Neuer Mut zum Kämpfen
Von****Chris Zook, James Allen
Die meisten erfolgreichen Unternehmen geraten irgendwann in eine vorhersehbare Krise, die wir als Stall-out (auf Deutsch so viel wie Rückgang, Einbruch) bezeichnen: Umsatz und Gewinnwachstum sinken plötzlich rapide, oder einst hohe Aktienrenditen stürzen auf ein Niveau weit unter den Kapitalkosten ab. Ein Stall-out tritt ein, wenn der Wachstumsmotor, der ein Unternehmen erfolgreich gemacht hat, nicht mehr funktioniert. Dies liegt selten daran, dass das Geschäftsmodell auf einen Schlag hinfällig geworden ist, wie oft fälschlicherweise vermutet wird. Vielmehr zeigt unsere Forschung, dass in fast allen Fällen das Unternehmen zu komplex geworden ist.
Gründe hierfür sind oft die Bürokratie, welche die Abläufe der Organisation verlangsamt, oder eine interne Funktionsstörung, die Informationen verfälscht und Manager daran hindert, Entscheidungen schnell zu treffen und umzusetzen. Wenn wir mit Führungskräften über die Symptome eines Stall-outs sprechen, verwenden diese zwar unterschiedliche Formulierungen, aber die Ursachen sind immer dieselben: "Wir haben den Kontakt zu den Kunden verloren. Wir werden von Prozessen und Powerpoint-Präsentationen erdrückt. Es fehlt uns nicht an Möglichkeiten, aber irgendwie gelingt es uns nicht mehr, entschlossen zu handeln. Früher waren wir voller Energie unterwegs; heute haben wir das Gefühl, ein Flugzeug zu steuern, dem es an Schubkraft fehlt und dessen Bordinstrumente defekt sind."
Bei einer Analyse von 8000 internationalen Unternehmen haben wir herausgefunden, dass zwei Drittel der Firmen mit einem Umsatz von mehr als 500 Millionen Dollar in den 15 Jahren vor 2013 von einem Stall-out betroffen waren. Hierzu gehören bekannte Unternehmen wie Panasonic, Time Warner, Carrefour, Bristol-Myers Squibb, Alcatel-Lucent, Philips, Sony und Mazda. Noch beunruhigender war folgende Entdeckung: Bei 50 Konzernen, die sich in einem länger andauernden Stall-out befanden, war der Absturz ganz plötzlich gekommen. Innerhalb von nur einem oder zwei Jahren nahm die Dynamik drastisch ab. Die Wachstumszahlen fielen von zweistelligen Werten auf sehr niedrige einstellige Bereiche oder verkehrten sich sogar ins Negative. Dieses Ergebnis deckt sich mit früheren Studien.
Natürlich setzen externe Faktoren etablierte Unternehmen unter Druck. Die Strategie – das externe Schachbrett des Geschäfts – spielt nach wie vor eine wichtige Rolle. Allerdings sind sich die Wettbewerbsstrategien ähnlicher als früher, sie sind einfacher zu kopieren und von kürzerer Lebensdauer. Der Erfolg oder Misserfolg hängt zunehmend von der Fähigkeit der Unternehmen ab, Chancen zu erkennen sowie schnell, innovativ und flexibel zu bleiben. Organisationen, die intern gut aufgestellt sind, reagieren auf Änderungen in ihrem Wettbewerbsumfeld. Sie identifizieren Strategien, die ihre Dominanz sichern, und setzen diese um.
Zu dem Thema haben wir 377 Topmanager befragt. 94 Prozent derjenigen, die in Unternehmen mit einem Umsatz von über fünf Milliarden Dollar beschäftigt waren, sagten, dass heutzutage interne Funktionsstörungen das Haupthindernis für ein anhaltendes, gewinnbringendes Wachstum seien – und nicht ein Mangel an Möglichkeiten oder unerreichbare Fähigkeiten der Konkurrenz.
Ein Stall-out ist vielleicht nicht immer vermeidbar, aber es lässt sich durchaus auch überwinden. Wie wir in unserem Buch "The Founder's Mentality" argumentieren, sind den meisten Unternehmen mit anhaltendem Wachstum folgende Überzeugungen und Verhaltensweisen gemein:
Sie sehen sich selbst als "Business-Rebellen", die für vernachlässigte Kunden kämpfen.
