Nie gab es mehr Anfang als jetzt: Warum wir Virtuosen des Augenblicks sein sollten
Das Warum des eigenen Tuns
Junge Menschen versuchen, das Leben vom Anfang und ältere Menschen vom Ende her zu begreifen, doch „jedes Nachdenken bricht an der Unvorstellbarkeit des Endes ab“, schreibt Sven Kuntze in seinem aktuellen Buch „Alt sein wie ein Gentleman“, in dem er sich der Würde im Alter und anderen überschätzten Tugenden widmet. Es erschien fast eine Dekade nach seinem Bestseller „Altern wie ein Gentleman“, in dem er gelassen und heiter über seine Erfahrungen als Rentner schrieb. Nun fragt er, was der Sinn der späten Lebensernte ist, wie es wohl weitergehen wird im achten Lebensjahrzehnt. Was ist wesentlich? Was hat es mit all den Jahren auf sich gehabt? Was macht ein gutes gelungenes Leben aus? Und welche Rolle spielt dabei Gelassenheit? Welches Wissen stiftet Orientierung und die Möglichkeit, richtige Entscheidungen im Angesicht der Vergänglichkeit zu treffen?
All dies sind Fragen, die vielleicht auch unser Leben lebenswert machen. Jetzt und sofort. Denn wir werden daran erinnert, dass niemand von uns lebend hier herauskommt. Deshalb ist es wichtig, sich selbst niemals wie ein Andenken zu behandeln, Essen und Trinken zu genießen, spazieren zu gehen, auf sein Herz zu hören und mit wachen Sinnen durch die Welt zugehen. Er plädiert dafür, anzunehmen, was jedem Menschen von Liebe, Glaube, Hoffnung übriggeblieben ist, sich auf die Gegenwart zu fokussieren und und im Augenblick zu leben, denn, schreibt der Dichter Walt Whitman in seinen „Grasblättern“:
„Nie gab es mehr Anfang als jetzt,
Nie mehr Jugend oder Alter als jetzt,
Und nie wird es mehr Vollkommenheit geben als jetzt.“
Sven Kuntze studierte Soziologie, Psychologie und Geschichte an der Universität Tübingen. Er berichtete als TV-Reporter für den WDR aus Bonn, New York und Washington, moderierte ab 1993 das ARD Morgenmagazin und ging mit dem Regierungsumzug nach Berlin, wo er als Hauptstadtkorrespondent arbeitete. Ein besonders wichtiger Aspekt seines aktuellen Buches ist die soziale Nachhaltigkeit. Kuntze zeigt, dass wir uns nicht nur statistisch für den demographischen Wandel zu interessieren sollten. Mit unserer sozialen Altersvorsorge sind wir „in den zurückliegenden Jahrzehnten unbekümmert schlampig umgegangen. Wir haben uns so verhalten, als ob die Natur bei uns eine Ausnahme machen und uns ein ewiges Leben schenken würde.“
Interessant ist, dass sich dieser sorglose Umgang auch im Unternehmenskontext zeigt. So ist im aktuellen Nachhaltigkeitsbericht 2019/2020 des Öko-Pioniers memo nachzulesen, dass die Mitarbeiterzufriedenheit mit den „Angeboten zur Altersvorsorge“ (80,21 %) deutlich gesunken sei. Da diese Angebote in den letzten Jahren nicht grundlegend verändert wurden, lässt sich diese Bewertung einerseits auf die gestiegene Anspruchshaltung zurückführen, andererseits fehlt es auch an der richtigen internen Kommunikation. Obwohl die Geschäftsleitung im Rahmen regelmäßiger Personalversammlungen alle wichtigen Ziele, Maßnahmen und Kennzahlen sowie die Geschäftsentwicklung des Unternehmens kommuniziert und in diesem Rahmen die Möglichkeit gibt, eventuelle Probleme und Fragestellungen direkt an die Geschäftsleitung heranzutragen, wurde die „Informationspolitik der Geschäftsführung“ nochmals deutlich schlechter bewertet als schon in den Vorjahren (53,81 %). Als Optimierungsmaßnahme wurde deshalb im Dialog mit den Mitarbeitern ein neues Konzept zur Durchführung von Informationsveranstaltungen erarbeitet. Zukünftig werden zum Beispiel die Themen konzentrierter dargestellt. Außerdem wurde der zeitliche Rahmen der Veranstaltungen verändert (Quelle: memo Nachhaltigkeitsbericht 2019/2020).
