Nachhaltigkeit und Bauchgefühl im Spitzensport
Der organisierte Sport und insbesondere der Profisport bilden ein öffentliches und mediales Massenphänomen, das vielen Menschen eine Betätigungs-, Diskussions- und Emotionsplattform bietet. Die fortgeschrittene Kommerzialisierung des Sports bringt jedoch eine Vielzahl von Begleiterscheinungen mit sich, die diese gesellschaftliche Vorbildwirkung beeinträchtigen und gefährden. Eine verantwortliche Verbandsführung und das Konzept der Nachhaltigkeit sind untrennbar miteinander verbunden, denn es geht um die Zukunftssicherung aller Einheiten, die dieses System prägen.
Leider verbinden Sportverbände mit dem Thema Nachhaltigkeit häufig nur gesellschaftliches Engagement oder Ökologie.
Diese Fokussierung verkürzt jedoch das Verständnis von Nachhaltigkeit im Sport. Um ganzheitliche Lösungen für die gegenwärtigen Herausforderungen zu finden, muss sich auch die Kommunikation über Nachhaltigkeit ändern. Zahlen und Fakten werden sind für die Nachhaltigkeitsberichterstattung zwar unabdingbar, doch wer sich nur daran orientiert, setzt seinem Denken enge Grenzen – auf der Strecke bleiben Urteilsvermögen, Emotionen und Leidenschaft. Es ist eine enorme Herausforderung, Themen wie Bauchgefühl und Nachhaltigkeit so zu vermitteln, dass sie zu Herzen gehen. Werner Schuster ist das in seinem Buch “ABHEBEN. Von der Kunst, ein Team zu beflügeln“ gelungen. Er mochte es nie, sich nur hinter Zahlen zu verstecken und die Sportler in Qualifikationen aufeinander loszulassen. Die Einbeziehung von „weichen“ Faktoren gehörte für ihn immer zum Entscheidungsprozess dazu. Bei den Analysen und Berichten von Trainern aus der ehemaligen DDR fielen ihm „die enorme Fachkompetenz und das Hantieren mit Zahlen und Daten auf. Akribisch genau werden Trainingsdokumentationsdaten vorgelegt und aufgearbeitet, in weiterer Folge Zuordnungen vorgenommen und Schlüsse daraus gezogen.“ Das war für ihn kein unüblicher Vorgang, „aber in dieser Wucht im Skispringen doch neu.“
In der Trainerkultur, in der er aufgewachsen war, ging es in seiner Sportart auch stark um Gefühl und Intuition.
Ein Beispiel: Wenn ein Sportler in der gesamten Saison stets bessere Ergebnisse als sein Konkurrent geliefert hat, steht die Frage der Nominierung an. Aber was tun bei nahezu gleich guten (oder auch schlechteren) Platzierungen? Der Trainer kann dann weitere Informationen sammeln (Alter des Athleten, bisherige Wettkampfergebnisse unter großem Druck, charakterliche Eignung für die Mannschaft etc.). Führt dies allerdings zu keinem klaren Bild, „geht es oftmals um das reine Bauchgefühl. Die Intuition. Für viele eher kopflastige Männer ein unheimlicher Part des eigenen Wesens.“ Dabei ist sie so etwas zu sein wie ein innerer Kompass, den viele allerdings nicht recht zu bedienen wissen, der aber häufig verlässlicher ist als all die Anstrengungen, die wir mithilfe von Faktensammlungen, Informationen, Gesprächen oder logischen Argumenten unternehmen, um am Ende eine gute Entscheidung treffen zu können.
Alles, was wir an Wissen und Erfahrungen sammeln, ergibt so etwas wie eine innere Landkarte. Die „Eindrücke“ hinterlassen sogenannte somatische Marker (das arbeitete der Neurowissenschaftler und Philosoph Antonio Damasio bereits Ende der 1990er-Jahre heraus). Diese Marker sind so etwas wie „konzentrierte Erfahrung“. Sie beeinflusst die Art und Weise, wie wir denken, was wir tun und welche Überzeugungen wir vertreten. Allerdings steht sie unserem Bewusstsein nicht immer zur Verfügung, sondern drückt sich in Gefühlen beziehungsweise Emotionen und körperlichen Signalen wie Bauchkribbeln, Frösteln, Ohrensausen oder Atemnot aus. Diese körperlichen Signale werden in Entscheidungsmomenten auch unter dem Begriff „Bauchgefühl“ zusammengefasst. Der französische Denker Henri Bergson entwickelte in seinem Werk „Schöpferische Entwicklung“ (1907) - lange vor den maßgeblichen Erkenntnissen der Neurowissenschaften - eine Philosophie des „Lebens“, in der er das Zusammenspiel von Intellekt und Intuition um den menschlichen Instinkt erweitert.