Sie sind geradezu besessen davon, den Kontakt zwischen dem Unternehmen und seinen Kunden auszubauen und zu verbessern.
Sie pflegen eine Einstellung, die der Verantwortung für den Ressourceneinsatz sowie langfristigen Zielen eine hohe Bedeutung beimisst.
Da diese Qualitäten am stärksten in jenen Unternehmen spürbar sind, die von mutigen, ehrgeizigen Gründern geleitet werden, nennen wir sie die "Gründermentalität". Seit dem Jahr 2000 waren die Aktienrenditen großer Gesellschaften, in denen der Gründer noch immer aktiv war, dreimal höher als in anderen Unternehmen. Grundsätzlich kann sich jedoch jedes Führungsteam eine Gründermentalität aneignen und von den Effekten profitieren. In einigen Fällen ist eine einst dominierende Geisteshaltung im Laufe der Zeit verloren gegangen. Dann geht es darum, aen die alten Zeiten anzuknüpfen. Auf jeden Fall können diese drei Qualitäten jedem Unternehmen helfen, seinen Wachstumsmotor wieder anzuwerfen. Es muss dann dazu bereit sein, den ganzen Unrat und die komplexen Abläufe zu beseitigen, die sich über die Jahre gebildet haben, und für eine saubere Umsetzung der Strategie zu sorgen.
1. Werden Sie zum Rebellen
Wenn ein Stall-out auftritt, hängt es fast immer mit einer schleichend zunehmenden Komplexität zusammen. "Es war nicht die Schuld einer einzigen schlechten Entscheidung oder Taktik oder Person", sagte Howard Schultz, nachdem er 2008 als CEO zu Starbucks zurückgekehrt war, inmitten von sinkenden Einnahmen, schrumpfenden Gewinnspannen und einem Rückgang des Aktienkurses um mehr als 75 Prozent. Das Stall-out von Starbucks sei ganz plötzlich gekommen und gravierend gewesen, bekannte Schultz. Es habe sich aber auf eine Schwäche zurückführen lassen, die "sich still und heimlich einschlich und immer mehr Schaden anrichtete, wie ein einzelner loser Faden, der einen Pullover Stück für Stück auftrennt".
Unternehmen, die ein Stall-out in den Griff bekommen wollen, müssen Komplexität und überflüssige Kosten beseitigen. So setzen sie Ressourcen frei und schärfen den Fokus. Sie machen sich letztlich die Kraft zunutze, die das Wachstum des Unternehmens in seinen Anfängen angetrieben hat. Wir haben zehn erfolgreiche Versuche zur Rettung und zum Neustart von Organisationen untersucht. Bei allen sanken die Betriebskosten um mindestens 8 Prozent und manchmal sogar um mehr als 25 Prozent.
Wer Komplexität bekämpfen will, sollte von oben nach unten und in einer bestimmten Reihenfolge vorgehen. Zuerst muss das Management Vermögenswerte und Unternehmensbereiche loswerden, die nicht zum Kerngeschäft gehören. Dann sollte es eine einfachere Strategie für die bleibenden Geschäfte entwickeln. Anschließend kann es die Komplexität der Kernprozesse in Angriff nehmen. Und sich schließlich darauf konzentrieren, die Produktkomplexität bezüglich Design, Varianten und Individualisierung zu reduzieren. Wir haben gesehen, wie Führungsteams den Wandel in umgekehrter Reihenfolge angegangen sind. Sie verloren sich in den Details und schwächten das Unternehmen, bevor sie überhaupt zu dem Punkt kamen, der die meisten Veränderungen erfolgreich macht: die Reduzierung von Komplexität und Kosten auf höchster Ebene.
Wir haben festgestellt, dass sich interne Budgetprozesse mit zunehmender Unternehmensgröße demokratisieren. Das Management geht dazu über, die Ressourcen gleichmäßig auf bestehende und neue Geschäftsbereiche aufzuteilen. In einer Krise ist eine demokratische Investition jedoch der sichere Weg zur Mittelmäßigkeit. Wenn Sie ein Stall-out umkehren wollen, benötigen Sie genau das Gegenteil. In den Unternehmen, in denen dies gelungen ist, haben die Führungskräfte gewagte Investitionsentscheidungen getroffen, um das Geschäft neu auszurichten. In den meisten Fällen entwickelte die Organisation dadurch eine wesentliche neue Fähigkeit, die für Wachstumsschübe sorgte.
