soll das überhaupt heißen?
Bitte neu sortieren!
Gary Vaynerchuk, den viele aus der Business-Bubble eher als Social-Media-Bulldozer kennen, hat mal was ziemlich Treffendes gesagt: „Figuring everything out is an everyday process.“ Ich finde: In diesem schicken Insta-Spruch steckt ein Fünkchen Wahrheit. Du bekommst Kinder? Neu sortieren. Du wirst Führungskraft? Neu sortieren. Du verlierst einen Elternteil, bekommst eine Diagnose, ziehst um, verlierst dich selbst für einen Moment? Neu sortieren.
Wir tun oft so, als wäre das Leben ein Projekt mit Meilensteinen, Checklisten, einem definierten Endziel. Aber es ist eher ein Betriebssystem, das ständig Updates braucht. Die meisten kommen genau dann, wenn’s gerade überhaupt nicht passt. Und sie bringen selten eine einfache Bedienungsanleitung mit. Ich habe irgendwann aufgehört, auf diesen „einen Moment“ zu warten, in dem sich plötzlich alles richtig anfühlt. Denn den gibt’s nicht. Oder sagen wir so: Wenn er kommt, dauert er vielleicht ein paar Tage. Und dann kommt das nächste Kapitel, das alles wieder durcheinanderwirbelt.
Kein Mensch hat alles im Griff
Was ich in Gesprächen mit Menschen jenseits der 50, 60 oft merke: Die meisten haben ihr Leben auch nicht komplett im Griff. Sie wirken gefestigt, erfahren, ruhig, aber sie haben genauso blinde Flecken, Ängste, unerledigte To-dos. Der einzige Unterschied? Sie sind besser darin geworden, das Chaos zu verstecken. Und manchmal beneide ich sie dafür. Aber meistens beruhigt es mich. Denn es zeigt: Kein Mensch hat wirklich alles im Griff. Auch nicht die, die so tun, als hätten sie es.
Also, was soll dieser innere Anspruch, als Unternehmerin mit 29 Jahren nicht nur geschäftlich, sondern auch privat alles in Stein gemeißelt zu haben? Warum dieser Druck, fertig zu sein mit mir selbst, mit meinen Plänen, mit meinem Inneren? Das Leben ist kein fertiger Bauplan. Es ist eine ewige Baustelle. Und wer behauptet, dass er mit 30 die Ordnung für den Rest des Lebens gefunden hat, lügt entweder – oder langweilt sich in zehn Jahren zu Tode. Ich für meinen Teil nehme mir noch einen Satz von Gary V. mit: „You’re not lost in life. You’re just early in the process.“ Und das gilt nicht mit 18, 28, 38, 58 usw. Weil wir nie wirklich fertig sind. Wir sind einfach mittendrin.
Was meint ihr?
Habt ihr auch manchmal diesen Druck, euer Leben „im Griff“ haben zu müssen? Gerade, wenn ihr Verantwortung trägt oder als Unternehmer:in sichtbar seid? Oder habt ihr euren Frieden mit dem Chaos geschlossen? Ich freue mich ehrlich auf eure Perspektiven. Gerne auch unaufgeräumt ;-)