Nur Kernkompetenzen sichern das Überleben
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Der globale Verdrängungswettbewerb zwingt Unternehmen dazu, alle Kräfte auf das zu konzentrieren, was sie besonders gut beherrschen. Dazu müssen sie die Trennung zwischen den strategischen Geschäftseinheiten aufheben und die Zusammenarbeit fördern.
Von C. K. Prahalad und Gary Hamel
In vielen Unternehmen fragt man sich bang, wie auf den globalen Wettbewerb reagiert werden soll. In den 80er Jahren hatte man Topmanager noch danach beurteilt, ob sie etwas von der Verpflichtung verstanden, ihre Unternehmen umzustrukturieren und abzuspecken. Aber in den 90er Jahren wird man Führungskräfte nach ihrer Fähigkeit zu beurteilen haben, jene Kernkompetenzen festzustellen, zu verfeinern und betriebswirtschaftlich zu nutzen, die Wachstum erst ermöglichen. Das freilich setzt ein gründliches Umdenken da voraus, wo es um das Selbstverständnis der Unternehmen geht.
Werfen wir nur einen Blick auf die zurückliegenden zehn Jahre von GTE und NEC. Zu Beginn der 80er war GTE gut gerüstet, um bei der sich entfaltenden Informationstechnik ein gewichtiges Wort mitreden zu können. Das Unternehmen betätigte sich im Bereich Telekommunikation, und seine vielseitigen Geschäftsaktivitäten reichten von Telefonen über Relais, Übertragungssysteme, digitale Vermittlungen, Halbleiter, Satelliten und Rüstungssysteme bis hin zu lichttechnischen Produkten. Die GTE-Sparte für Unterhaltungselektronik – sie stellte die Farbfernseher der Marke Sylvania her – besaß mit ihrer Bildschirmtechnik eine gute Marktposition. 1980 erreichte GTE einen Umsatz von 9,98 Milliarden Dollar, der Netto-Cashflow betrug 1,73 Milliarden. In Kontrast dazu kam die damals viel kleinere NEC nur auf einen 3,8-Milliarden-Dollar-Umsatz. Auf vergleichbarer technologischer Basis betrieb NEC lediglich das Computergeschäft, besaß aber in der Telekommunikation keinerlei praktische Erfahrung.
Aber wie standen GTE und NEC acht Jahre später da? 1988 belief sich der GTE-Umsatz auf 16,46 Milliarden Dollar; NEC jedoch lag mit 21,89 Milliarden schon beträchtlich darüber. Inzwischen ist aus GTE quasi eine reine Telefongesellschaft geworden, mit einigen restlichen Interessen in der Rüstung und Lichttechnik. Die anderen Geschäftsbereiche sind im Weltmaßstab nur noch relativ klein: Sylvania und Telenet wurden abgestoßen, die Geschäfte mit Relais, Übertragungssystemen und digitalen Vermittlungen in Joint Ventures eingebracht, die Halbleiter ganz aufgegeben. Im Ergebnis ist die internationale Stellung von GTE arg geschwächt, was sich auch am Ertragsanteil der außeramerikanischen Aktivitäten zeigt: Vom Gesamtertrag waren es 1988 nur noch 15 Prozent gegenüber 20 Prozent 1980.
Ganz anders NEC: Die Japaner haben sich zum Weltmarktführer bei Halbleitern und zu einem erstklassigen Mitspieler bei Telekommunikationsgeräten und Großrechnern gemausert. Darüber hinaus bietet der Konzern immer stärker auch Trendprodukte wie Mobiltelefone, Faxgeräte und Laptops an und schließt damit die Lücke zwischen Telekommunikation und Büroautomatisierung. Heute ist NEC das einzige Unternehmen, das den Erträgen nach sowohl in der Telekommunikation als auch bei Halbleitern und Großrechnern zu den größten fünf in der Welt zählt. Die Frage ist nur: Wieso haben GTE und NEC, die mit vergleichbaren Geschäftsportfolios starteten, so unterschiedlich abgeschnitten? Großenteils deshalb, weil NEC ein tief gehendes Verständnis seiner "Kernkompetenzen" entwickelte, GTE aber nicht.
Früher konnte ein diversifizierter Konzern seine Geschäftseinheiten einfach auf einzelne Produktmärkte einstellen und sie dazu anhalten, dass sie eine Spitzenstellung in der Welt anstrebten. Doch bei sich immer schneller verändernden Marktgrenzen sind solche Zielvorgaben schwer umsetzbar und eroberte Märkte bestenfalls für einige Zeit zu halten. Wenige Unternehmen nur waren so clever, ganz neue Märkte zu erfinden oder entstehende Märkte schnell zu betreten, indem sie auf dramatisch gewandelte Kundenwünsche unverzüglich reagierten. Nimmt sich das Management solche Beispiele zu Herzen, dann wird es seine entscheidende Aufgabe darin sehen, ein Unternehmen zu schaffen, das Produkte unwiderstehlich funktionsgerecht gestalten oder – noch besser – neue Produkte kreieren kann, die gebraucht werden, auch wenn die Kunden zunächst von ihnen noch gar keine Vorstellung haben.
Das ist verteufelt schwer, denn letztlich verlangt diese Aufgabe, dass in der Führung der Konzerne radikal umgedacht wird. Die Topmanager des Westens müssen erkennen, inwieweit sie selbst für die sinkende Wettbewerbsfähigkeit ihrer Unternehmen verantwortlich sind. Jeder weiß von hohen Zinsen, japanischem Protektionismus, überholten Antikartellgesetzen, widerspenstigen Gewerkschaften und ungeduldigen Kapitalanlegern zu berichten. Aber was nicht so einfach zu sehen und noch schwerer zuzugeben ist: wie wenig an Unterstützung die Unternehmen wahrscheinlich von politischer und gesamtwirtschaftlicher Seite erwarten dürfen. Die Theorie und die Praxis des westlichen Managements haben eine Bremswirkung gegen den Vorwärtsdrang hervorgebracht – es sind die Managementmethoden, und diese müssen deshalb dringend geändert werden.
Der Vergleich zwischen NEC und GTE ist aufschlussreich, aber nur einer von vielen ähnlichen Fällen, die wir unter die Lupe nahmen. In den frühen 70er Jahren artikulierte NEC mit dem Slogan "C & C" (Computing and Communications) seine strategische Intention, die sich abzeichnende Konvergenz von Computer- und Kommunikationstechnik auszunutzen (siehe "Strategic Intent", HBM-Ausgabe 4/1989). Der Erfolg, so kalkulierte die Konzernspitze damals, hängt davon ab, ob es gelingt, ausreichende Kompetenzen zu erwerben, speziell bei der Halbleiterproduktion. Also errichtete man – unter dem Zeichen C & C – eine angemessene "strategische Architektur" und verkündete seinen Vorsatz Mitte der 70er Jahre hausintern wie weltweit.
