Fotocredit: Anna Wiesler

Nachfolge als gemeinsamer Kulturwandel: Interview mit Anna Wiesler

Anna Wiesler ist seit 2020 als Junior-Chefin im familiengeführten Seehotel Wiesler am Titisee im Hochschwarzwald tätig.

Nach ihrer Ausbildung zur Hotelkauffrau im Hotel Vierjahreszeiten am Schluchsee studierte sie Unternehmensführung im Tourismusbereich am Management Center Innsbruck. Daneben sammelte sie internationale Praxiserfahrung im Aldiana Club Fuerteventura und absolvierte ein Auslandssemester an der University of Central Florida in Orlando – einem der weltweit führenden Standorte für Hospitality Management. 2020 stieg sie in den elterlichen Betrieb ein und übernahm sukzessive die Leitung des operativen Hotelbereichs – inklusive Restaurant, Rezeption und Reservierung, Housekeeping und Marketing. Parallel dazu absolvierte sie das sechsmonatige Junior Leadership Programm des DEHOGA, um ihre Führungskompetenzen gezielt weiterzuentwickeln. Im Hotel verantwortet sie seither insbesondere die Digitalisierung sowie die strategische Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsmaßnahmen zusammen mit Ihrem Mann Fabian Wiesler. Ihr Fokus liegt auf der praxisnahen Umsetzung innovativer Konzepte, die den ökologischen Fußabdruck des Hotels reduzieren und gleichzeitig das Gästeerlebnis verbessern. Dabei verbindet sie moderne Technologien mit einem tiefen Verständnis für Gastlichkeit, Teamführung und Ressourcenschonung. Neben ihrer Tätigkeit im Hotel hält sie regelmäßig Vorträge und Webinare zu den Themen Digitalisierung und Nachhaltigkeit in der Hotellerie. Sie engagiert sich zudem als ehrenamtliche Prüferin bei der IHK sowie als stellvertretende Regionalvertretung Süd der HSMA (Hospitality Sales & Marketing Association) und dem HSMA-Expertenkreis für Sustainability. Für ihr Engagement wurde sie 2024 mit dem Deutschen Hotelnachwuchs-Preis ausgezeichnet.

Interview mit Anna Wiesler, Junior-Chefin im familiengeführten Seehotel Wiesler am Titisee

Was sind in Familienunternehmen Erfolgsfaktoren für die nächste Generation, und was bedeutet das konkret für das Seehotel Wiesler?

Ein zentraler Erfolgsfaktor ist Vertrauen – in die Kompetenzen der nächsten Generation und in die Bereitschaft der Vorgänger, Verantwortung abzugeben. Bei uns im Seehotel Wiesler war das Fundament immer das Miteinander. Für uns bedeutet Nachfolge nicht nur ein Wechsel im Organigramm, sondern ein gemeinsamer Kulturwandel, bei dem neue Impulse auf Bewährtes treffen.

Ebenso wichtig ist die Fähigkeit zur Innovation: Die Bereitschaft, Neues zu denken, mutig zu erproben und Prozesse radikal zu hinterfragen – ohne dabei die Wurzeln des Unternehmens zu kappen. Gerade in der Verbindung von Tradition und Innovationsgeist liegt eine große Stärke familiengeführter Betriebe. Nachhaltigkeit, Digitalisierung oder kreislauffähiges Bauen sind dafür bei uns keine Marketing-Schlagworte, sondern echte Entwicklungsthemen, die wir mit viel unternehmerischer Freiheit und Weitblick gestalten können. Entscheidungen werden nicht nur betriebswirtschaftlich, sondern auch mit Haltung getroffen.

Wann haben Sie mit Ihrem Mann Fabian Wiesler Teile der Geschäftsführung übernommen? Wie ist die Aufgabenverteilung zwischen Ihnen?

Wir sind 2020 offiziell in die Geschäftsführung eingestiegen – ein Zeitpunkt, an dem das Hotel schon stark durch meine Eltern geprägt war, aber auch neue Herausforderungen auf uns zukamen. Ich übernehme vor allem die Bereiche Digitalisierung, Strategie und Hotellerie (Rezeption, Reservierung, Housekeeping, Service). Fabian bringt sein Wissen aus Architektur, Technik und nachhaltigem Bauen ein – insbesondere beim Projekt der Inara Suites. Dabei ergänzen wir uns sehr gut: Ich denke oft vom Gast her - er denkt vom System her. Das schafft einen guten Spannungsbogen zwischen operativer Realität und langfristiger Vision.  

Welche Rolle spielt die gesamte Familie für das Hotel? Warum braucht Nachhaltigkeit auch einen Generationenmix?

Wir sind ein echter Familienbetrieb – und das ist nicht nur ein Label. Jeder bringt seine Stärken ein: meine Eltern ihre jahrzehntelange Erfahrung, mein Bruder seine Leidenschaft für Küche und Produktqualität, wir unsere Impulse für Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Kreislaufwirtschaft. Nachhaltigkeit braucht genau dieses Zusammenspiel. Es reicht nicht, eine Idee zu haben – man muss sie auch im Alltag verankern können. Der Mix aus Erfahrung, Innovationsgeist und einem gemeinsamen Wertefundament macht das möglich.

