Mut zur Entscheidung: Was Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki Unternehmen zu sagen hat
Zur Kernaufgabe von nachhaltiger Führung gehört heute vor allem die Organisation von Zusammenarbeit im Unternehmen, das Sichern der Zukunftsfähigkeit der gesamten Organisation sowie entscheiden statt verwalten. Karrieren, die sich darauf gründen, haben positive Rückwirkungen im gesamten Unternehmen, dessen Erfolg umso glaubwürdiger und stabiler ist, wenn er im Einklang mit positiven Grundwerten der Mitarbeiter und der Gesellschaft erwirtschaftet wird. Wichtig sind dabei Führungskräfte mit Haltung, die im Spannungsfeld zwischen Stabilität und Dynamik, partnerschaftlichem Miteinander und professioneller Distanz überzeugen können.
Um Wirksamkeit zu erreichen, braucht es Klarheit, Wahrhaftigkeit und Authentizität.
Das lässt sich vor allem von Marcel Reich-Ranicki lernen, der fünf Jahrzehnte als erfolgreichster und wirkungsvollster Kritiker die deutsche Literaturlandschaft prägte und den meisten Deutschen als "Literaturpapst“ bekannt ist. Sein Denken und Schreiben begriff er als Element eines großen, gesellschaftlichen Gesprächs. „Reich-Ranicki lehrte die Literaturkritik statt einer knienden Haltung den aufrechten Gang“, schreibt der Literaturwissenschaftler Thomas Anz in seiner wegweisenden Biografie „Marcel Reich-Ranicki. Sein Leben“. Sie ist auch deshalb lesenswert, weil sie Aspekte aufnimmt, die auch im Wirtschaftskontext von enormer Bedeutung sind.
Dass Reich-Ranickis Vater 1929 die Familie nicht mehr ernähren konnte, hat ihm der damals neunjährige Sohn nie verziehen. „Er war ein Geschäftsmann und Unternehmer, dessen Geschäfte und Unternehmungen in der Regel wenig oder nichts einbrachten. Natürlich hätte er dies früher oder später einsehen sollen, er hätte sich nach einer anderen Tätigkeit umschauen müssen. Aber hierzu fehlte ihm jegliche Initiative. Fleiß und Energie gehörten nicht zu seinen Tugenden. Charakterschwäche und Passivität bestimmten auf unglückselige Weise seinen Lebensweg.“
Das Gegenteil eines ehrbaren Kaufmanns.
Der damals zwanzig Jahre alte Sohn suchte für seinen sechzigjährigen Vater eine Beschäftigung und schämte sich wie einst seine Mutter, als ihr Mann bankrott war. Vielleicht war die Angst vor Verachtung, Mitleid und sozialem Abstieg eine der Triebkräfte, „die das Leben des Sohnes prägten und seinen forcierten Selbstbehauptungswillen hervorbrachten.“ 1929 zog er aus seiner polnischen Geburtsstadt Wloclawek nach Berlin. Eine Lehrerin verabschiedete ihn mit den Worten: „Du fährst, mein Sohn, in das Land der Kultur.“ Knapp zehn Jahre später zeigte es sich von seiner dunklen Seite. Reich wurde im Herbst 1938 (kurz nach seinem Abitur) von den Nazis ausgewiesen und nach Polen deportiert. Dort lebte er ab 1940 im Warschauer Getto, aus dem er 1943 zusammen mit seiner Frau in den Warschauer Untergrund floh. Seine Eltern und sein Bruder wurden von Deutschen ermordet. Deutschland hatte für ihn deshalb immer mit ambivalenten Erfahrungen zu tun: einerseits der Holocaust, andererseits seine Leidenschaft für deutschsprachige Literatur.
Nachdem ihn die sowjetische Armee befreit hatte, trat er der Kommunistischen Partei Polens bei und arbeitete in der polnischen Militärkommission in Berlin, im polnischen Außenministerium, 1948 und 1949 als Konsul der Republik Polen in London und zugleich im polnischen Geheimdienst. Nach der Rückkehr in Warschau wurde er aus der Partei wegen „ideologischer Entfremdung“ ausgeschlossen. „Mit dieser Haftzeit endete Reich-Ranickis politische Karriere im diplomatischen Dienst – und es begann eine neue: Sie stand im Dienst der Literatur“, so Anz. Mit seiner Frau Tosia und ihrem gemeinsamen Sohn flüchtete er zurück nach Deutschland.
Reich-Ranicki war ausschließlich Kritiker, der sich nie angebiedert hat, sondern immer eine Haltung hatte.