NEC-Topmanager fanden sich in einem "C & C Committee" zusammen, um die Entwicklung von Kernprodukten und Kernkompetenzen zu steuern. Außerdem bildete das Unternehmen Koordinationsteams und -ausschüsse, die die Interessen der einzelnen Geschäftseinheiten zu beschneiden hatten. In Übereinstimmung mit der strategischen Architektur schichtete NEC intern enorme Mittel um, was seine Marktstellung bei Komponenten und Großrechnern stärken sollte. Kooperationsabkommen halfen, die intern verfügbaren Ressourcen zu vervielfachen. So war das Unternehmen in der Lage, sich eine lange Liste von Kernkompetenzen zuzulegen.
Mit aller Sorgfalt stellte das NEC-Topmanagement zunächst fest, dass es drei miteinander verbundene Stränge in der technischen und kommerziellen Entwicklung gibt: die Computertechnik entwickelte sich fort von den zentralen EDV-Abteilungen zur individuellen Datenverarbeitung am Arbeitsplatz; bei den Komponenten sind nicht mehr so sehr einfache integrierte Schaltkreise gefragt, sondern miniaturisierte Chips mit einer immer höheren Speicherdichte; in der Kommunikationstechnik werden statt mechanischer Vermittlungsstellen komplexe digitale Systeme benötigt, die wir heute ISDN nennen.
Mit der Zeit stieß man darauf, dass sich die Geschäftsfelder Computer, Fernmeldegeräte und Komponenten (auch Chips) immer mehr überschnitten, sodass es fast unmöglich wurde, sie noch auseinanderzuhalten. Darin, so erkannte man, müssten enorme Chancen für jedes Unternehmen liegen, das über die Kompetenzen verfügt, alle drei Märkte zu bedienen.
Die NEC-Spitze bestimmte nun die Halbleiter zum wichtigsten "Kernprodukt" des Konzerns. Man schloss daraufhin eine Unzahl strategischer Allianzen – 1987 waren es bereits über 100 –, um die erforderlichen Kompetenzen so schnell und günstig wie möglich aufzubauen. Bei Großrechnern gab es beispielsweise den viel beachteten Bund mit Honeywell and Bull. Fast alle Kooperationsabkommen bei Halbleiterkomponenten wurden darauf ausgerichtet, Zugang zu Technologien zu bekommen, das heißt, die Kenntnisse der Partner für die eigenen Zwecke auszuschlachten. Wie resümierte der NEC- Forschungsdirektor doch: "Aus investitionspolitischer Sicht ging das so viel schneller und billiger. Wir bedienten uns ausländischer Technologien und brauchten selbst keine neuen Ideen entwickeln."
Eine solch klare strategische Absicht und Struktur existierte bei GTE nicht. Zwar diskutierte die höchste Ebene über das aufkommende Geschäft mit der Informationstechnik, vermochte sich aber nicht auf eine gemeinsame Ansicht über die Kompetenzen zu verständigen, die allein in dieser Branche Wettbewerbsfähigkeit garantieren. Die Stäbe leisteten zwar gute Arbeit und machten sich mit den Schlüsseltechnologien vertraut. Aber die Linienmanager agierten weiter so, als ob sie komplett autonomen Geschäftseinheiten vorstünden.
Dieses dezentrale Vorgehen sollte die Konzentration auf Kernkompetenzen erschweren. Bei entscheidenden Fertigkeiten wurden die einzelnen Geschäftszweige zunehmend von Externen abhängig und Kooperationen zu einer Art Notbehelf. Inzwischen hat GTE die Spitze ausgewechselt und sich neu positioniert, um seine Kompetenzen für die wachsenden Märkte der Telekommunikationsdienste nutzen zu können.
Portfolio von Kompetenzen (NEC) oder Portfolio von Geschäftseinheiten (GTE) – dieser Unterschied kehrt in vielen Branchen wieder. Zwischen 1980 und 1988 wuchs Canon um 264, Honda um 200 Prozent. Was ist dagegen mit Xerox oder Chrysler? Westliche Manager sehen sich heute geradezu von dem Tempo überfahren, in dem ihre japanischen Rivalen neue Märkte erschließen, neue Produkte hervorbringen und sie dann weiter verbessern: Canon bescherte uns den Tischkopierer; Honda wurde vom Motorrad- zum Automobilhersteller; Sony brachte den Acht-Millimeter-Camcorder, Yamaha das elektronische Klavier; Komatsu kreierte den ferngesteuerten Unterwasserbulldozer und Casios jüngster Streich ist ein Farbfernseher mit winzigem LCD-Bildschirm. Wer hat diese Pionierprodukte vorhersehen können?
In den bisherigen Märkten beunruhigt die fernöstliche Herausforderung nicht weniger. Japans Konzerne entfachen einen wahren Wirbelsturm mit zusätzlichen Produkteigenschaften und funktionellen Verbesserungen, die Alltagsgeräte auf Hightechstandard heben. Japanische Autobauer waren die Vorreiter beim Allradantrieb, dem Vierventiler und einer ausgeklügelten elektronischen Motorsteuerung. Mit der Klasse seiner Faxgeräte, Tischlaserdrucker sowie Produktionsanlagen auf Halbleiterbasis kann Canon weltweit auftrumpfen.
Kurzfristig gesehen beruht die Konkurrenzfähigkeit eines Unternehmens auf dem Preis-Leistungs-Verhältnis seiner aktuellen Produkte. Inzwischen halten die Überlebenden der ersten Welle des globalen Wettbewerbs, westliche wie japanische Unternehmen, bei Produktkosten wie auch Qualität ähnlich hohe Standards ein, die Minimalvoraussetzung für jeden, der im Geschäft bleiben will.
Aber das allein taugt immer weniger dazu, sich einen Vorsprung vor anderen zu verschaffen. Langfristig muss es darum gehen, schneller und billiger als die Rivalen jene Kernkompetenzen aufzubauen, aus denen überraschende Produkte resultieren. Die wahren Quellen eines strategischen Vorteils liegen also in der Fähigkeit des Managements, Technologien und Produktionsfertigkeiten konzernweit zu Kompetenzen zu bündeln; erst so werden die Geschäftseinheiten stark genug, um auf die sich bietenden Möglichkeiten schnell zu reagieren.
Westliche Führungskräfte müssen das Umdenken lernen, auch wenn sie die Autonomie der Geschäftseinheiten lieber nicht antasten oder eher dem Druck der Quartalsergebnisse gehorchen möchten. Denn viele Unternehmen im Westen haben nicht deshalb Probleme, weil ihre Manager unfähiger wären als ihre Kollegen in Fernost – und an geringeren technischen Kapazitäten liegt es auch nicht. Die Krux ist ein falsches Unternehmenskonzept, das ohne Not die einzelnen Geschäftseinheiten daran hindert, ihr großes Reservoir technischer Fähigkeiten voll auszuschöpfen.
