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Neubeginn – der Versuch eines ganz anderen Trialogs

Was hier folgt ist der Versuch eines andersartigen Trialogs, des „Gesprächs“ zwischen Betroffenem:er, Berater:in und Mentor:in.

Ein Test mit der Frage an dich, ob es lohnt, damit weiterzumachen. Ich bin gespannt auf dein Feedback!

Los geht’s:

Ich liebe meinen Job. Dachte ich jedenfalls noch, als ich hier angefangen habe.

Tag 1 - Wie alles begann

Liebes Tagebuch, du weißt, ich bin im Grunde genommen schreibfaul. Ich mag es eigentlich nicht, irgendjemanden damit vollzuquatschen, wie ich mich selbst fühle, wie viel es mir eben doch ausmacht, mich zu verbiegen und selbst zu betrügen. Darum hab ich ja auch dich in mein Leben geholt. Du kannst mir zwar nicht antworten, aber dafür kann ich dir Dinge sagen, die ich sonst niemandem in meinem Umfeld anvertrauen kann, einfach weil es trotz Stromberg und allem, was man so über die Arbeit in größeren Unternehmen weiß, einfach zu verrückt und abstrus klingt.

Dabei hat alles mal so schön angefangen … ich erzähl dir mal, wie das war, einfach auch, um selbst noch mal zu reflektieren, wie das alles so gelaufen ist.

Eigentlich hätte ich schon merken können, dass hier etwas komisch ist, als ich noch ganz am Anfang meiner Bewerbung stand.

Ich hatte begonnen, mich für einen neuen Job zu interessieren, etwas mit mehr Verantwortung, mehr Einflussmöglichkeit, mehr Gehalt. Also hatte ich ein paar Suchmaschinen aktiviert und mein Profil in den üblichen Online-Netzwerken aktualisiert, was man halt so macht. Und so bin ich auf diese total geniale Stellenanzeige gestoßen. Ein kleiner Konzern mit 8.000 Mitarbeitern und einer wirklich coolen Website suchte jemanden, auf den ich wie die Faust aufs Auge zu passen schien. Ich also sofort mein Laptop aufgeklappt und alle Daten zusammengesucht, die ich für die Online-Bewerbung brauchte. Allerdings – ich hätte es echt schon damals erkennen können – schon die Online-Bewerbung lief einfach sch… .

Ich hatte ja extra meine Online-Profile optimiert, um wirklich etwas finden zu können, was besser zu mir passte. Also wäre es supereinfach gewesen, die Daten da rauszunehmen und in das Webformular zu übernehmen. Aber nein. Ich musste da jedes bisschen, jedes Datum, jedes Detail, jede Referenz neu eintippen. Und dann, kurz vor Ende, kam die Meldung, dass die Daten derzeit wegen eines Serverfehlers nicht gespeichert werden könnten. Au Mann! Ich habs dann am nächsten Tag noch mal gemacht. Immerhin hat’s dann geklappt.

Aber das war ja noch nicht mal alles. Ich meine, dass ein Computer mal nicht will, kann ja mal passieren. Ich bekam dann ja immerhin auch eine automatisierte Eingangsbestätigung von „Ihre_Karriere_keine_Antwort@BullshitBingoWorkplace.online“, aber dann kam auch nichts mehr. So nach acht Wochen, glaube ich, kam, als ich mitten in einem Meeting saß, ein Anruf von einer Dame aus dem Personalbereich von BullshitBingoWorkplace, die mit mir reden wollte. Einfach so, out of the blue. Ich dachte mir noch: „Hey, geht’s noch?“, aber ich wollte der Chance natürlich nicht im Weg stehen. Also hab ich’s möglich gemacht, dass ich am Nachmittag ’ne gute halbe Stunde Ruhe und Zeit hatte, ohne dass die Kollegen dumme Fragen stellen konnten.

Dann ging plötzlich alles relativ schnell. Eine Woche später hatte ich ein erstes Gespräch mit dem Hauptabteilungsleiter und jemandem aus der Personalabteilung, dann noch mal drei Wochen später mit jemandem wegen einiger Vertragsdetails. Und gut drei Monate drauf sollte ich schon anfangen.

Was dann kam …, das schreib ich dir beim nächsten Mal.

