Nach der Insolvenz: Wie das einstige Milliarden-Start-up Infarm weitermachen will
Das milliardenschwere Start-up Infarm ging im Herbst überraschend pleite. Neue Dokumente offenbaren einen Schuldenberg von 125 Millionen Euro. Die Gründer aber geben nicht auf, überzeugten sogar einen Investor.
Selbst ein Marktwert von einer Milliarde Euro schien für Infarm nur eine Zwischenstation zu sein. Als das Berliner Start-up Ende 2021 diese Bewertungsmarke erreichte, schien es für die Gründer fortan kein Limit mehr zu geben. Ihre Glaskästen zur Kräuterzucht waren das Symbol einer neuen, nachhaltigen Form der Ernährung. Licht, Temperatur und pH-Wert wurden aus der Ferne geregelt, Wasser und Dünger flossen automatisch. Die smarten Gewächshäuser standen in Tausenden Filialen von Edeka, Rewe und anderen Supermärkten, in mehreren Ländern errichtete Infarm Lagerhallen, in denen Basilikum, Petersilie oder Salat herangezogen wurden. Das Ende der klassischen Landwirtschaft schien nah, Infarms globaler Erfolg unumgänglich.
Es sollte anders kommen. Nur anderthalb Jahre nach dieser Phase, in der dem Unternehmen alles zu gelingen schien, glückte plötzlich nichts mehr. Ab Frühjahr 2023 zog sich das Unternehmen schrittweise aus fast allen Märkten zurück, auch aus dem Heimatland Deutschland. Im September meldete Infarm Insolvenz an. Zuerst für die Mutterholding in den Niederlanden, dann für die deutsche GmbH, die zwischenzeitlich nach London umgesiedelt war. Und diese Insolvenz, das zeigen nun diverse Dokumente aus dem Verfahren, sollte für Infarm keineswegs der Beginn eines zweiten, noch besseren Anlaufs sein. Stattdessen wurde hier für alle Beteiligten offenbar, wie schlecht es eigentlich die ganze Zeit um Infarm gestanden hatte.
Das Start-up wurde 2013 im hippen Berliner Bezirk Kreuzberg von drei Israelis gegründet: Guy Galonska, seinem Bruder Erez und dessen Ehefrau Osnat Michaeli. Die Firma wuchs rasant, zog bedeutende Investoren aus Fernost und dem Silicon Valley an. Fast zehn Jahre hielt der Erfolg, doch ab 2022 verdüsterte sich die Lage. Da halbierte das Start-up sein Team plötzlich, kündigte rund 500 Personen. Nach der Insolvenz dann folgte der noch radikalere Schlag. Die restlichen 500 Mitarbeiter verloren ihren Job; alle Produktionsstätten wurden stillgelegt, in Frankfurt und Berlin, England, Dänemark, den USA. Nur in Kanada blieb eine Restbesetzung an Bord.
Infarm: Energiefresser Gewächshaus
„We’re undergoing an exciting strategy change to grow and innovate“, steht seit der Insolvenzanmeldung auf der Internetseite von Infarm. Anfragen zu diesem Strategiewechsel aber laufen ins Leere. Mitgründerin Osnat Michaeli, die in der Vergangenheit für die Firma gesprochen hat, antwortete lediglich, sie sei im Frühjahr für mehrere Wochen auf Reisen. „Details über das neue Projekt habe ich gerade nicht parat“, so Michaeli weiter.
Klarer ist inzwischen, woran das Projekt Infarm gescheitert sein dürfte. Ein bedeutender Faktor waren wohl die Energiepreise, die seit dem Angriffs Russlands auf die Ukraine immens anstiegen. Die Gewächshäuser müssen rund um die Uhr mit Strom versorgt werden. Bereits 2021 hatte Infarm für Strom und Heizung laut Finanzunterlagen mehr als zwei Millionen Euro ausgegeben, fast doppelt so viel wie im Jahr zuvor. Und während einerseits die Kosten in die Höhe schnellten, stockte auf der anderen Seite offenbar der Geldzufluss. Die finanziellen Mittel seien 2022 fast komplett aufgebraucht gewesen, heißt es im Report. Neue Geldgeber wiederum forderten eine Perspektive, wie sich das Geschäft selbst tragen könne – doch die gab es nicht.
<div>Laut Insolvenzbericht lag der Umsatz 2021 bei acht Millionen Euro, die Verluste addierten sich auf 76 Millionen Euro. Ein anderer öffentlich einsehbarer Konzernabschluss weist für 2021 sogar einen Jahresfehlbetrag von 129 Millionen Euro auf. Welche Zahl stimmt, ist unklar. Auch nach den drastischen Personalkürzungen wurde es nicht wesentlich besser. Die jüngsten Zahlen stammen aus den Monaten Januar bis September 2023. Da setzte Infarm neun Millionen Euro um – und verbuchte ein Minus von zehn Millionen Euro.</div>
Als klar war, dass das Geld knapp würde, engagierten die Gründer im vorigen Mai die britische Beratungsfirma RSM, die sich auf Restrukturierung spezialisiert. Deren Fazit nach einem Blick in die Bücher: Man müsse eine Einigung mit den Gläubigern erreichen und neue Investoren finden – oder die Firma verkaufen. Die Suche der Berater nach Käufern aber blieb erfolglos. „Am Ende dieses Prozesses wurde kein einziges Gebot abgegeben“, heißt es im Abschlussbericht von RSM. Nicht einmal für Teile des Start-ups wie eine Halle voller Gewächshäuser. Kapitalgeber waren in den letzten zwei Jahren allgemein besonders zurückhaltend. Haben Unternehmen keine Strategie vorweisen können, wie sie profitabel werden, gab es kein Geld.