Das richtige Konzept versteht einen diversifizierten Konzern als großen Baum. Der Stamm und die dicken Äste stellen die Kernprodukte dar, die dünneren Zweige sind Geschäftseinheiten, die Blätter, Blüten und Früchte die Endprodukte. Das Wurzelgeflecht, das den Baum nährt und hält, ist die Kernkompetenz. Wer nur auf die Endprodukte sieht, kann die Stärke eines Konkurrenten nicht einschätzen – sowenig wie einer die Gesundheit eines Baums richtig beurteilt, der nur seine Blätter betrachtet (siehe Kasten "Kompetenzen – die Wurzeln der Wettbewerbsfähigkeit").
Schlüsselkompetenzen entstehen aus kollektiven Lernprozessen, etwa wie man ungleiche Produktionsfertigkeiten koordiniert und Technologieströme zusammenführt. Ein Beispiel ist das Geschick von Sony, die Philips-Erfahrungen mit optischen Speichermedien in miniaturisierte Geräte umzusetzen. Das theoretische Wissen, wie man ein komplettes Radio auf einem einzigen Chip unterbringt, verschafft einem Unternehmen allein nicht die Fähigkeit, ein Miniaturradio in Kreditkartengröße zu bauen.
Kernkompetenzen haben mit der Harmonisierung von Technologien zu tun, aber auch mit Arbeitsorganisation und der Lieferung von Nutzwert. Zu Sonys wichtigen Kompetenzen zählt Miniaturisierung. Um seine Produkte zu verkleinern, musste das Unternehmen dafür sorgen, dass alle Wissenschaftler, Techniker und Marketingleute die Kundenbedürfnisse und technischen Möglichkeiten einheitlich verstehen; nur dann wird die Kraft von Kernkompetenz im Service ebenso wie in der Fertigung als entscheidend empfunden. Citicorp war anderen Finanzdienstleistern weit voraus, als man ein EDV-System einsetzte, das Präsenz an den Weltbörsen rund um die Uhr ermöglichte.
Kernkompetenz bedeutet Kommunikation, Engagement und die weitreichende Verpflichtung, über alle organisatorischen Grenzen hinweg tätig zu werden; sie schließt Mitarbeiter aller Bereiche und vieler Ebenen ein. Was nützt es, wenn bei Lasern oder Keramikkomponenten in den eigenen Labors Spitzenforschung betrieben wird, die ohne jegliche Auswirkung auf das Geschäft bleibt? Die Fertigkeiten, aus denen eine gemeinsame Kernkompetenz hervortritt, müssen bei Individuen gedeihen, die in ihrer Arbeit auch andere Bereiche im Blick behalten. Andernfalls übersehen sie die Chancen, die sich aus dem Zusammenführen eigener Erfahrungen mit denen der anderen ergeben.
Kernkompetenz nutzt sich im Gebrauch nicht ab. Anders als materielle Güter, die mit der Zeit vergehen, reichern sich Kompetenzen sogar an, wenn sie eingesetzt und mit anderen geteilt werden. Aber sie müssen ständig genährt und beschützt werden – Wissen verflüchtigt sich, wenn es nicht genutzt wird. Kompetenzen sind der Leim, der bereits existierende Geschäftseinheiten verbindet. Und sie sind der Motor für die Entwicklung neuer Aktivitäten. Diversifikationspläne und Markteinstiege sollten sich an ihnen orientieren statt an der Attraktivität eines Absatzmarktes.
Ein Management, das sich vom Konzept der strategischen Geschäftseinheiten (SGE) nicht lösen kann, muss fast unausweichlich zusehen, wie die SGE in ihrem Streben nach dem eigenen Vorteil mehr und mehr von externen Anbietern wichtiger Komponenten abhängig werden, Motoren etwa oder Kompressoren. Aber solche Aggregate sind nicht nur Komponenten, sondern auch Kernprodukte, die zur Wettbewerbsfähigkeit vieler Endprodukte beitragen.
Die im Rennen um den Aufbau von Kompetenzen erfolgreichen Unternehmen haben mit der Vorstellung gebrochen, sich als einen Verbund von Betrieben zu sehen, die Produkte herstellen. Die Topmanager von Canon, Honda, Casio oder NEC scheinen über Portfolios von Geschäftseinheiten zu thronen, die – nach Kriterien wie Kundenkreise, Vertriebskanäle oder Vermarktungsstrategien beurteilt – nichts miteinander zu tun haben.
In der Tat handelt es sich da um Mischungen, die zuweilen völlig widersinnig wirken: NEC etwa ist die einzige Weltfirma, die zu den führenden Unternehmen bei Computern, Telekommunikation und Halbleitern zählt und daneben ein stürmisch wachsendes Geschäft mit Unterhaltungselektronik macht.
Aber man lasse sich nicht täuschen. Bei NEC ist die Digitaltechnik – insbesondere die Miniaturisierung von Schaltkreisen auf Chips und die Fähigkeit zur Systemintegration – von fundamentaler Bedeutung. Über die zugrunde liegenden Kernkompetenzen werden unterschiedliche Geschäftsfelder miteinander verknüpfbar. Hondas Kernkompetenz bei Motoren und in der Antriebstechnik verschafft dem Unternehmen Vorteile im Geschäft mit Autos, Motorrädern, Rasenmähern und Generatoren. Die Kernkompetenzen von Canon bei Optik, Bildverarbeitung und Steuerungen mit Mikroprozessoren haben der Firma so unterschiedliche Märkte wie Kopierer, Laserdrucker, Kameras und Bildscanner erschlossen, wo sie inzwischen sogar führend ist. Philips arbeitete mehr als 15 Jahre an der Perfektionierung seiner Kompetenz für optische Speichermedien (Laserplatte), zur gleichen Zeit baute sich JVC eine führende Position bei Videorekordern auf.
Weitere Beispiele für Kernkompetenzen dürften hier die Verknüpfung von Mechanik und Elektronik, Bildschirme, Biotechnik und Mikroelektronik sein. In einem frühen Stadium des Kompetenzaufbaus hatte Philips noch keinen Überblick über all die Produkte, die sich aus seiner Kompetenz für die optische Speicherung ableiten lassen. Und JVC war ebenso wenig imstande, den Zug zu den miniaturisierten Camcordern vorherzusehen, als es die Videotechnik auslotete.
Anders als die Schlacht um globale Markenführerschaft, von der die Medien berichten und bei der es um die Eroberung von "Erinnerungsanteilen" geht, verläuft die Schlacht um erstklassige Kompetenzen unsichtbar – nur aufmerksame Beobachter bekommen davon etwas mit. Topmanager beobachten oft mit Argusaugen die Kosten und die Qualität von Konkurrenzprodukten, aber wie viele versuchen das Geflecht von Kooperationen zu entwirren, das die japanischen Wettbewerber geknüpft haben, um billig an Kompetenzen heranzukommen? Auf wie vielen Vorstandsetagen im Westen gibt es ein gemeinsames Verständnis von den Kompetenzen, die das Unternehmen aufbauen sollte, um zu Weltgeltung zu gelangen? Und wie viele Führungskräfte diskutieren wirklich den entscheidenden Unterschied zwischen Wettbewerbsstrategien auf der Ebene von Geschäftseinheiten und auch auf der des Gesamtkonzerns?