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Die externe Perspektive: Was der Berater darüber denkt: Solche Stories habt ihr vielleicht schon selbst erlebt, oder zumindest davon gehört, oder? Auch wenn ihr euch schon lange nicht mehr beworben habt, etwa weil euch das Unternehmen (so gut wie) gehört oder weil ihr eine gute, stabile Position im Unternehmen bekleidet, dann kann es euch passieren, dass ihr, wenn ihr aus Neugierde „euren“ eigenen Bewerbungsprozess mal selbst zu durchlaufen versucht, Ähnliches erlebt. Denn es gibt solche Probleme leider noch viel zu häufig.

Natürlich ist es nicht einfach, im Gesamtblick auf die vielen Systeme in einem Unternehmen auch das Recruitingsystem sowohl kompatibel als auch up to date zu halten. Natürlich ist es eine Herausforderung, die Schnittstellen zu allen möglichen Online-Portalen zu integrieren, um die Daten direkt zu übernehmen. Natürlich ist es utopisch, alles perfekt zu machen. Aber ebenso natürlich wandelt sich der Arbeitsmarkt derzeit in einem zuvor noch nicht da gewesenen Tempo. Nie war Fortschritt so schnell wie heute.

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Tag 4 – Die Tage vor und nach dem Start in den Job

Hallo, liebes Tagebuch, ich hatte vor ein paar Tagen versprochen, dir zu erzählen, wie es weiterging, nachdem mein Arbeitsvertrag unterschrieben war.

Ungefähr zwei Wochen vor meinem Starttermin bekam ich Post. Wieder von der Personalabteilung. Wie sie schrieben, war die Abteilung, in der ich arbeiten sollte, gerade in einer Restrukturierung, was für mich bedeute, dass meine Aufgaben zunächst etwas andere sein sollten. Auch sollte mein Arbeitsplatz jetzt am anderen Ende der Stadt sein. Die boten mir an, den Vertrag aufzuheben, aber hey, was sollte ich tun. Meinen alten Arbeitsvertrag hatte ich doch längst gekündigt, und dahin zurück wollte ich auch nicht. Also, Augen zu und durch.

Ein paar Tage, bevor es dann richtig losgehen sollte, kam mit einem zweiten Schreiben (ja, echt, per Snail-Mail) noch die Info, wann und wo ich mich einfinden sollte. Ich sollte mich am nächsten Ersten um neun Uhr am Empfang melden und nach meinem neuen Chef fragen. Er würde mich dann da abholen und alles Weitere mit mir klären.

Was soll ich sagen: Ich war pünktlich um neun da. Nur wusste leider niemand, wo mein Chef zu finden sein könnte. Da die Abteilung gerade erst neu zusammengestellt und umgezogen war, hatten die Kollegen am Empfang noch keine neue Telefonnummer und auch keine Raumnummer. So blieb nur zu hoffen, dass er selbst irgendwann auf die Idee käme, am Empfang nach mir zu suchen.

Ne gute halbe Stunde später tauchte er tatsächlich auf. Er hatte wohl kurzfristig einen dringenden Termin mit seinem Chef gehabt und mich einfach vergessen. Aber im Grunde war auch das ganz egal, denn durch das ganze Restrukturierungschaos gab weder einen Arbeitsplatz für mich noch einen Computer, noch irgendwas, mit dem ich mich einarbeiten konnte. Auch meine neuen Kollegen waren mehr mit sich und ihrer neuen Situation beschäftigt, als dass sie Zeit gehabt hätten, sich auch noch mit mir auseinanderzusetzen.

Was ich erst später erfuhr: Mit der Umstrukturierung war die Abteilung zu einem Experimentierfeld für neues Arbeiten im Unternehmen geworden. Alles natürlich unter der Beobachtung der Personalabteilung und der Kontrolle unseres Chef-Chefs, und der hatte wohl schon große Erwartungen an uns geäußert. Ein Problem, mit dem sich das Unternehmen in den vergangenen Monaten immer stärker auseinanderzusetzen gehabt hatte, war, dass die Wettbewerber immer wieder neue Produkte herausbrachten, die Kunden begannen abzuwandern und unser Unternehmen keine Ansatzpunkte und Konzepte hatte, mit der Situation umzugehen. Irgendjemand hatte unserer Geschäftsführung dann den Floh ins Ohr gesetzt, dass wir ein anderes Arbeitsumfeld bräuchten, um flexibler zu arbeiten und überhaupt müssten wir „digitaler“ sein.