Sobald es einem Unternehmen wieder besser geht, muss es sein Selbstbild als Business-Rebell erneuern. Dazu ist es gar nicht notwendig, eine auf Konfrontation ausgerichtete Kultur einzuführen oder gar einen "Krieg" gegen die Wettbewerber auszurufen. Vielmehr wäre es hilfreich anzunehmen, dass das bisherige Angebot für seine Kunden verbesserungsbedürftig ist und dass die Branche zu niedrige Standards setzt. Es sollte immer und immer wieder betonen, welche einzigartige Stärke es besitzt. Ehrgeizige Ziele – statt desVorsatzes, einen weiteren Tag zu überleben – unterstützen das Wachstum. Mit zunehmender Größe kann es schwieriger werden, eine rebellische Mission weiter zu verfolgen, aber unmöglich ist es nicht. So ist zum Beispiel das Bestreben von Google, "die Informationen der Welt zu organisieren", zugleich einzigartig und beinahe unendlich, was die Ziele anbelangt.
Ein Unternehmen sollte sogar dazu bereit sein, beachtlich zu schrumpfen. Dies kann nötig sein, um sich neu zu gruppieren, zu organisieren und erneut ein gewinnbringendes Wachstum in Gang zu setzen. Ein gutes Beispiel dafür ist Perpetual, die älteste Treuhandgesellschaft Australiens. Sie erholte sich von einem Stall-out, indem sie die Betriebskosten um 20 Prozent reduzierte, Nicht-Kerngeschäfte abstieß und sich rund um die ursprüngliche Mission ihres Gründers neu aufstellte.
Perpetual wurde 1886 gegründet, um Stiftungen und Vermögenswerte für Australiens Nachkommen zu verwalten und war in der Folge fast durchgehend Marktführer. Mit dem Wachstum kam die Diversifikation. Das Unternehmen erweiterte sein Geschäft auf elf neue Sparten und geriet im Jahr 2011 in ernste Schwierigkeiten. Innerhalb von nur vier Jahren war der Aktienkurs von 84 auf 24 Dollar gefallen. Der Gewinn war umbeinahe 70 Prozent gesunken und keine Trendwende in Sicht. Die Anteilseigner forderten öffentlich einen Neubeginn. Das Unternehmen hatte mit Geoff Lloyd bereits den dritten CEO innerhalb von zwölf Monaten eingestellt.
Bei seiner Ankunft fand Lloyd nach eigener Aussage eine Organisation vor, die "intern konkurrierte und nach außen hin kooperierte". Er erzählte uns: "Wir waren über die Jahre unglaublich komplex geworden, weil wir immer mehr Geschäftsbereiche hinzugefügt hatten – und nur in wenigen waren wir Marktführer." Lloyd kam zu dem Schluss: Wenn er das Unternehmen retten wollte, war es unerlässlich, es zu seiner Hauptmission zurückzuführen. Perpetual musste sich wieder auf den Schutz von Australiens Reichtum konzentrieren. Dafür, so erkannte er, musste er das Unternehmen "schneller, selbstbewusster und vor allem einfacher machen".
Lloyd begann damit, zehn der elf Mitglieder des Führungsteams zu ersetzen. Das sollte sicherstellen, dass keiner der Manager vergangene Entscheidungen aus Eigeninteresse verteidigte. Als das Team komplett war, startete Lloyd die Kampagne "Transformation 2015". Sie bestand aus fünf Initiativen, die auf allen Ebenen rasch Komplexität beseitigen sollten. Eine davon war die "Portfolio"-Initiative: Sie reduzierte die Anzahl der Sparten von elf auf drei (zwei Geschäftsbereiche sorgten allein für ungefähr 95 Prozent des Gewinns), verringerte den Bestand an Immobilien um die Hälfte und schaffte mehr als 100 Altlast-Finanzierungsstrukturen ab.
Die "Betriebsmodell"-Initiative wiederum verringerte das Personal am Hauptsitz um mehr als 50 Prozent. Lloyd und sein Team fanden heraus, dass Backoffice-Unterstützung, Personalfunktionen und doppelt vorhandene Kontrollen mehr als 60 Prozent der Gesamtkosten ausmachten. Mit anderen Worten: Das Unternehmen verwendete nur 40 Prozent seiner Mittel für Verkauf, Kundenservice und Investitionen – seine Kernaktivitäten. Außerdem stützte es sich auf mehr als 3000 Computersysteme und -anwendungen.