Den Gründern ging es spätestens jetzt wohl nur noch darum, persönlich halbwegs unbeschadet aus der Sache herauszukommen. Sie verlagerten Infarms Hauptsitz von Berlin nach London – und meldeten zwei Wochen nach dem Umzug, Anfang September 2023, in Großbritannien Insolvenz an, die nach britischem Gesetz Pleitiers weniger hart trifft als in Deutschland. Gesellschafter erhoffen sich dort in der Regel, dass sie nach Abschluss des Verfahrens alle Schulden los sind. Eine bedeutende Erleichterung: Bei Infarm summierten sich die Schulden auf 125 Millionen Euro, die Gläubigerliste war mehrere Seiten lang.
Rund 40 Millionen Euro davon stammen aus einer Anleihe von TriplePoint Capital, einem Finanzier aus dem Silicon Valley. Die Telekom, diverse Zollämter und der Bezahldienstleister Klarna forderten zum Zeitpunkt der Insolvenzanmeldung ebenfalls noch Geld ein. Die höchsten Rechnungen standen beim Logistiker SSI Schäfer und dem Klimatechniker Weiss offen, jeweils 1,6 Millionen Euro.
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Technik zum Schleuderpreis
Beglichen wurden all diese Forderungen nie. Stattdessen sicherte sich eine höchst ungewöhnliche Bietertruppe die Unternehmenswerte, zum Schleuderpreis von einer halben Million Euro: die Gründer selbst, unterstützt vom israelischen Investor Hanaco Growth Ventures. Nach WirtschaftsWoche-Informationen hat das Team Ende 2023 mit den Hinterlassenschaften des insolventen Start-ups eine neue Firma gegründet. In der Geschäftsführung der Infarm Technologies Limited sitzen Erez Galonska, bislang CEO von Infarm, und Investor Pavel Romanovski. Der VC hatte bereits 2021 in das Gewächshaus-Start-up investiert, als es mit einer Milliarde Dollar bewertet wurde. Nun will der Kapitalgeber aus Tel Aviv mit seinen Schützlingen den Betrieb weiterführen.
Für ihr Geld bekamen sie Technik und Maschinen, deren Wert die Insolvenzverwalter mit 25 Millionen Euro angesetzt hatten. Die Patente wurden mit 37.000 Euro verbucht. Verständlich, dass dieser Schritt unter den Altgesellschaftern Fragen aufwarf. Die Gründer hätten sich seit der Pleite nicht gemeldet, heißt es aus deren Umfeld. Größere Proteste aber blieben aus – viele Investoren hatten ihre Anteile und Kredite wohl schon lange vorher gedanklich abgeschrieben. Schon die Milliardenbewertung sei kaum haltbar gewesen, sagt einer rückblickend. Infarm habe zwar ein innovatives Produkt erschaffen, die Marke sei allerdings verbrannt.
Die Gründer selbst wollen sich davon nicht abschrecken lassen. Sie setzen nun auf einen Neustart. Helfen solle die alte Produktionshalle im kanadischen Hamilton, heißt es aus dem Umfeld des Unternehmens. Gut zwei Dutzend Mitarbeiter sollen dort noch für Infarm arbeiten. Sie ziehen in einer Produktionshalle weiter Pflanzen in verglasten Gewächshäusern heran, die an Händler im nahen Toronto geliefert werden. Mit Supermärkten kooperiert Infarm nach Informationen von WirtschaftsWoche nicht mehr. Das neue Alleinstellungsmerkmal: Die Kräuter sind koscher, sie wachsen ohne Insekten in den Glaskästen auf. Eine lukrative Nische.
Die Gründer sitzen auf der anderen Seite der Erdkugel, verwalten den kanadischen Markt aus der Ferne. Die Adresse der neuen Firma befand sich anfangs in einem Members Club im Londoner Szenebezirk Soho, im April wurde der Firmensitz zu einem Rechnungsprüfer in die beschauliche Grafschaft Somerset verlegt. Das neue Infarm nur eine Briefkastenfirma? Vom eigenen Büro mussten sich die Gründer demnach zumindest verabschieden.
Aus dem Unternehmensumfeld heißt es, die beiden Brüder und Michaeli würden an einer sogenannten „Asset light"-Strategie arbeiten. Das heißt, kaum Eigentum und keine teuren Hardwareprodukte wie Gewächshäuser, vorher das Kernstück von Infarm. Der Fokus liege auf dem jahrelangen Know-how der Israelis und der bereits entwickelten Software, die etwa die Farmen vernetzt und überprüft. Denkbar sei eine Art Beratung, Kunden wären alte Geschäftspartner.
Ein reichlich spitzes Geschäftsmodell – aber viel schlechter als das alte dürfte es kaum laufen.
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