Lassen Sie uns eins klarstellen: Eine Kernkompetenz hegen und pflegen heißt nicht, die Konkurrenz beim finanziellen Einsatz für Forschung und Entwicklung auszustechen. Als Canon im weltweiten Geschäft mit Bürokopierern Xerox 1983 überholte, machte sein Budget für Forschung und Entwicklung im Bereich Reprografie (Verfahren zur lichttechnischen Reproduktion von Vorlagen, beispielsweise Scannen und Kopieren – Anm. d. Red.) nur einen Bruchteil der entsprechenden Xerox-Aufwendungen aus. Und in den vergangenen 20 Jahren hat NEC (in Prozent vom Umsatz) weitaus weniger für Forschung und Entwicklung ausgegeben als die meisten amerikanischen und europäischen Rivalen. Auch mit geteilten Kosten – zwei oder mehr Betriebe betreiben ein gemeinsames Labor – hat das Streben nach Kernkompetenz nicht direkt zu tun.
Kernkompetenzen aufzubauen ist etwas weit Ehrgeizigeres und verschieden von Bemühungen zur vertikalen Integration. Manager vor "Make-or-Buy"-Entscheidungen setzen üblicherweise bei Endprodukten an und halten dabei Ausschau nach Rentabilitätsvorteilen – die Lieferkette zurück oder die Vertriebskanäle hinab bis zum Kunden. Aber sie machen keine Bestandsaufnahme der vorhandenen Fähigkeiten und bemühen sich nicht, diese auf ungewohnte Weise anzuwenden. (Allerdings steckt in Entscheidungen über Kompetenzen ein Argument zugunsten vertikaler Integration. Doch im Kopierergeschäft besitzt Canon keine sonderliche Fertigungstiefe – abgesehen von den Gliedern der vertikalen Kette, die Kompetenzen absichern und als ausschlaggebend angesehen werden.)
Ob ein Unternehmen über Kernkompetenzen verfügt, lässt sich anhand von wenigstens drei Kriterien prüfen: Erstens öffnet eine Kernkompetenz potenziell den Zugang zu einem weiten Spektrum von Märkten. Kompetenz bei Displaysystemen zum Beispiel ermöglicht einem Unternehmen das Angebot so unterschiedlicher Produkte wie Taschenrechner, Minifernseher, Laptop-Bildschirme oder Autoinstrumente. Casios Einstieg in den Markt für Pocket-TVs war daher vorhersehbar. Zweitens muss eine Kernkompetenz zu den von Kunden wahrgenommenen Vorzügen des Endprodukts erheblich beitragen. Hondas Erfahrung mit Motoren erfüllt diese Anforderung gewiss.
Drittens darf eine Kernkompetenz nur schwer zu imitieren sein. Und sie ist kaum nachzuahmen, wenn sie aus einer sehr komplizierten Abstimmung zwischen verschiedenartigen Technologien und Produktionsfertigkeiten hervorgegangen ist. Da mag ein Rivale ruhig einige Technologien, die sich in einer Kernkompetenz wiederfinden, beherrschen; es dürfte ihm kaum gelingen, die mehr oder weniger umfassenden Muster internen Abstimmens und Lernens nachzuvollziehen. Die Entscheidung von JVC in den frühen 60er Jahren, Videokompetenz zu entwickeln, erfüllte alle drei vorgenannten Kriterien; bei der RCA-Entscheidung für ein schallplattenähnliches Videosystem mit Abtastnadel Ende der 70er Jahre war das nicht der Fall.
Nur wenigen Unternehmen gelingt es, weltweit in mehr als fünf oder sechs grundlegenden Kompetenzen führend zu sein. Wer auf eine Liste von 20 oder 30 verschiedenen Fähigkeiten kommt, hat damit vermutlich noch keine Kernkompetenzen bestimmt. Dennoch kann es eine nützliche Übung sein, eine solche Liste anzulegen und verschiedene Fähigkeiten zu Bausteinen zusammenzufassen. Anregend ist das auch für die Suche nach Lizenz- und Kooperationspartnern, mit deren Hilfe sich – zu moderaten Kosten – fehlende Teilbereiche abdecken lassen. Zudem führt das weg von der riskanten Gewohnheit, Konkurrenten in erster Linie nach den Preis-Leistungs-Kategorien bei den Endprodukten zu beurteilen.
Die meisten westlichen Unternehmen gehen heute jedoch so vor. Dem Aufweichen ihrer Kernkompetenzen bereiten sie damit geradezu den Weg. Aber vorhandene Fertigkeiten – Grundlage der nächsten Generation wettbewerbsfähiger Produkte – lassen sich nicht mithilfe von Originalausrüsterverträgen oder durch Fremdbezug "anmieten". Wir glauben, allzu viele Unternehmen haben unbewusst Kernkompetenzen aufgegeben, als sie Aufträge an Zulieferer vergaben und die Mittel für Bereiche kürzten, die fälschlicherweise als reine Kostenstellen galten.
Zum Beispiel Chrysler. Anders als Honda meinte dieser Autoproduzent, Antriebsaggregate seien doch bloß Bauteile wie viele andere in einem Auto. Nun gerät der Konzern in eine immer größere Abhängigkeit von Mitsubishi und Hyundai: Zwischen 1985 und 1987 stieg die Zahl der fremdbezogenen Motoren in den Chrysler-Modellen von 252.000 auf 382.000. Unmöglich sich vorzustellen, dass Honda die Verantwortung für die Produktion oder gar die Konstruktion eines so wichtigen Autoteils einem anderen Unternehmen überträgt. Gerade um die eigene Kompetenz zu stärken engagiert sich Honda mächtig in der Formel l und kann so alle motorrelevanten Technologien bündeln. Und dabei ist Hondas Budget für Forschung und Entwicklung kleiner als das von General Motors oder Toyota.
Natürlich versäumt es selbst ein Unternehmen mit einer wettbewerbserprobten Produktlinie manchmal, seine Kernkompetenzen auszubauen, zumindest für einige Zeit. Wollte eine Firma heute noch ins Kopierergeschäft einsteigen, wäre rund ein Dutzend japanischer Erstausrüster (OEM) bereit, ihm die Kopierer mit entsprechendem Etikett zu liefern. Aber die Basistechnologie könnte sich ändern oder der OEM-Lieferant entschließt sich, seine Produkte selbst zu vermarkten und wird so zum Konkurrenten. Die Produktlinie Kopierer mit allen Investitionen, die in Marketing und Vertrieb geflossen sind, wäre dann äußerst gefährdet. Zulieferungen können durchaus sparen helfen, indem dadurch ein konkurrenzfähigeres Produkt gefördert wird. Doch im Normalfall trägt diese Strategie nur wenig dazu bei, die Tüchtigkeit der eigenen Mitarbeiter zu erhöhen, die zur Erhaltung von Marktführerschaft eigentlich benötigt würden.