Die Reduzierung – von Geschäftsbereichen, Personal, IT-Systemen und vielem mehr – war zentraler Bestandteil des Umbaus. Lloyd und sein Team erstellten jedoch auch einen Plan, um durch Investitionen in das Kerngeschäft Marktanteile zu gewinnen. Er berief Mitarbeiterversammlungen ein, was es bei Perpetual noch nie gegeben hatte, um die Lage des Unternehmens und seine Zukunft zu besprechen. Dies sollte auch wieder Begeisterung für die eigenen Werte entfachen. "Wir gaben uns große Mühe mit der Formulierung unserer Mission und Strategie", sagte Lloyd. Er hielt es für entscheidend, dass sich die Mitarbeiter wieder auf die Gründungsgrundsätze des Unternehmens konzentrierten. Dabei entdeckte er etwas Beeindruckendes: Das ursprüngliche Treuhandgeschäft von Perpetual war so stark, dass es nach 125 Jahren noch immer seinen ersten Kunden betreute.
Lloyds Strategien führten zu einer spektakulären Wende. Der Aktienkurs von Perpetual hat sich seit seinem Amtsantritt knapp verdoppelt, und die Mitarbeiterzufriedenheit ist merklich gestiegen. Das Unternehmen gewinnt in seinen Kernmärkten Anteile, und der Nettogewinn hat sich verdreifacht.
Unternehmen, die ihr Wachstum aufrechterhalten, sind völlig auf den Austausch mit den Kunden ausgerichtet. Diese Besessenheit, die oft von einer starken Gründerpersönlichkeit vorgelebt wird, äußert sich auf drei Arten: Die Mitarbeiter mit Kundenkontakt genießen einen gehobenen Status, die Gedanken kreisen auf allen Ebenen des Unternehmens um die einzelnen Kunden, und es besteht eine institutionalisierte Wissbegier nach Geschäftsdetails.
Dieses Phänomen zeigt sich am deutlichsten in Unternehmen mit intensivem Kundenkontakt, wie etwa Luxushotels oder teuren Restaurants. Auf latente Weise findet es sich jedoch in einer ganzen Reihe von Branchen wieder: Denken Sie an die Produktbesessenheit von Steve Jobs oder bei dem Weinpionier Robert Mondavi an dessen legendäre Liebe zum Detail. Mondavi glaubte an folgenden Leitspruch: "Der beste Dünger für einen Weinberg sind die Schritte seines Besitzers."
The Home Depot, die größte Baumarktkette der Welt, veranschaulicht sehr gut, wie der Verlust einer ausgeprägten Kundenorientierung zu einem Stall-out führen – und wie ihre Wiedereinführung das Wachstum neu ankurbeln kann. Der anfängliche Erfolg des Unternehmens lässt sich auf seine herausragenden Gründer, Bernard Marcus und Arthur Blank, zurückführen. Sie setzten alles daran, den Baumarkt als Berater des Kunden zu positionieren. Ihr Unternehmensleitsatz war "Alles, was notwendig ist". Die Gründer bildeten ihre Angestellten im Kundendienst sogar selbst aus. Die Mitarbeiter wiederum boten Sprechstunden zu Heimwerkerprojekten an und standen in den Geschäften stets mit fachmännischem Rat zur Verfügung. Diese Strategie hob das Unternehmen von anderen ab und erzeugte eine starke Kundenbindung.
Über viele Jahre hinweg war The Home Depot eine außergewöhnliche Erfolgsgeschichte. Von seiner Gründung 1978 bis zum Jahr 2000 übertraf das Unternehmen regelmäßig sein Ziel, den Jahresgewinn um 20 Prozent zu steigern. Dann jedoch verfehlte die Kette ein Gewinnziel. Dies und die Sorgen der Geschäftsleitung um die veralteten Systeme vor allem im IT-Bereich – in einem Unternehmen mit fast 50 Milliarden Dollar Umsatz alles andere als unbedeutend – führten zu einer schwerwiegenden Entscheidung: Im Dezember 2000 ernannte der Board of Directors Robert Nardelli zum neuen CEO. Dieser war als hochrangige Führungskraft bei General Electric tätig gewesen und sollte nun etwas von der Disziplin großer Konzerne einführen.