Kurz: Alles, wirklich alles, war ganz anders. Für alle. Aber davor erzähle ich dir beim nächsten mal.

Tag 6 – Alles neu, alles anders, und die Zeit verschwimmt

Das Schöne an meiner neuen Aufgabe war, dass ich durch meine Erfahrungen als dem alten Job ein, wie wir es nannten „Topic Leader“ wurde. Ich hatte ganz einfach die meiste Ahnung von dem, worum es jetzt hier ging. Damit verbunden war zwar nicht mehr Geld, aber immerhin mehr Verantwortung. Ich konnte auch den anderen im Team immer wieder etwas von meinen Kenntnissen mitgeben, was alle total cool fanden. Dennoch lief nicht alles wirklich rund. Mein Job war es unter anderem, die Dinge, die bei uns passierten, immer wieder aus meiner „noch frischen“ Sicht in einem Blog im Intranet zu beschreiben.

Nebenbei hatte ich eine immer prominentere Stellung im Team. Ich wurde zum „Informal Lead“ in unserer Abteilung. Wie mein Chef meinte, eine super Vorbereitung auf eine Führungsposition im Unternehmen.

Aber so richtig wohl fühlte ich mich mit all dem nicht. Es war, als wäre ich, mit allem, was ich kann, mit meinem Schiff im Packeis gefangen und könnte mich nicht mehr bewegen. Ich wünschte, ich hätte einen wirklich erfahrenen Mentor, der mir hilft, dieses Eis irgendwie zu überwinden und mich und meine Kollegen zurück in Sicherheit zu bringen.

Die Mentorenperspektive

Shack: Hello, may I interrupt? Wahrscheinlich kennen Sie mich nicht. Woher auch, ich bin ja für die meisten schon längst tot. Mein Name ist Shack, so nannte mich meine Mannschaft, mit der ich mich sehr verbunden fühle, gern. Ich war Polarforscher und bin nach menschlichen Maßstäben schon vor langer Zeit gestorben. Aber dennoch lassen mich zwei Themen nicht in Ruhe: Menschen und Führung!

Deshalb bin ich heute so etwas wie ein „Mental Mentor“. Ich tauche in den Köpfen von Menschen auf, die sich jemanden wünschen, der ihnen hilft, in dieser von guter Führung so sehr befreiten Welt klarzukommen. Ich habe selbst so viel schlechte Führung erfahren und gute Führung (vor)gelebt, dass ich nicht anders kann, als meine Erlebnisse zu teilen, um auch dir hier neue Wege aufzuzeigen. Wege, die ich selbst vor 100 Jahren bereits gegangen bin. Nun kannst du – ich hoffe, du verzeihst mir die Unverfrorenheit mit dem du – sagen, dass das heute so nicht mehr passt. Das einzuordnen überlasse ich dir selbst. Aber vielleicht hörst du mir an einigen Stellen einfach zu.

Doch verzeih mir, ich kann nicht schreiben wie du. Aber ich kann dir meine Gedanken mitteilen. Höre mir einfach zu und schreibe, was dich bewegt.

Das Traurige. Obwohl oder gerade weil ich so schnell in meine neue Aufgabe starten wollte und sollte, ging ein sinnvolles Onboarding, ein Ankommen im Unternehmen, ein Kennenlernen der Zusammenhänge und Vernetzen mit den Kollegen, fast vollständig unter.

Alle waren nur darauf fokussiert, das Wichtigste irgendwie hinzubekommen. Nach einem Monat kannte ich nur die zehn Kollegen, mit denen ich regelmäßig zu tun hatte. Andere hatte ich in den zahlreichen Meetings zwar mal gesehen und vielleicht ein paar Worte mit ihnen gesprochen, bis ich wirklich weiß, welche Themen sie bearbeiteten und welche Aufgabe sie haben, wird es aber sicher noch dauern. So im Nachhinein betrachtet, konnte ich froh sein, dass mein Rechner immerhin schon nach drei Tagen bereit war und mein Unternehmensausweis nach einer Woche in einem Umschlag auf meinem Schreibtisch lag. Jetzt musste ich wenigstens nicht immer wie ein Strafgefangener am Empfang abholt werden.