Noch so klug eingefädelte Allianzen oder Zulieferungsstrategien schlagen fehl, wenn nicht von vornherein die Wahl getroffen wird, auf welchem Feld Kompetenzführerschaft aufgebaut werden soll. Die Japaner profitierten von ihren Kooperationen, weil sie wussten, was sie dazuzulernen hatten – ihre westlichen Partner aber hatten keine Vorstellung davon, welche ihrer Kernkompetenzen sie abschirmen mussten. Ohnehin erfordert Lernen durch Kooperationen einen vernünftigen Einsatz der Mittel, seien das Reisen, Teams engagierter Leute, Testeinrichtungen, Zeit zum Überdenken und Prüfen des Gelernten (siehe "Mit Marktrivalen zusammenarbeiten und gewinnen", HBM 3/1989). Kein Unternehmen braucht diese Anstrengungen auf sich zu nehmen, wenn es nicht deutlich weiß, auf welche Kompetenzen es zielt.
In die Niederlage führt auch ein anderer Weg. In den 70er und 80er Jahren hielten eine Reihe amerikanischer und europäischer Konzerne – darunter GE, Motorola, GTE, Thorn und GEC – das Geschäft mit Farbfernsehern für ausgereizt. Also gaben sie ihre TV-Aktivitäten auf, ohne zu bemerken, dass sie damit auch ihren Kompetenzen in der Videotechnik schadeten. Zudem sind Möglichkeiten zur Produktverbesserung selten völlig ausgeschöpft, wie die Entwicklung zum hochauflösenden Fernsehen (HDTV) heute beweist, einem Geschäft, das bis 1995 in den USA allein auf jährlich 20 Milliarden Dollar geschätzt wird. Es ist schon ein Witz, wenn nun die US-Regierung ein gewaltiges Forschungsprogramm finanzieren soll – letztlich, um das Versäumnis der Industrie auszubügeln, vorhandene Kernkompetenzen zu einem Zeitpunkt auszubauen, als sie dazu noch in der Lage war.
Demgegenüber lässt sich ein Unternehmen wie Sony dabei beobachten, wie es sein Engagement bei Videorekordern (wo es nicht sehr erfolgreich ist und zusehends von koreanischen Firmen attackiert wird) zurücknimmt, ohne sein Videoengagement zu kappen. Das Betamax-System endete zwar in einem Debakel. Aber aus dieser Pleite ging Sony mit völlig unbeschädigten Videokompetenzen hervor und fordert nunmehr Matsushita im Acht-Millimeter-Camcorder-Sektor heraus.
Zwei Lektionen ergeben sich daraus. Erstens sind die Kosten des Verlusts einer Kernkompetenz nur zum Teil im Voraus bestimmbar, bei Desinvestitionsentscheidungen wird daher manchmal das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Zweitens werden Kernkompetenzen stets in einem Prozess permanenter Verbesserungen und Anreicherungen aufgebaut, der sich über eine Dekade oder sogar mehr erstreckt; deshalb fällt es einer Firma schwer, einen neu entstehenden Markt zu betreten, wenn sie ihre Chance verpasst hat – es sei denn, sie ist zufrieden damit, nur als Weiterverkäufer zu dienen.
Amerikanischen Halbleiterherstellern wie Motorola ging das so, als sie entschieden, bei dynamischen Speicherchips (DRAM) auf eine direkte Beteiligung an der Generation der 256K-Chips zu verzichten. Nachdem Motorola diese Entwicklungsrunde ausgelassen hatte, war – wie bei den meisten US-Rivalen – eine kräftige Technologieinfusion durch japanische Partner fällig, um beim Rennen um den Ein-MB-Chip wieder mitmischen zu können. Wenn es um Kernkompetenzen geht, kann man nicht mal eben vom fahrenden Zug springen, per Fuß zum nächsten Bahnhof marschieren und dort wieder einsteigen.
Das Verbindungsstück zwischen Kernkompetenzen und Endprodukten nennen wir Kernprodukte, die realen Verkörperungen einer oder mehrerer Kernkompetenzen. Die Motoren von Honda sind solche Kernprodukte, eine Achse zwischen Konstruktions- und Entwicklungsfähigkeiten, die schließlich zu einer Kette von Endprodukten führen. Kernprodukte sind Komponenten oder Baugruppen, die einen merklichen Wertbeitrag zu den Endprodukten leisten. Das Denken in der Kategorie Kernprodukte zwingt ein Unternehmen dazu, genau zwischen seinem Marktanteil bei Endprodukten (zum Beispiel 40 Prozent vom Kühlschrankmarkt in den USA) und seinem Fertigungsanteil bei einem Kernprodukt (zum Beispiel 5 Prozent von der Weltproduktion an Kompressoren) zu unterscheiden.
Canon steht in dem Ruf, 84 Prozent aller "Maschinen" für die Tischlaserdrucker herzustellen, obwohl sein eigener Marktanteil an dem Endprodukt winzig ist. Matsushita hat einen Weltproduktionsanteil von rund 45 Prozent bei Schlüsselkomponenten für Videorekorder; das übersteigt seinen Marktanteil von 20 Prozent (mit Panasonic, JVC und anderen Marken) erheblich. Zudem besitzt Matsushita einen beherrschenden Fertigungsanteil beim Kernprodukt Kompressoren – weltweit schätzungsweise 40 Prozent –, obwohl sein Marktanteil bei Kühlschränken wie auch bei Klimaanlagen kaum zählt.
Also sollte zwischen Kernkompetenzen, Kernprodukten und Endprodukten unbedingt unterschieden werden, denn der globale Wettbewerb findet auf jeder dieser Ebenen statt – nach unterschiedlichen Regeln und unter abweichenden Zielsetzungen. Wenn sich ein Unternehmen an die Spitze setzen oder sie über lange Jahre hinweg verteidigen will, muss es wahrscheinlich auf allen Feldern vorn sein. Bei Kernkompetenzen muss es bestrebt sein, die Weltführung in Konstruktion und Entwicklung einer bestimmten Klasse von Produktfunktionen zu erringen – sei das die Massenspeicherung von Daten (Philips mit seiner Kompetenz für optische Speichermedien) oder Kompaktheit und leichte Bedienung (Sony mit seinen Mikromotoren und Mikroprozessoren zur Steuerung von Elektrogeräten).