Nardelli schuf ein hierarchiebetontes Umfeld mit umfangreichen Kontrollmechanismen. Bis Anfang 2006 hatte er 98 Prozent der 170 obersten Führungskräfte ersetzt, und 56 Prozent der neuen Manager am Hauptsitz kamen von außen. Ein neues Leitungsteam war, vor allem im Bereich der Systeme, wahrscheinlich notwendig. Aber der komplette Austausch der Führungskräfte baute nicht auf den großen Stärken auf, die einst dafür gesorgt hatten, dass das Unternehmen etwas Besonderes war und von den Kunden geliebt wurde. Nardelli und sein Team vernachlässigten die Kundenbeziehungen, um die Quartalsgewinne zu steigern. Viele langjährige Vollzeitmitarbeiter verließen das Unternehmen. An ihre Stelle traten geringer bezahlte Teilzeitarbeiter, und der Kundenservice brach zusammen. "Do it yourself", so machten sich einige Leute lustig, wurde zu "Find it yourself". Als die Universität von Michigan 2006 ihren amerikanischen Kundenzufriedenheitsindex publizierte, war The Home Depot auf den letzten Platz unter den größten US-Einzelhändlern abgerutscht. Der Board hielt Treffen in den Filialen ab und entdeckte immer das gleiche Muster: Sorgen um die Zukunft, die Entmachtung von langjährigen Angestellten und das Gefühl, dass der soziale Vertrag zwischen dem Unternehmen, seinen Mitarbeitern und Kunden aufgelöst wurde.
Greg Brenneman, das dienstälteste Board-Mitglied und ein Fachmann für die Sanierung von Unternehmen, sagte uns: "Man konnte sehen, wie sich unter der Oberfläche große Probleme zusammenbrauten. Die Filialleiter fühlten sich durch Dutzende finanzieller Vorlagen und Kennzahlen behindert, die ihnen die Zeit nahmen, sich um die Kunden und den eigentlichen Betrieb zu kümmern. Die besten Angestellten, also die wahren Experten für Installations- und Elektroarbeiten, hatte man durch unerfahrene, billigere Teilzeitkräfte ersetzt. Der Besucherverkehr, das Herzblut jedes Händlers, nahm ab. Neue Filialen erzielten kaum Gewinn, was zu weiteren Entlassungen führte. Unser Geschäft war ins Stocken geraten, und wir mussten unseren Kurs ändern."
Kern des Problems war die Verschlechterung des Kundenerlebnisses. Folglich musste das Unternehmen hier ansetzen, um wieder zu nachhaltigem Wachstum zurückzukehren. 2007 ersetzt der Board Nardelli durch Frank Blake.
An seinem ersten Arbeitstag sprach Blake über den firmeninternen Fernsehsender zu allen Angestellten. Er zitierte ausführlich aus dem Buch "Built from Scratch" von Marcus und Blank. Er hob vor allem zwei Grafiken hervor. Eine listete die zentralen Werte auf, die andere zeigte ein umgekehrtes Dreieck – den Ehrenplatz an der Spitze erhielt der Kundenkontakt, und zwar in den Läden, in denen Mitarbeiter und Kunden interagierten.
Viele der ersten Maßnahmen Blakes konzentrierten sich darauf, die für das Unternehmen typische "Kultur der orangefarbenen Schürzen" wiederherzustellen: kompetente Angestellte, die leicht an ihren Schürzen zu erkennen waren und sich vorrangig um einen hochwertigen Kundenservice bemühten. Blake folgte auch Marcus' Rat, die Filialen heimlich in sogenannten "Undercover-Missionen" zu besuchen. Die Erkenntnisse, die er dabei sammelte, erwiesen sich als so wertvoll, dass er seine leitenden Angestellten anwies, von nun an regelmäßig durch die Läden zu gehen. Die meisten hatten dies vorher noch nie getan.
Wie Lloyd bei Perpetual machte sich auch Blake daran, die Komplexität zu reduzieren, die Geschäftsbereiche neu zu strukturieren und verlustbringende Filialen zu schließen. Im Prinzip ging es darum, erst zu schrumpfen, um dann wieder wachsen zu können. Er erhöhte auch den Bonuspool für die Belegschaft auf das Siebenfache, stellte einige frühere Angestellte wieder ein und wies die Filialleiter an, eine besondere Regel aus früheren Tagen wieder einzuführen: Sie bestand darin, Ehrenabzeichen an jene Mitarbeiter zu verleihen, die Kunden gegenüber besonders zuvorkommend gewesen waren.