Andere haben da ganz andere Martyrien durchstehen müssen.

Was dabei natürlich auch auf der Strecke bleibt, ist, die anderen besser kennenzulernen. So etwas wie regelmäßige Treffen, außer vielleicht dem Jour fixe jede Woche, in dem auch auch immer nur unser Chef etwas ausspeichert, gib es ohnehin nicht. Selbst Kaffeepausen macht jeder für sich, nur selten tun sich einige zusammen und gehen gemeinsam Mittagessen. Da kommt keiner auf die Idee, mal zu fragen, ob man mitgehen will. Und nach drei freundlichen, aber bestimmten Absagen hatte ich auch keine Lust mehr. Der Zusammenhalt ist echt grottig, dass heißt, so stimmt das eigentlich nicht. Nur gibt es Cliquen, die wie Pech und Schwefel zusammenhalten, und da kommt man ohne höhere Weihen nicht rein. In den letzen Wochen Zeit hab ich bestimmt drei Kilo zugenommen, weil ich den Frust auch einfach in mich reingefressen hab.

Allerdings gibt es das Silodenken nicht nur zwischen Abteilungen, bei uns geht das bis runter in die Teams und macht noch nicht einmal da halt. So richtig angekommen, sodass ich auch nur einen Hauch Optimismus ausstrahlten könnte, bin ich jedenfalls noch nicht, und ich weiß nicht, ob mir das noch gelingt.

Shack: Darf ich meine Erfahrungen mit diesem fundamental wichtigen und doch so kleinen und unterschätzen Thema „Onboarding“ mit dir teilen?

Was es bedeutet, schlecht vorbereitet und ausgerüstet in eine Aufgabe zu starten, hatte ich in meiner Jugend, auf den Schiffen, auf denen ich unterwegs war, schon zu oft erlebt. So ärgerte ich mich furchtbar, als wir, da war ich vielleicht 16, unser Schiff mit Muskelkraft entladen mussten, obwohl es technische Hilfsmittel gegeben hätte. Eine andere Erfahrung waren die Expeditionen mit Scott und meine eigene auf der „Nimrod“, bei der ich die Vorbereitungen zu hastig abschließen musste und vieles liegen blieb.

Welchen Unterschied es ausmacht, Onboarding bewusst und offenbar gut durchzuführen, habe ich bei meiner „Endurance“-Expedition festgestellt. Wahrscheinlich hat dies am Ende auch den meisten meiner Männer das Leben gerettet. Was war geschehen: Bei Beginn der Expedition waren noch nicht alle Ausrüstungsgegenstände in England eingetroffen, und ich hatte mich entschlossen, zusammen mit Frank Wild auf die Sachen zu warten, um dann ein schnelleres Schiff nach Buenos Aires zu nehmen, wo die „Endurance“ auf uns warten sollte. Währenddessen fuhr die „Endurance“ mit den meisten Männern in Richtung Südamerika. An Bord herrschte das damals, im England des frühen 20. Jahrhunderts, übliche Klassendenken und damit auch ein Klassenkampf. Es gab, was ihr heute Silos nennen würdet. Die Schiffsoffiziere hielten sich für etwas Besseres als die Mannschaft, die Wissenschaftler wurden von allen als zu weiche, in praktischen Dingen unfähige Theoretiker betrachtet, und die Mannschaft hielt sich für die einzige Gruppe, die wirklich imstande war, das Schiff an sein Ziel zu bringen, und selbst in dieser Gruppe gab es noch Gruppenbildung und Abgrenzung. Diese Truppe war ganz und gar nicht das, was ich für das Unternehmen im Auge gehabt hatte.

Zusammenhalt oder so etwas wie Kameradschaft gab es faktisch nicht.