Um ihre Führung in den gewählten Kompetenzfeldern zu behalten, suchen diese Unternehmen ihren Anteil an der Weltfertigung von Kernprodukten zu maximieren. Das Herstellen von Kernprodukten für eine große Vielfalt externer (und interner) Kunden bringt im Gegenzug jene Erträge und Marktanteile, die – zumindest teilweise – das Tempo bestimmen, in dem die Kernkompetenzen ausgeweitet werden können. Diese Einsicht stand Mitte der 70er Jahre auch hinter der JVC-Entscheidung, als Videozulieferer Kooperationen mit Konzernen der Unterhaltungselektronik in Europa und den USA einzugehen. Als Partner von Thomson, Thorn und Telefunken (damals noch selbstständige Unternehmen) sowie US- Partnern waren die Japaner in der Lage, genügend Geld und unterschiedliche Markterfahrungen zu sammeln, um zum Ende Philips und Sony abzuhängen. (Philips entwickelte seine Videokompetenz gleichzeitig mit JVC, versäumte aber, ein weltweites Netzwerk von OEM-Beziehungen zu knüpfen, was die Verbesserung der Videokompetenz durch den Absatz von Kernprodukten beschleunigt hätte.)
Den JVC-Erfolg konnten auch koreanische Konzerne wie Goldstar, Samsung, Kia oder Daewoo nicht gefährden, die ihrerseits die Führung bei solchen Kernprodukten wie Bildschirmen, Halbleitern und Automotoren durch OEM-Lieferverträge mit westlichen Unternehmen anstreben. Ihr erklärtes Ziel ist, potenziellen Konkurrenten die Investitionsinitiative zu nehmen. Dadurch bauen sie schneller selbst Kompetenzen auf und "unterminieren" gleichzeitig die Konkurrenz.
Die Kontrolle über Kernprodukte ist auch aus anderen Gründen entscheidend. Hier zu führen erlaubt einem Unternehmen, die Entwicklung von Anwendungen und von Endverbrauchsmärkten mitzugestalten. Kernprodukte im Audio-Platten-Sektor (Laufwerke und Laser) haben Sony und Philips geholfen, mit ihren optischen Massenspeichern das Computerperipherie-Geschäft zu beeinflussen. Vervielfacht eine Firma die Anwendungsfelder seiner Kernprodukte, so kann sie fortlaufend die Kosten, Zeiten und Risiken bei der Entwicklung neuer Produkte reduzieren. Kurzum: Zielgerichtete Kernprodukte verbilligen sich nicht nur mit zunehmender Massenfertigung, sondern auch mit der Produktausweitung.
Die neuen Regeln des Wettbewerbs lassen sich nicht begreifen, wenn man auf analytische Werkzeuge zurückgreift, die vor 20 Jahren für das Management diversifizierter Konzerne entwickelt wurden. Damals wurde überwiegend auf heimischem Terrain gespielt: Es hieß General Electric gegen Westinghouse oder General Motors gegen Ford. Die Schlüsselspieler sprachen die gleiche Sprache der gleichen Business Schools und Unternehmensberatungen. Aber überalterte Medikamente wirken unter Umständen toxisch, und so wird die Notwendigkeit neuer Führungsmethoden am ehesten sichtbar bei den Konzernen, die ausschließlich nach dem Prinzip der strategischen Geschäftseinheit organisiert sind (siehe Kasten "Zwei Unternehmenskonzepte").
Unzweifelhaft verfügen diversifizierte Konzerne über ein Portfolio von Produkten respektive Geschäftsbereichen. Wir glauben indes, dass man ein Unternehmen besser als ein Portfolio von Kompetenzen sehen sollte. Die technischen Mittel zum Auf- und Ausbau von Kompetenzen sind vielfach vorhanden, Mangel herrscht an anderem: einer Vision des Topmanagements und den erforderlichen administrativen Maßnahmen, um sämtliche Ressourcen aus der Vielzahl der Geschäftsfelder zu bündeln.
Wir haben die drei Felder beschrieben, auf denen der Kampf um die Weltmarktführerschaft ausgefochten wird: Kernkompetenzen, Kernprodukte und Endprodukte. Aber man sollte wissen, auf welcher dieser Ebenen sich Erfolg oder Misserfolg zeigt. Am Mitteleinsatz gemessen mag ein Unternehmen die Konkurrenz mit traumhaften Technologien schlagen können – es kann aber beim Wettlauf um das Erringen von Kernkompetenzen verlieren. Wenn es aber das Rennen gewinnt – was etwas anderes bedeutet, als die Führung bei einigen Technologien zu übernehmen –, wird es wohl die Rivalen auch beim Ausbau des neuen Geschäfts hinter sich lassen, indem es Produkteigenschaften und Preis-Leistungs-Verhältnisse rascher und nachhaltiger verbessert.
Wer bei den Schlachten um Produktmärkte zu den Gewinnern oder den Verlierern gehört, ist heute schwieriger als früher auszumachen. Der Maßstab Marktanteil reflektiert nicht notwendigerweise auch die Wettbewerbsfähigkeit. Aber zweifellos dürften sich Konzerne, denen mehr daran liegt, ihren Marktanteil auszubauen, statt in Kernkompetenzen und Kernproduktführerschaft zu investieren, auf dünnem Eis bewegen. Im Wettlauf um globale Markenvorherrschaft haben Firmen wie 3M, Black & Decker, Canon, Honda, NEC oder Citicorp die Schirme ihrer Weltmarken rund um die Erde aufgespannt und erweitern darunter die Palette ihrer Produkte, ausgehend von ihren Kernkompetenzen. Einzelnen Geschäftseinheiten gestattet das, Image und Kundenloyalität zu steigern und Zugang zu diversen Vertriebswegen zu finden.
Wer über dieses neue Konzernverständnis nachdenkt, dem muss das Primat der SGE-Organisation – Dogma für eine ganze Managergeneration – deutlich als ein Anachronismus vorkommen. Wem allerdings die SGE zur Glaubenssache geworden ist, dem wird jeder Widerstand gegen die Verlockungen der Dezentralisierung ketzerisch erscheinen. Für viele Unternehmen bedeutet die SGE-Perspektive aller Dinge, dass die Topmanager nur einen einzigen Aspekt des globalen Wettbewerbs wahrnehmen: hier und heute konkurrenzfähige Produkte in die Regale zu schaffen. Die Folgen einer solch verzerrten Sicht?
Wenn der Konzern sich als eine Vielzahl von SGE begreift, wird sich keine von ihnen verantwortlich dafür fühlen, eine nennenswerte Position bei Kernprodukten zu behaupten, wird keine gewillt sein, für die notwendigen Investitionen zu kämpfen. Fehlt es an dieser Weitsicht – nur das Topmanagement kann sie erzwingen –, dann neigen SGE-Manager dazu, beim Mitteleinsatz, das sind die Kosten, zu knausern. Erst vor Kurzem haben etwa Kodak und Philips dieses Problem erkannt und suchen nun nach neuen organisatorischen Strukturen, die ihnen Entwicklung und Fertigung von Kernprodukten für interne und externe Kunden erlauben.