Vor acht Jahren war The Home Depot ein Sanierungsfall, dem der Komplettabsturz drohte. Doch Blake hat die alte Gründermentalität wiederbelebt. Den Mitarbeitern hat dies neue Energie verliehen, und der Kontakt zu den Kunden ist persönlicher geworden. Das Unternehmen ist zu seinen Grundwerten zurückgekehrt. Dies ist der Grund dafür, dass der Aktienkurs von ungefähr 25 Dollar im Jahr 2009 auf mehr als 130 Dollar im Dezember 2015 gestiegen ist.
Der dritte Faktor für die Umkehrung eines Stall-outs umfasst ein Managementkonzept, das vor 40 Jahren zum ersten Mal in Mode kam: die Eigentümerperspektive. Es zielt darauf ab, Mitarbeiter und Aktionäre durch Kostenbewusstsein und Rechenschaftspflichten auf eine Linie zu bringen. Doch dies wird häufig missverstanden. Viele verwechseln den Grundgedanken mit einer Einstellung, bei der es nur darum geht, Geld aus dem bestehenden Geschäft zu holen. Das Interesse an Innovation, herausragendem Kundenservice oder der Wertschätzung von Angestellten mit direktem Kundenkontakt geht dabei verloren.
Im Idealfall konzentriert sich die Eigentümerperspektive auf langfristige Ziele. Sie misst schnellem und entschiedenem Vorgehen großen Wert bei und ist dadurch gekennzeichnet, dass die Mitarbeiter verantwortungsbewusst handeln und Ressourcen einsetzen. Die Eigentümerperspektive hat maßgeblich zum Aufstieg der Private-Equity-Branche beigetragen – eine Reaktion auf die ausufernde Bürokratie, das schlechte Kostenmanagement und die Komplexität, der viele große Organisationen zum Opfer gefallen sind. Als wir die Übernahmen mehrerer Beteiligungsgesellschaften untersuchten, stellten wir fest: Geschäfte, die von großen Aktiengesellschaften mit einem Management verkauft wurden, das die positiven Aspekte der Eigentümerperspektive aus den Augen verloren hatte, verdienten in der Folge fast 50 Prozent mehr als die anderen. Nachdem die Investoren die Eigentümerperspektive wiederhergestellt hatten, profitierten diese Unternehmen von schnelleren Entscheidungen, weniger Bürokratie, einer kritischeren Sicht auf die Bereiche außerhalb des Kerngeschäfts und einem besseren Kostenmanagement.
Ein Paradebeispiel hierfür ist der Computerhersteller Dell, das erfolgreichste Großunternehmen der 90er Jahre. Ein Jahrzehnt später geriet das Geschäft ins Stocken: Einige der Vorteile seines legendären Direktverkaufsmodells verloren an Bedeutung, und der Marktwert stürzte von 107 Milliarden Dollar im Jahr 1999 auf knapp unter 25 Milliarden Dollar im Jahr 2013 ab – ein Rückgang um 77 Prozent. Als der Gründer Michael Dell wieder den Posten des CEOs übernahm, den er zwischenzeitlich abgegeben hatte, war ihm klar, dass es notwendig war, einen grundlegenden Wandel einzuleiten. Er kam jedoch zu dem Schluss, dass er das Unternehmen erst von der Börse nehmen musste, wenn er dabei effektiv sein wollte. 2013 konnte er dieses Vorhaben gemeinsam mit der US-Beteiligungsgesellschaft Silver Lake umsetzen.
"Es ist beeindruckend, was wir durch den Rückzug von der Börse alles beschleunigen konnten", sagte uns Michael Dell. "Wir haben unsere Sitzungsstrukturen vereinfacht, sind zu einem Board of Directors mit nur drei Mitgliedern übergegangen und haben wieder Lust aufs Risiko bekommen. Wenn große Komitees über Risiko sprechen, sprechen sie über Risikokomitees, wie schlecht Risiko ist, Verfahren zur Minimierung des Risikos und die Reaktion der Analysten. Für uns geht es beim Risiko nun um Innovation und Erfolg. Es war sehr motivierend für unsere 100 000 Mitarbeiter zu spüren, dass sich das Unternehmen nun wieder auf langfristige Ziele konzentriert."