Der Instinkt ist die Instanz, die das Material unserer Erfahrungen, unserer Erlebnisse und der Art und Weise, wie wir diese wahrnehmen, bestimmt.
Auch Werner Schuster geht es weniger darum, den Kopf auszuschalten, um den Bauch hören zu können, sondern darum, mit beiden in gutem Kontakt zu stehen und sie beständig mit Material zu versorgen: Gute Entscheidungen brauchen immer „eine stimmige Mischung aus Kopf und Bauch, aus Fakten und Gespür“. Reine Kopfmenschen benötigen selten analytische Tools oder Unterstützung bei der Strukturierung – „da geht es um einen Zugang zur Intuition. Und umgekehrt benötigt der Gefühlsmensch selten mehr davon.“ Ihn helfen Struktur, Analyse, Zahlen, Daten und Fakten. Da die meisten von uns im Alltag häufiger mit Kopfmenschen zu tun haben, verweist er auf ein bewährtes Werkzeug aus seiner Praxis: den Entscheidungswürfel. Auf seinen sechs Seiten gibt es die Antworten „Ja“, „Nein“, „Sofort“, „Später“, „Vielleicht“ und „Besser nicht“. Er kann bei vermeintlichen 50 : 50-Entscheidungen eingesetzt werden, wenn sich der Gesprächspartner nicht entscheiden kann. Er soll dann eine klare Frage stellen und diese mit dem Würfel beantworten. Auch wenn der Würfel die Entscheidung nicht wirklich abnehmen kann, so geht es hier doch „um die spontane Reaktion des Bauches auf eine vermeintliche Entscheidung. Damit wird neben der Ratio auch das Bauchgefühl in den Entscheidungsprozess eingebunden.“
Untermauert werden die Aussagen von Werner Schuster durch die Kommentare von Dr. Oskar Handow, der neben seiner Tätigkeit als Sportpsychologe in den Bereichen Personalauswahl und -entwicklung als Coach und Berater für internationale Konzerne arbeitet. Er verweist darauf, dass Entscheidungen bei eindeutiger Faktenlage leicht sind, aber dann schwer und belastend werden, wenn (Zeit-)Druck, eine unzureichende Menge an Informationen und größere Auswirkungen, speziell auf andere, eine Rolle spielen.
In Unternehmen und im Sport müssen häufig schwierige Entscheidungen getroffen werden. Das führt auch zu Fehlern.
„Die weniger erfolgreichen Trainer machen den einen oder anderen Fehler immer wieder. Die guten lernen aus ihren Fehlern und entwickeln sich weiter.“ So war es auch bei Werner Schuster. Instinktiv spürte er, wann es Zeit war, seine Karriere als aktiver Skispringer zu beenden und sich vermehrt auf die Ausbildung zu konzentrieren. Nach einem Jahr als Cheftrainer der Schweizer Skispringer übernahm er 2008 die zu dem Zeitpunkt wenig erfolgreiche deutsche Herrennationalmannschaft der Skispringer. In seinen zwölf Jahren als Bundestrainer führte er die deutschen Skispringer zurück an die Spitze mit 37 Weltcupsiegen von 5 verschiedenen Athleten, 5 Olympiamedaillen, davon 2 in Gold, und 14 WM-Medaillen, davon 4 in Gold.
Als er 2008 ein entwicklungsbedürftiges Team und ein ebensolches System übernahm, war er davon überzeugt, dass nur dies ein sinnvoller Umgang mit der übernommenen Verantwortung ist. Wichtig war ihm von Beginn an auch die Gedanken, Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche aller Beteiligten anzuhören, zu respektieren und zu berücksichtigen. Schon als Jugendtrainer hatte er sich geschworen, einen Athleten niemals zu verheizen: „Lieber ein Jahr länger warten, als zu früh in die Extreme zu gehen und sich hinterher Vorwürfe machen zu müssen. Trainer haben auch eine pädagogische Verantwortung.“ Die Prozesse im Sport verlaufen oft wellenförmig: „Eine Generation von Sportlern erklimmt die Spitze. Der Verband und die handelnden Personen sonnen sich im Lichte des Erfolges und vernachlässigen die Ausbildung der Nachfolgegeneration. Es liegt in der Verantwortung der handelnden Personen, das Rad in Schwung zu halten, keine Lücke entstehen zu lassen und schon während des aktuellen Erfolges den Grundstein für die kommende Generation der Leistungsträger zu legen.“
Sein Verständnis von Nachhaltigkeit bringt Schuster, der während und nach seiner eigenen Karriere als Skispringer an der Universität Innsbruck Sportwissenschaften und Psychologie studierte, auf den Punkt: „Auch im Sport ist es oftmals möglich, kurzfristig mit einem Team Erfolg zu haben. Das geht aber nicht selten zulasten der Substanz. Aktuell erfolgreich zu sein und parallel dazu junge Athleten und ein ganzes System weiterzuentwickeln, damit dieses auch in Zukunft erfolgreich sein kann, ist die viel größere Herausforderung.“
Der Begriff Nachhaltigkeit stammt ursprünglich aus der Forstwirtschaft und wurde 1713 von Oberberghauptmann Hannß Carl von Carlowitz im sächsischen Freiberg erstmals verwendet.