Verlief der Übergang reibungslos? Welche Herausforderungen mussten gemeistert werden?

Ein Generationswechsel verläuft nie komplett reibungslos – und das ist auch gut so. Es braucht Reibung, damit sich Ideen entwickeln und jeder seine ganz individuelle Rolle finden kann. Unsere größte Herausforderung war die Balance zwischen Veränderung und Respekt vor dem Bestehenden. Dazu kam, dass wir mit den Inara Suites ein Projekt gestemmt haben, das nicht nur architektonisch, sondern auch konzeptionell Neuland für uns war. Entscheidungen in einem nachhaltigen Bauprozess sind selten schwarz-weiß – sie fordern Zeit, Mut und Kommunikation auf Augenhöhe mit allen Beteiligten. Mein Vater hat uns jedoch Raum gegeben, um uns einzubringen und zu entwickeln und um eigene Erfahrungen zu machen.

Wie hat sich die Unternehmenskultur im Hotel durch die junge Geschäftsführung geändert? Welche Rolle spielt das Thema Nachhaltigkeit?

Die Grundhaltung im Seehotel Wiesler war schon immer geprägt von Herzlichkeit, Qualität und gegenseitigem Respekt – das verdanken wir ganz wesentlich meinem Vater, der nicht nur visionär geführt, sondern auch über viele Jahre hinweg sehr viele nachhaltige Maßnahmen umgesetzt hat. Er hat allerdings nie viel Marketing dazu gemacht. Nachhaltigkeit wurde bei uns einfach gemacht, nicht verkauft. Mit der jungen Generation hat sich daran im Kern nichts geändert. Aber wir haben eine neue Offenheit etabliert – für digitale Prozesse, neue Denkweisen und eine andere Art der Kommunikation. Nachhaltigkeit ist in der Branche heute kein Zusatz mehr, sondern durchdringt alle Bereiche auch in unserem Hotel – vom Neubau über die Reinigung bis hin zur Art, wie wir mit unseren Gästen und Mitarbeitenden sprechen. Dabei bleiben wir bewusst zurückhaltend: Wir wollen nicht übertreiben oder belehren, sondern faktenbasiert zeigen, was wir tun – auf eine einfache, ehrliche und zugängliche Weise. Denn echte Wirkung entsteht nicht durch Siegel, sondern durch tägliches Handeln.

In Ihrem Buchbeitrag zum Thema Kreislaufwirtschaft und Nachhaltigkeit in der Hotellerie erwähnen Sie den Begriff "Bauchgefühl" als Grundlage einer Vision, die inzwischen Wirklichkeit geworden ist - Stichwort "Inara Suites". Hilft Ihnen das Bauchgefühl, vor wichtigen Entscheidungen innezuhalten und die Fakten noch einmal aus anderen Blickwinkeln zu betrachten?

Absolut. Bauchgefühl ist bei uns kein Gegensatz zur Rationalität – im Gegenteil. Es ist die Intuition, die entsteht, wenn man sich mit einem Thema tief auseinandergesetzt hat. Mein Vater hat schon vor Jahrzehnten auf „gefühlt gute“ Materialien gesetzt – lange bevor es Schadstofflisten gab und hat so intuitiv eine sehr gute Wahl getroffen. Heute versuchen wir, dieses Bauchgefühl mit wissenschaftlichen Tools wie Materialpässen oder Rückbaukonzepten zu verbinden. Die Inara Suites sind dafür ein gutes Beispiel: Hier wurde eine Vision mit viel Fachwissen, aber auch mit Herzblut und Konsequenz Realität.

Mitfühlen und Wohlfühlen werden immer wichtiger. Wie wird dies im Seehotel Wiesler gelebt?

Wohlfühlen entsteht bei uns nicht nur durch Wellness und gutes Essen – es ist tief mit der Natur und dem Ort verwoben. Der Schwarzwald beginnt direkt vor der Tür, und wer bei uns ist, soll genau das spüren: den Duft von Holz, das Rauschen des Sees, den Rhythmus der Umgebung. In den Inara Suites zeigt sich das besonders intensiv – da trifft architektonische Klarheit auf natürliche Materialien, auf Räume, die atmen dürfen.

Mitfühlen bedeutet für uns, aufmerksam zu sein – für die Bedürfnisse unserer Gäste, aber auch für die Wirkung unseres eigenen Handelns. Wir verzichten bewusst auf Effekthascherei und setzen stattdessen auf Echtheit: echtes Holz, echte Materialien, echtes Engagement. Wellness und Nachhaltigkeit stehen bei uns nicht nebeneinander, sondern greifen ineinander. Wer sich bei uns wohlfühlt, darf sicher sein, dass dabei auch die Umwelt nicht auf der Strecke bleibt.

Vielen Dank für das Gespräch.

Weiterführende Informationen:

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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