Als ich in Buenos Aires ankam, suchte ich mir zunächst ein Hotelzimmer, um die Situation aus der Distanz beobachten und analysieren zu können. Nachdem ich das so entstandene Sozialsystem besser verstanden hatte, begann ich, meine Konsequenzen daraus zu ziehen. Zunächst entließ ich den Koch, da dessen Leistungen ganz und gar nicht meinen Erwartungen und den Anforderungen, die wir in die Antarktis an gutes Essen haben würden, entsprach. Dann schaffte ich wieder mehr Raum für die, in meinem Augen, damals notwendige Disziplin, indem ich insgesamt drei Matrosen entließ, zwei davon, weil sie eine Woche lang auf Landgang verschwunden waren, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.

Nachdem wir die Mannschaft danach, soweit möglich, wieder aufgefüllt hatten, ging es für alle zusammen auf dem Schiff weiter Richtung Südgeorgien, wo wir zum letzten Mal Halt machen wollten, bevor es ins Eis ging. Auf dieser Fahrt versuchte ich dann, meine Erfahrungen zu nutzen, um den Zusammenhalt in der Gruppe zu verbessern. Während der „Nimrod“-Expedition, sieben Jahre zuvor, hatte ich erlebt, wie viel schwieriger die Zusammenarbeit ist, wenn Konflikte auftreten, die nicht gelöst werden.

Darum versuchte ich mich jetzt an einer anderen Strategie. Zunächst schaffte ich die meisten Privilegien ab und ging bei allem mit gutem Beispiel voran. Dann brachte ich die Männer dazu, sich nicht nur auf die jeweiligen eigenen Aufgaben zu konzentrieren, sondern sich auch miteinander auszutauschen und zusammenzuarbeiten. So musste jeder Aufgaben von anderen mit übernehmen, und alle mussten sich wechselseitig gegenseitig unterstützen. Das brachte die Männer nicht nur dazu, miteinander zu reden, es sorgte auch dafür, dass sie voneinander lernten. So waren die Wissenschaftler später in der Lage, das Schiff zu steuern und die Segel zu setzen. Die Böden mussten ohnehin alle gemeinschaftlich schrubben. Das gehörte zu den Routinen und Ritualen, die ich schon hier einführte. Sie schafften regelmäßig Raum zum Austausch, der, gerade mit Blick auf das, was uns noch geschehen sollte, enorm hilfreich war. Natürlich habe ich mich bei all dem nicht ausgenommen. Wie wichtig mein Beispiel bei all dem war, war mir glücklicherweise durchaus bewusst. Ein Teil davon war, immer auch für Spaß und Ablenkung zu sorgen. Ein paar der Männer sagten nach der Rückkehr, ich sei selbst der Ausgangspunkt für die meisten der Späße gewesen. Arbeit und Vergnügen sollten sich immer in einem ausgeglichenen Verhältnis zueinander bewegen. Auch das hatte ich während der „Nimrod“-Expedition am eigenen Leib erlebt.

Ein klar demonstrierter und immer wieder durch transparente Kommunikation begründeter Optimismus war mein Gegenmittel gegen Kälte, Hunger und vor allem Frustration. Dazu hatte ich für alle, für Ihre Gefühle und Probleme, stets ein offenes Ohr, um selbst auch Unstimmigkeiten frühzeitig mitzubekommen.

Die Truppe, die schließlich in der Antarktis ankam, bestand in erster Linie aus Kameraden und erst in zweiter aus Vorgesetzten und Mitarbeitern. Ursache dafür war wohl auch, dass sich zumeist alle mit gegenseitiger Wertschätzung und Respekt behandelten.

So habe ich vor 100 Jahren versucht, die Menschen zusammenzubringen. Schade, dass das bei dir wohl ganz anders lief.

Oh, wow. Ich muss sagen, jetzt bin ich sprachlos. Shack ist aufgetaucht – na ja, aufgetaucht stimmt wohl nicht. Er ist „nur“ in meinem Kopf, aber er ist nicht ich. Er hat eigene Erfahrungen und Ideen. Ich bin verwirrt und beeindruckt. Als er sich das erste Mal „gemeldet“ hat, dachte ich noch, es läge am Rotwein, aber jetzt, jetzt ist er auch ohne Wein da, und es lohnt, ihn machen zu lassen, glaube ich.