Entwickelt sich eine SGE gut, entstehen häufig einzigartige Kompetenzen. Oft werden Mitarbeiter, die dieses Können verkörpern, von der betreffenden Einheit als ihr alleiniges Besitztum betrachtet. Dem Manager einer anderen SGE, der sich diese Talente ausleihen wollte, würde wohl eine eiskalte Abfuhr zuteil. Vielfach werden kompetente Mitarbeiter sogar versteckt, damit sie erst gar nicht zu anderen aussichtsreichen Vorhaben herangezogen werden. Dergleichen Verhalten kommt aber eher dem der Einwohner unterentwickelter Länder nahe, die ihr Geld unter der Matratze verbergen. Der Nutzen, den ein Unternehmen aus Kompetenzen – wie Kapital – zieht, hängt nicht nur von der Angebotsmenge, sondern auch ihrer Umlaufgeschwindigkeit ab.
Seit jeher hatten westliche Unternehmen einen Vorsprung, was den Umfang der bei ihnen angesammelten Fähigkeiten betraf. Aber oft waren sie außerstande, diesen Vorrat rasch umzuschichten, wenn es um neue Chancen ging. Canon, NEC und Honda verfügten über weit weniger Leute und Technologien, um sie in Kernkompetenzen zusammenzuführen, konnten sie aber viel schneller von Betrieb zu Betrieb umschichten. Der konzernweite Aufwand für Forschung und Entwicklung ist bei Canon kein ausreichendes Indiz für den Vorrat an Kernkompetenzen und sagt nichts über das Tempo aus, mit dem Canon sie verlagern kann, um Chancen beim Schopfe zu packen.
Bleiben Kompetenzen eingesperrt, werden auch die Menschen, die sie verkörpern, nicht auf die faszinierendsten Möglichkeiten angesetzt; Fähigkeiten verkümmern. Einzig durch den vollen Einsatz ihrer Kernkompetenzen können kleine Unternehmen wie Canon mit Giganten wie Xerox konkurrieren. Seltsam genug, SGE-Manager, die bei den Etatverhandlungen hart um die Mittel aus der Konzernkasse feilschen, scheuen den Kampf um fähige Mitarbeiter, den wertvollsten Aktivposten eines Unternehmens; normalerweise verfügen sie nicht einmal über die Instrumente, um menschliche Fertigkeiten, leibhaftige Kernkompetenzen, gerecht zuzuteilen. Topmanager halten es oft nicht der Mühe wert, vier oder fünf Ebenen tiefer nachzuschauen, wer da genügend Kompetenzen besitzt, um ihn über die Abteilungs- oder Bereichsgrenzen hinweg zu befördern.
Wird der Wert von Kernkompetenzen nicht erkannt, dann verfolgen die einzelnen SGE nur die auf der Hand liegenden Innovationsmöglichkeiten – eine kleine Erweiterung der Produktlinie hier, ein bisschen räumliche Expansion da. Megachancen wie Faxgeräte, Mini-TV oder tragbare Keyboards zum Musizieren lassen sich nur wahrnehmen, wenn Manager ihre SGE-Scheuklappen ablegen.
Erinnern wir uns: Als Canon noch ausschließlich Fotoapparate herzustellen schien, bereitete sich das Unternehmen schon auf die Weltvorherrschaft bei Fotokopierern vor.
Die Zersplitterung von Kernkompetenzen passiert unweigerlich, wenn in einem diversifizierten Konzern Informationssysteme, Kommunikationsabläufe, Karrierepfade, Managervergütungen und der Prozess der Strategiefindung nicht die SGE-Grenzen überschreiten. Wir sind überzeugt davon, dass Führungskräfte einen Teil ihrer Zeit damit zubringen sollten, eine strategische Konzernstruktur zu entwickeln, die zum Ziel haben sollte, Kompetenzen aufzubauen. Eine solche Struktur stellt einen Bauplan für die Zukunft dar, der festschreibt, welche Kernkompetenzen es mithilfe welcher Technologien zu fördern gilt.
Wird sowohl für Impulse durch das Lernen aus Kooperationen als auch durch Rückbesinnung auf eigene Entwicklungserfolge gesorgt, dann kann eine strategische Architektur wie "C & C" von NEC die Aufwendungen zum Erlangen einer Weltspitzenstellung dramatisch senken. Doch wie soll ein Unternehmen Kooperationen klug nutzen, wenn es nicht klar sieht, welche Kernkompetenzen es aufbauen und vor einer ungewollten Weitergabe schützen möchte?
Das führt zu der Frage, wie eine solche strategische Architektur aussehen muss. Die Antwort dürfte wohl für jedes Unternehmen anders lauten. Hilfreich ist es, sich der oben bereits erwähnten Baummetapher zu erinnern: der Konzern, sich ausbreitend in Gestalt von Kern- und Endprodukten, aber letztlich verwurzelt in Kernkompetenzen.
Sollen sich die Wurzeln kräftigen, muss ein Unternehmen zunächst ein paar grundlegende Fragen beantworten: Wie lange können wir in dem Geschäft konkurrenzfähig bleiben, wenn wir die dazugehörige Kernkompetenz nicht im Griff haben? Wie wichtig ist diese für den vom Abnehmer wahrgenommenen Produktnutzen? Welche Chancen gehen uns verloren, wenn wir diese spezielle Kompetenz verlieren würden?
Die Architektur liefert außerdem vernünftige Argumente in puncto Produkt- und Marktdiversifikation. Ein SGE-Manager hätte zu fragen: Bringt uns die neue Marktchance dem Gesamtziel näher, bester Anbieter zu werden? Nutzen wir dabei unsere Kernkompetenz oder bereichern sie gar? Bei Vickers beurteilte man die Möglichkeiten zur Diversifizierung stets im Kontext damit, bestes Unternehmen in der Weltliga für Mess- und Regeltechnik sowie Antriebssysteme werden zu wollen.
Die strategische Struktur sollte die Prioritäten des Topmanagements bei seinen Mittelzuweisungen der gesamten Organisation transparent machen. Managern unterer Ebenen hilft sie, die dabei angewandte Logik zu verstehen und entsprechend zu konsistenten Entscheidungen zu kommen. Kurz gesagt: Sie liefert eine Definition des Gesamtunternehmens und seiner Märkte.
Nicht anders sind 3M, Vickers, NEC, Canon und Honda vorgegangen. Honda etwa wusste bereits, als es in den Automobilmarkt einstieg, wie es die Fertigkeiten ausnutzen wollte, die man zuvor beim Motorradbau erworben hatte – Kompetenz bei hochtourigen, rund laufenden, leichten Motoren. Zum Entwurf einer strategischen Architektur müssen alle Unternehmensteile zusammenwirken, indem Verkopplungen bei Technik und Fertigung quer über alle SGE-Schranken hinweg aufgespürt und jene hervorgehoben werden, die für einen klaren Wettbewerbsvorsprung sorgen könnten.