Er beinhaltet die Maxime, dass nur so viel Holz pro Periode geschlagen werden darf, wie auch nachwachsen wird. Wer einen Wald bewirtschaftet, darf zwar Bäume fällen und verkaufen, muss aber auch wieder neue anpflanzen für die nächsten Generationen. Darauf verweist auch Oskar Handow in einem Exkurs, der hier noch ergänzt sei: Diese Idee der Nachhaltigkeit wurde 1987 im so genannten Brundtland-Bericht durch die UN World Commission on Environment and Development unter der Leitung der damaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland weiterentwickelt: Nachhaltig, schrieb sie, sei eine Lebensweise, die „den Bedürfnissen heutiger Generationen entspricht, ohne die Chancen zukünftiger Generationen zu gefährden.“
So entstand das neue Leitbild einer langfristig tragfähigen, nachhaltigen Entwicklung, welche es ermöglichen soll, „heutige Bedürfnisse decken, ohne für künftige Generationen die Möglichkeit zu schmälern, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.“ Seit der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro im Jahr 1992 beschäftigen sich Regierungen, Unternehmen, Kommunen und Konsumenten mit der „Vision“ der Nachhaltigkeit, die neben der ökologischen auch eine ethisch-soziale und ökonomische Dimension enthält: Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft sollen auf eine Weise miteinander verbunden werden, dass es auch unseren Nachkommen möglich ist, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.
An dieser Stelle nimmt Handow den Faden wieder auf und schreibt: „Jedes Unternehmen möchte nachhaltig agieren. Und doch werden in vielen Fällen kurzfristige Erfolge zulasten künftiger Generationen gesucht, Ressourcen nicht verantwortungsvoll genutzt.“ Die Inhalte des Buches, die weit über den Sportkontext hinausreichen, laden dazu ein, einzelne Aspekte neu in Beziehung zu setzen bzw. Gemeinsamkeiten zu entdecken. Wer beispielsweise die Drucksachen von nachhaltig wirtschaftenden Unternehmen genau liest, wird zuweilen auch Bezüge zum Buch finden. So schreibt Lothar Hartmann, Leiter Nachhaltigkeits- und Qualitätsmanagement zum Thema Nachhaltigkeit und Bauchgefühl: „Als Unternehmen wollen wir nicht nur wirtschaftlich erfolgreich sein, sondern übernehmen mit Herz und Verstand auch gesellschaftliche Verantwortung.“ (Quelle: memo Katalog für Gewerbekunden, 2021) Je vielschichtiger sich die Realität auch in der Wirtschaft gestaltet, umso schwieriger lässt sie sich allein mit dem Verstand greifen. Dass vor allem an den Prinzipien der Nachhaltigkeit ausgerichtete Unternehmen die Symbolik des Herzens in ihrer Kommunikation nutzen, ist vor allem das Ergebnis ihrer Unternehmenskultur, die auf ganzheitlichen Strukturen, Abläufen und Entscheidungsprozessen basiert und durch Respekt, Fairness, Transparenz und Verbindlichkeit geprägt ist. Hier schließt sich der Kreis zu Werner Schusters Kunst, ein Team zu beflügeln.
Weiterführende Literatur:
Werner Schuster: ABHEBEN. Von der Kunst, ein Team zu beflügeln. Ecowin Verlag. Münchenm Salzburg 2021.
CSR und Sportmanagement. Jenseits von Sieg und Niederlage: Sport als gesellschaftliche Aufgabe verstehen und umsetzen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. 2. Auflage, SpringerGabler Verlag. Heidelberg, Berlin 2019.