Ich dachte immer, ein Tagebuch sei, abgesehen von der Klarheit, die man gewinnt, wenn man sich die Dinge von der Seele schreibt, eine gedankliche Einbahnstraße. Dass ich dabei jemanden wie Shack finden würde, davon war ich nicht ausgegangen, das haut mich doch vom Stuhl. Und wie er, oder sollte ich sagen, wie du, schon vor 100 Jahren so mit anderen umgegangen ist, das glaubt mir heute hier, in meinem neuen Job, keiner. Heute funktioniert hier alles noch ziemlich streng nach dem Muster „Weisung und Kontrolle“, wohl ein wenig wie in der damaligen Kriegsmarine. Von den Vorgesetzten wird geplant und vorgemacht, und unten soll dann abgearbeitet werden. Dabei wird es auch für uns immer wichtiger, selbst die Dinge entscheiden zu können, um schnell genug weiterzumachen. Leider ist das bei uns im Unternehmen längst nicht so. Manchmal müssen wir wochenlang warten, bis jemand darüber entschieden hat, was wir in unseren Projekten tun dürfen und sollen. Wir sind in der Zeit zwar dann auch damit beschäftigt, die Entscheidung vorzubereiten, alle, die entscheiden sollen, zu informieren, damit sie wissen, worum es geht, manche zu überreden, für das eine oder gegen das andere zu entscheiden, aber wirklich voran bringt diesen Aufwand weder uns noch das Projekt. Wir wissen doch eigentlich, was wir tun möchten, um das Projekt seinem Ziel näherzubringen. Wenn wir selbst entscheiden könnten, wären wir in vielem so unglaublich viel schneller. Und sinnvolle neue Informationen bekommen wir durch die Entscheidungen ja auch nicht, denn das meiste bringen wir ja selbst auf Papier. Uns fehlt nicht das Wissen, uns fehlt nur die Befugnis! Klar gibt es immer noch ein paar übergeordnete strategische Themen, von denen wir nichts wissen, aber im Grunde könnte man uns die ja auch im Vorfeld schon mitgeben, dann könnten wir sie berücksichtigen.

Wie hast du, Shack, das damals gemacht? Hast du alles allein entschieden? Hast du auf deine Männer gehört und sie einbezogen?

Shack: Ich muss zugeben, ich habe tatsächlich das meiste, das ich für überlebenswichtig hielt, selbst entscheiden. Einfach weil ich in meiner Rolle als Expeditionsleiter das Gefühl hatte, den anderen diese Verantwortung nicht aufbürden zu wollen und zu können. Allerdings habe ich zuvor immer mit allen, die sich beteiligen wollten, die Optionen durchgesprochen. Ich habe mir angehört, was sie zu sagen hatten. Und in ihren Arbeitsbereichen habe ich ohnehin alle die Dinge selbst entscheiden lassen. Schließlich hatte ich sie ja auch wegen ihrer Fachkenntnisse zur Expedition dazugeholt. Wie ungeschickt wäre es da gewesen, wenn ich sie daran gehindert hätte, ihr Bestes für die Expedition zu tun, insbesondere in den kritischen Momenten unserer Reise.

Andererseits war ich das, was ihr heute wohl einen Micromanager nennen würdet. Ich war gern über alles, was geschah, im Detail informiert, eben um dann die richtige Entscheidung treffen zu können. Das lag wohl auch daran, dass ich sehr ungern von anderen abhängig war, und so richtig gut unterordnen konnte ich mich im Grunde auch nie. Es gab im Vorfeld der „Nimrod“-Expedition 1907 einen Disput mit einer Expedition, die Sir Robert Scott geplant hatte. Er wollte, wie ich, den Südpol erobern und erforschen, und da er zuvor ja bereits eine Expedition geleitet hatte, an der auch ich teilgenommen hatte, war er davon ausgegangen, dass ich mich aus Respekt vor dem ehemaligen Vorgesetzten zurückhalten und meine Planungen umwerfen würde. Es dauerte etwas, aber wir haben uns dann geeinigt, dass ich nur in die Gegend seiner geplanten Landung fahren würde, wenn sich dies nicht vermeiden ließe, wobei ich ohnehin von einem anderen Ort aus meine Expedition starten wollte. Am Ende waren unserer Ausgangspunkte dann doch fast benachbart, aber so laufen die Dinge hin und wieder nun mal. Pläne muss man schließlich immer auch überdenken und ändern können. Ich habe das auch bei meiner Expedition immer wieder tun müssen. Manchmal habe ich einen Plan fünfmal geändert, bis er zu den sich wandelnden Umständen passte. Hier war ich deutlich flexibler, als viele meiner großen Kollegen, die sich damit schwertaten, sich kurzfristig anzupassen.