Schon 1933 kritisierte Robert Musil, dass die „Buchkritik zu einem großen Teil Literaten überlassen (wurde), die sich gegenseitig lobten“. Auch Friedrich Sieburg verwies 1959 den „lauen Regen gegenseitiger Gefälligkeiten auf das dürre Gelände. Die Autoren schreiben über einander, sie preisen sich im Rundfunk, sie besprechen einander in den literarischen Rubriken… So entsteht die feige und langweilige Jasagerei, die alljährlich mit scheinheiliger Monotonie die literarische Luft verpestet.“
Der gute Kritiker, bemerkte Reich-Ranicki wiederholt, zeichnet sich durch den Mut zur Entscheidung aus. „Wer ‚ja‘ oder ‚nein‘ sagt, der riskiert natürlich einen großen Irrtum. Den schwachen, den schlechten Kritikern, die stets ‚Jein‘ sagen, kann schlimmstenfalls ein halber Irrtum unterlaufen. Die bedeutenden Kritiker erkennt man gerade an ihren Irrtümern, weil sie im Urteil irrend gleichwohl ihre Objekte glänzend zu charakterisieren vermochten.“ Dieser Aspekt ist im Wirtschaftskontext besonders interessant, denn Unternehmer müssen täglich viele Entscheidungen treffen, prüfen, ob sie passen und sie gegebenenfalls neu justieren.
Eine Entscheidung ist generell sehr einfach zu treffen, wenn die Kompliziertheit abgelegt wird.
Reich-Ranicki und Unternehmer Wolfgang Grupp, alleiniger Geschäftsführer und Inhaber der Firma Trigema in Burladingen, haben einiges gemeinsam (nicht nur die Medienpräsenz und die Freude an Zuspitzung). Es ist vor allem der Mut zur Entscheidung. Wo nicht entschieden wird, kann auch nichts gemacht werden. „Entscheidungen sind wichtig, damit sich die Dinge bewegen und es vorwärts geht“, so Grupp. Beide verbindet auch die Art zu arbeiten: Der Burladinger Unternehmer kennt jede Näherin, sucht die Farben der Stoffe noch persönlich aus, geht ins Detail und kontrolliert den Prozess. Kontrolle und Hierarchien werden heute vor allem mit einer Misstrauenskultur verbunden, in denen der Lenin zugeschriebene Satz vorherrscht: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ Kontrolle hat bei beiden allerdings mit Qualität zu tun. Und der Erfolg gibt ihnen Recht.
„Alle Fragen offen.“
Von 1960 bis 1973 war Reich-Ranicki Literaturkritiker der „ZEIT" und leitete von 1973 bis 1988 den Literaturteil der „FAZ“, wo er noch bis zu seinem Tod als Kritiker und Redakteur der „Frankfurter Anthologie“ tätig war. Auch er bestand auf strenger (redaktioneller) Kontrolle: Fast jeden Satz, der unter seiner redaktionellen Verantwortlichkeit erschien, prüfte er vorher. Auch, was seine Mitarbeiter redigierten, sah er noch einmal durch. Vom Layout der Zeitungsseiten, auf denen Artikel aus seinem Ressort erschienen, ließ sich die Entwürfe vorlegen. Auch entschied er, welche Neuerscheinungen für eine Rezension infrage kamen, welcher Rezensent welches Buch besprechen sollte, welche Länge die Texte haben sollten und wann sie erscheinen sollten. Leserbriefe beantwortete er häufig persönlich, ebenso die Anfragen von Mitarbeitern.
„Es gab wohl selten eine Kulturredaktion, die intern so gut organisiert war und in den Außenbeziehungen so zuverlässig funktionierte wie die der Frankfurter Allgemeinen unter Reich-Ranicki“, schreibt Thomas Anz, der seit 1981/82, ein Jahr lang zu seinen Mitarbeitern in der Literaturredaktion der FAZ gehörte und von ihm viel über Literaturkritik gelernt hat. Bis zu seiner Emeritierung war er Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Marburg und wurde von Marcel Reich-Ranicki zu seinem Nachlassverwalter bestimmt.
Als er 1988 - im Alter von achtundsechzig Jahren - die Redaktionsleitung des Literaturteils in der FAZ abgeben musste, schien seine Macht ihr Ende erreicht zu haben. Doch er steigerte sie noch einmal – als Fernsehstar als Literaturleitkritiker des "Literarischen Quartetts": Von 1988 bis 2001 war er der führende Kopf der ZDF-Sendung. Seine 1999 erschienene Autobiographie "Mein Leben" wurde zum Millionenbestseller und 2008 von Dror Zahavi mit Matthias Schweighöfer in der Hauptrolle verfilmt. Der Literaturkritik blieb er bis zum Schluss treu. Der Titel eines seiner letzten Bücher lautet „Kritik als Beruf“.
MRRs Erfolgsaspekte von A bis Z
Begabung – Ehrgeiz – Engagement – Entschiedenheit – Fleiß – Humor – Klarheit - Konzentration – Leidenschaft – Mut – Neugier – Offenheit – Schlagfertigkeit – Selbstbewusstsein – Spezialisierung – Temperament – Unabhängigkeit – Unbestechlichkeit – Verständlichkeit – Verständigungsoptimismus.
Weiterführende Literatur
Thomas Anz: Marcel Reich-Ranicki. Sein Leben. Insel Verlag Berlin 2020.