Die Werte zur Kundenzufriedenheit haben sich erholt, und die Zufriedenheit der Beschäftigten ist so hoch wie nie zuvor. Die Kerngeschäfte wachsen wieder schneller als die Konkurrenz. Das Unternehmen investiert zudem massiv, um das Geschäftsmodell langfristig auszurichten.
Der Weg, den Dell gegangen ist, lässt sich nicht auf jede Organisation übertragen. Doch kann eine Eigentümerperspektive natürlich auch in einem Unternehmen verankert werden, ohne es gleich vom Aktienmarkt zu nehmen. Sie können beispielsweise "Mini-Gründer-Erlebnisse" herbeiführen, indem Sie Franchises mit unmittelbarer Eigentümerbeteiligung einrichten oder die Angestellten ermutigen, interne Start-ups zu gründen, die sich später abspalten lassen. Sie können um langfristig orientierte Investoren werben und das Gehalt der Führungskräfte stärker von langfristigen Kennzahlen abhängig machen. Eine Möglichkeit besteht auch darin, Termine für interne Besprechungen so zu legen, dass Sie schneller Entscheidungen treffen können. Einige Führungsteams halten ihre Sitzungen zum Beispiel montags ab und setzen dann dienstags direkt die Nachbesprechungen an. So werden Blockaden bei wichtigen Entscheidungen und Handlungen vermieden. Eine weitere Option für Unternehmen ist, auch externe Partnerschaften mit aufstrebenden Wettbewerbern einzugehen und diese letztlich vielleicht sogar zu übernehmen. Oder sie integrieren durch Zukäufe Gründer in ihre Organisation und versuchen, deren Unternehmergeist zu erhalten. Diesen Ansatz haben beispielsweise Cisco, Google und Ebay gewählt.
Ebay war anfangs eine große Erfolgsgeschichte und eines der ersten Dotcoms, das ein wahrlich explosionsartiges Wachstum erlebte. In den späten 2000er Jahren kam es jedoch auch bei dem Auktionshaus zu einem Stall-out. Das Unternehmen fiel der Konkurrenz von Amazon und anderen Onlinehändlern sowie seiner eigenen Diversifizierung zum Opfer, zu der auch der Kauf von Skype gehörte. Sein alterndes E-Commerce-Auktionsmodell schien dem Wettbewerb nicht mehr gewachsen zu sein. Der Aktienkurs war von 59 Dollar im Jahr 2004 auf nur 10 Dollar im Jahr 2009 gesunken.
Als John Donahoe CEO wurde, erkannte er, dass es notwendig war, das Unternehmen tief greifend zu verändern. Er musste die Randbereiche abstoßen, die E-Commerce-Plattform von Ebay aufpolieren und vor allem den Fokus auf ein Zukunftsfeld richten – den Mobile Commerce. Um jedoch erfolgreich in den elektronischen Handel über mobile Endgeräte vorzudringen, war es wichtig, die Innovationspipeline zu stärken und die Fähigkeiten des Unternehmens auf Vordermann zu bringen. Dies konnte ihm nur gelingen, so sagte er uns, wenn er "Ebay mit jungen Entrepreneuren füllte". Dabei folgte er einer Handlungsmaxime, die für Unternehmen in ähnlichen Situationen grundsätzlich gilt: Meist können sie ihre Krise nur überwinden, wenn Kräfte von außen in die Organisation kommen.
Nicht lange nach seinem Amtsantritt begann Donahoe, kleine, von ihren Gründern geleitete Unternehmen aufzukaufen – im Schnitt etwa alle drei Monate eines. Er war nicht nur an den Transaktionen und technischen Innovationen interessiert. Donahoe wollte die Gründer und ihre Teams behalten, meist, um mit ihnen Positionen im Kerngeschäft zu besetzen. "Vielen dieser Gründer gefällt unser Ansatz", sagte er, "weil sie bei Ebay in großem Maßstab Neuerungen einführen und sie 130 Millionen Kunden auf der ganzen Welt vorstellen können."