Tag 21 - Mittendrin …

Oh Mann, was für ein Scheißtag! Entschuldige den Ausdruck. Lange her, dass ich so etwas erlebt habe, aber wahrscheinlich hab ich mich auch einfach nur daran gewöhnt, wie wir bei der Arbeit miteinander umgehen. Heute ist es mir aber so richtig klargeworden. Aber, lass mich etwas ausholen.

Ich bin heute Morgen zur Arbeit gekommen und dachte mir eigentlich nichts Böses. Der einzige wichtige Termin, den ich heute im Kalender hatte, war der bei meinem Chef. Ich sollte ihm den Monatsbericht vorstellen, in dem wir unsere Aufwände und unsere Erfolge zusammentragen. Ich hatte dazu eine Idee gehabt und ein paar Dinge ergänzt. Deswegen war ich sehr gespannt auf seine Reaktion. Tja, und die kam prompt.

Ich hatte eine neue Kennzahl hinzugefügt und die Ergebnisse des Teams in Relation zur Stimmung im Team aufgetragen. Dazu hatte ich extra in den vergangenen Wochen die anderen gefragt, ob sie mir abends immer eine Nachricht mit einem Emoji schicken könnten, dass ihre Laune nach der Arbeit darstellte. Das Ergebnis war ganz spannend. Die Stimmung ging immer runter, wenn wir Jour fixe hatten oder der Chef unmotiviert zwischen den Schreibtischen lang lief. Dafür ging stimmungs- und leistungsmäßig richtig was ab, wenn er ein paar Tage nicht da war. Insgesamt fühlten sich aber alle ein wenig besser, nur weil ich sie gefragt hatte, wie sie sich fühlten.

Die Ergebnisse hatte ich dann natürlich so weit angepasst und zusammengefasst, dass mein Chef die Ursachen für die Stimmungsschwankungen nicht mehr erkennen konnte. Aber selbst das war noch zu viel. Was dann kam, war heftig. Er ist vollständig ausgerastet. Seine unmissverständliche Botschaft: Gefühle und Stimmungen haben in Reports und im ganzen Bereich nichts verloren. Wir seien schließlich kein Karnevalsverein und sollten den Tag gefälligst mit Arbeiten und nicht mit Schunkeln verbringen.

Was mir dann erst so richtig klar wurde: Wir, das ganze Team, die ganze Abteilung und alle hier, sind für ihn nur Mittel zum Zweck. Sein einziges Ziel ist es, selbst auf der Karriereleiter hochzurutschen, koste es, was es wolle. Und da gerade die Hierarchie abgeflacht werden soll, gibt es immer mehr Konkurrenz. Wir sind da nur noch Zahnrädchen, die funktionieren sollen, und da passen Emotionen für ihn nicht ins Bild.

Dabei hätte mir das klar sein müssen. Er behandelt uns ja schon immer wie Dreck. Nach oben gucken und nach unten treten. Als Steigbügel sind wir halt ganz praktisch, aber wehe, wenn wir positive Resonanz auf etwas bekommen, und er ist nicht irgendwie involviert und verpasst, die Lorbeeren abzugreifen. So war es ja auch auf der Feier, mit der unser letztes Projekt abgeschlossen wurde. Alle anderen Abteilungsleiter und Führungskräfte waren eingeladen, aber keiner, echt KEINER aus dem Projekt selbst. Wir mussten nur danach die Rechnungen aus dem Projektbudget bezahlen. Aber, was soll ich sagen, auch da hat er rumgemeckert.“

Guido Bosbach schreibt über Management, Führung, Leadership, NextManagement

Guido Bosbach ist Organisationsberater mit einem Fokus auf Lösungen, die für eine systemisch fundierte, nachhaltige und menschenzentrierte Verbesserung der Zusammenarbeit und des gemeinsamen Erfolgs abzielen. Er arbeitet dazu in Unternehmen mit deren Executive-Teams & Führungskräften.

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