Mit dem Thema des höheren Lebensalters beschäftigen sich Unternehmen auch in anderen Zusammenhängen. Betont wird im Kontext des Gesundheitsmanagements auch, wie wichtig es ist, sich gut um Körper und Geist zu kümmern. So schreibt Dr. med. Doris Marcyzynski, Ärztin für Arbeits- und Allgemeinmedizin, in der Mitarbeiterzeitschrift von Häcker Küchen, dass man schon früh an die Chancen der neuen Lebensphase denken sollte, indem beispielsweise mindestens zweimal pro Woche sportliche Aktivitäten stattfinden sollten. Auch Freundschaften, stabile Netzwerke, Training des Geistes und ehrenamtliches Engagement werden betont. Die wichtigste Botschaft aber lautet: "Genießen Sie den Moment und verschieben Sie bitte nicht alles auf später." All das sind auch Themen des Buches von Sven Kuntze – es lädt allerdings auch dazu ein, sie weiter zu denken.
Leben auf Sichtweite
Seit 2007 ist Sven Kuntze im Ruhestand und seither als freier Journalist und Autor tätig. Da langfristige Pläne jetzt an der Einsicht scheitern, dass ihnen keine Zeit zur Umsetzung mehr bleibt, lässt er die Finger von ihnen und beginnt, „auf Sichtweite zu leben“. Das zeigt sich auch im Schreiben: für den großen Wurf und eine lange Vorbereitung ist keine Zeit mehr – stattdessen geht es um Fragmente und Details statt Zusammenhänge sowie um die Suche nach den Bedingungen eines „guten Lebens“ unter den Voraussetzungen, „die jene letzte Zeit mit sich bringt.“ Älter und reifer zu werden hat für ihn auch mit Gelassenheit – für Marie von Ebner-Eschenbach eine „anmutige Form des Selbstbewusstseins“ – zu tun, die dazu beiträgt, das Wesentliche im Griff zu haben.
All das gilt auch mitten im Leben, bei schwerer Krankheit und im Angesicht des Todes. So schreibt der britische Neurologe Oliver Sacks, der 2015 nach langer Krankheit in News York an Krebs starb, in seinem Essay „Mein Leben“, dass er nun alles viel deutlicher sieht, die Erfahrungen intensiver sind und ihm keine Zeit für Unwichtiges bleibt. Auf ihn verweist auch die Philosophin und Publizistin Dr. Ina Schmidt in ihrem aktuellen Buch „Über die Vergänglichkeit“, in dem sie sich dem Abschied widmet und zeigt, dass er als kulturelle und individuelle Praxis begriffen werden sollte, denn nur so können wir lernen, mit uns selbst im Reinen zu sein das Ende zu akzeptieren. Leider haben wir – so auch die Kritik von Kuntze - den Tod achtlos, „wie die Zeitung von gestern, zur Seite gelegt.“ Deshalb haben viele Menschen nur geringe Kenntnisse im praktischen Umgang mit Angst, Leid und Verzweiflung.
Einfach umfallen, ohne langsames Dahinsiechen – diese Vorstellung vom Sterben scheint vielen Menschen heute erstrebenswert. Doch für jene, die im Mittelalter lebten, schreibt Ina Schmidt, wäre es undenkbar gewesen, unvorbereitet und ohne die Kunst des Sterbens (Ars moriendi) ins Jenseits zu gehen. Ihr Buch enthält wichtige Ergänzungen zur Kuntze-Publikation, weil sein Thema hier in größere Zusammenhänge eingebettet ist („Abschied“, „Vergänglichkeit“, „Verletzlichkeit“ und „Alter“) und auf schmerzliche und tröstliche Weise gezeigt wird, dass erst die Zeitlichkeit dem Leben eine Form gibt und Schreiben der Versuch ist, es „bleibend“ auszusprechen.
Weiterführende Informationen:
www.aelter-werden-in-balance.de der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
Sven Kuntze: Alt sein wie ein Gentleman. Über Würde im Alter und andere überschätzte Tugenden. C. Bertelsmann, München 2019.
Doris Marczynski: Gesund in die jahre kommen - ein wahrer Segen. In: INTERN. das magazin für Häcker-MitarbeiterInnen. Ausgabe 35 (November 2019), S. 4.
Ina Schmidt: Über die Vergänglichkeit. Eine Philosophie des Abschieds. Edition Körber, Hamburg 2019.
Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.