Einer dieser Gründer war der 25-jährige Jack Abraham. Er hatte die Shopping-Suchmaschine Milo aufgebaut, die Geschäfte nach der günstigsten Ware durchsucht. Bei einer der regelmäßigen Freitagskonferenzen, die Donahoe mit Führungskräften unter 30 abhielt, hob Abraham die Hand und schlug eine radikale Erneuerung der Homepage vor. Donahoe sagte ihm, er solle herausfinden, welche Mittel er brauchen würde, um die Idee weiterzuverfolgen. Sofort nach der Besprechung nahm Abraham mit fünf der besten Entwickler des Unternehmens Kontakt auf und ging noch am selben Abend mit ihnen ein Glas trinken. Er überzeugte sie, am nächsten Morgen für zwei Wochen mit ihm nach Australien zu fliegen, wo sie völlig vom Hauptsitz in Kalifornien abgeschirmt wären und an der Entwicklung eines Prototyps arbeiten könnten.
Was dabei herauskam, warf Donahoe einfach um. "Hätten wir ein normales Produktteam gefragt", sagte er, "so hätte ich als Resultat Hunderte Powerpoint-Folien bekommen, außerdem einen Zweijahresplan und ein Budget von 40 Millionen Dollar. Diese Jungs dagegen sind weggeflogen, haben Tag und Nacht gearbeitet und sind mit einem Prototyp zurückgekommen. Sie entwickeln. Sie machen keine Powerpoint-Präsentationen, sie entwickeln einfach."
Donahoes Ansatz eignet sich am besten für Märkte, die sich schnell verändern und in denen die etablierten Unternehmen ständig neue Technologien übernehmen und neue Kompetenzen erwerben müssen. Nicht alle Initiativen waren auf lange Sicht erfolgreich. Dass sich der Ebay-Aktienkurs während der Amtszeit von Donahoe verfünffacht hat, lässt sich auf viele Gründe zurückführen. Einer davon waren der Erfolg und die Ausgliederung von PayPal, dessen Unabhängigkeit die Gründermentalität verstärkt hat. Dennoch ist die Vorgehensweise von Donahoe ein gutes Beispiel, wie sich die Integration externer Entrepreneure auszahlen kann. Ebay hat sehr von ihrer Energie und ihrem Unternehmergeist profitiert.
Stall-outs sind eine große Gefahr: Wer sie ignoriert oder nicht richtig auf sie reagiert, kann sich langfristige Probleme einhandeln. So wie alle anderen unternehmerischen Herausforderungen bieten jedoch auch sie Chancen. Bei der Analyse von Kursschwankungen am Aktienmarkt fanden wir Folgendes heraus: Einige der größten Kursanstiege treten dann auf, wenn ein Unternehmen gezwungen ist, zu seinem Kerngeschäft zurückzukehren und dieses neu zu definieren. Manager müssen bei einem Stall-out also nicht in Panik geraten. Unternehmen, die sich wieder auf ihre Mission besinnen, den Kontakt zu den Kunden neu aufleben lassen und eine Eigentümermentalität in der gesamten Organisation verankern, können Krisen überwinden und zu neuen Höhenflügen ansetzen
Von Chris Zook, James Allen
Kompakt
Wenn der Motor stottert ...
Wachsende Unternehmen sehen sich oft unerwartet mit einem plötzlichen Geschäftseinbruch konfrontiert: Umsatz und Gewinne steigen nicht mehr wie erwartet, es droht eine Krise – ein Phänomen, das auch als Stall-out bezeichnet wird. Schuld daran sind meist Komplexität und Bürokratie.
... bringen ihn diese Massnahmen wieder in Schwung
Die Führungskräfte müssen die "Gründermentalität" wiederentdecken. Es handelt sich hierbei um Überzeugungen und Verhaltensweisen, wie sie in den Managementteams von Start-ups zu finden sind. Es gilt, folgende Grundsätze zu beherzigen: Das Unternehmen muss Komplexität und unnötige Kosten stark reduzieren, seine Mission erneuern und sich so organisieren, dass sich das Augenmerk auf den Kundenkontakt richtet. Schließlich sollten sich Führungskräfte und Mitarbeiter eine Sichtweise aneignen, wie sie bei Eigentümern von Unternehmen zu finden ist: Bürokratie vermeiden, schnelle Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen.
Die Autoren
Chris Zook ist Partner bei Bain & Company und leitet die Global Strategy Practice der Beratungsfirma. Er ist Autor mehrerer Bücher und lebt in Amsterdam und Boston. James Allen ist Senior Partner bei Bain & Company in London. Er leitet zusammen mit Zook den Bereich Global Strategy.
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