Aber erst die Konsistenz der Mittelzuweisungen und der Aufbau einer angemessenen internen Verwaltung hauchen einer solchen strategischen Architektur Leben ein. Daraus entwickeln sich Führungskultur, Teamgeist, die Fähigkeit zum Wandel, ein Denken in längeren Fristen sowie die Bereitschaft, Ressourcen zu teilen und unternehmenseigene Fertigkeiten abzuschirmen. Aus diesem Grund kann auch kein Konkurrent eine bestimmte Struktur mühelos oder von einem Tag zum anderen kopieren. Die strategische Architektur ist ein Mittel für die Kommunikation mit Kunden oder anderen Außenstehenden. Sie zeigt die grobe Richtung auf, ohne jeden einzelnen Schritt vorzugeben.
Wenn nun die Kernkompetenzen eines Unternehmens seine entscheidenden Ressourcen sind und wenn das Topmanagement sicherstellen muss, dass kompetente Mitarbeiter von einem bestimmten Geschäftszweig nicht wie Geiseln festgehalten werden, dann folgt daraus, dass jede SGE für Kernkompetenzen ebenso streiten sollte, wie sie das für Geldmittel tut. Dieser Punkt verdient es, ausführlicher behandelt zu werden.
Hat das Topmanagement (mit Unterstützung der Bereichs- und SGE-Leiter) übergreifende Kompetenzen aufgespürt, so muss es die einzelnen Geschäftseinheiten auffordern, die Projekte und die damit direkt befassten Mitarbeiter zu benennen. Die Konzernleitung sollte sich Stellen, Zahl und Qualität dieser Kompetenzträger genau ansehen. Den Mittelmanagern lassen sie auf diese Weise eine wichtige Botschaft zukommen: Kernkompetenzen sind Konzernressourcen, und die gedenkt das Konzernmanagement auch selbst zuzuteilen. Keine Einheit hat Besitzrechte an einzelnen Mitarbeitern und darf sich ihrer guten Dienste nur solange erfreuen, wie die Leitung belegen kann, dass sich die Investitionen in die Fertigkeiten dieser Leute bei ihren Projekten am besten auszahlen.
Diese Botschaft unterstreicht noch, wenn SGE-Manager bei den alljährlichen Budgetanforderungen nachweisen müssen, warum sie bestimmte Personen bei sich behalten, die die Kernkompetenzen des Unternehmens verkörpern. Elemente zu Canons Kernkompetenzen in der Feinoptik sind über alle Geschäftszweige verstreut, von Kameras über Kopierer und Halbleiter bis hin zu Maskenjustiergeräten für die Chipherstellung (siehe Kasten "Kernkompetenzen bei Canon"). Als Canon eine Chance für digitale Laserdrucker sah, ermächtigte es die Manager der zuständigen SGE, einen "Raubzug" durch die anderen strategischen Geschäftseinheiten zu unternehmen, um die notwendigen Talente zusammenzuholen. Und als die Division für reprografische Produkte daranging, mikroprozessorgesteuerte Kopierer zu entwickeln, wandte sie sich an den Bereich Fotografische Produkte, die die erste Kamera mit Mikroprozessor auf den Weltmarkt gebracht hatte.
Auch Vergütungssysteme, die nur auf die Ergebnisse bei bestimmten Produkten abstellen, oder Laufbahnmuster, die keinen Wechsel zwischen einzelnen Betrieben vorsehen, können Einstellungen hervorbringen, die der Konkurrenzfähigkeit des Unternehmens schaden. Bei NEC treffen sich die Divisionsmanager, um die für die nächste Produktgeneration benötigten Kompetenzen abzuklären. Gemeinsam entscheiden sie über die zu deren Entwicklung erforderlichen Investitionen – sowohl im Hinblick auf Ausrüstung als auch Personal in den einzelnen Geschäftsbereichen. Und das vollzieht sich in einem Geist gegenseitigen Gebens und Nehmens. Möglich, dass eine Division zu dem einen oder anderen Zukunftsschritt nur wenig beiträgt oder auch mal weniger profitiert als andere; insgesamt jedoch kommen solche zeitweiligen Ungleichgewichte langfristig zum Ausgleich.
Dazu gehört auch, den positiven Beitrag eines SGE-Managers – etwa eigene Mitarbeiter abzustellen für ein wichtiges Projekt – im ganzen Unternehmen bekannt werden zu lassen. Ohne Weiteres ist kaum jemand bereit, auf Schlüsseltalente zu verzichten, wenn davon nur eine fremde Einheit oder deren Kopf Vorteile hat – vielleicht kommt ja dieser andere sogar der eigenen Karriere in die Quere. Darum also müssen kooperative SGE-Manager als mannschaftsdienliche Mitspieler gebührend gefeiert werden. Wo die Konzernprioritäten eindeutig feststehen, wird dieses Vorgehen wahrscheinlich auch nicht als Unfug oder rein taktisches Manöver angesehen. Am besten ist es, solche Umbesetzungen, die dem Aufbau von Kernkompetenzen dienen, im kollektiven Wissen des Konzerns an prominenter Stelle festzuhalten.
Es gibt es noch eine weitere Möglichkeit, Schlüsselleuten den Gedanken auszutreiben, dass sie auf ewig einem einzigen Geschäftszweig angehören. Dazu sollen sie schon am Anfang ihrer Karriere erfahren, dass es die Regel ist, Mitarbeiter durch ausgetüftelte Rotationsprogramme quer durch das Unternehmen zu schleusen. (Bei Canon wechseln wichtige Mitarbeiter regelmäßig zwischen den Bereichen Kameras, Kopierer und optische Ausrüstungen.) Im Laufe der Karriere sollte von Zeit zu Zeit die Abstellung zu spartenübergreifenden Projektteams erfolgen. Das fördert die Verbreitung von Kernkompetenzen und verhindert allzu enge Bindungen des Einzelnen an einen bestimmten Bereich.
Die Träger besonders wichtiger Kompetenzen sollten außerdem wissen, dass ihr Weg von den Personalprofis des Konzerns beobachtet und gefördert wird. So bat etwa Canon zu Beginn der 80er Jahre alle Ingenieure unter 30 Jahren, sich für einen siebenköpfigen Ausschuss zu bewerben, der zwei Jahre lang die künftige Ausrichtung des Konzerns und seine strategische Architektur skizzieren sollte.
Kompetenzträger aus dem gesamten Unternehmen sollten zudem regelmäßig zusammengebracht werden, damit sie Ideen und Kritik austauschen. Eine Ziel kann dabei auch sein, ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl zu entwickeln – jedoch mit Blick auf das Gebiet ihrer Kernkompetenz und nicht in Bezug auf bestimmte Geschäftszweige. Viele Reisen, häufige Kundengespräche und wiederholte Treffen mit Kollegen befähigen gerade Kompetenzträger dazu, neue Marktchancen aufzuspüren.
Kernkompetenzen sind die Quelle neuer geschäftlicher Entwicklungen. Auf sie muss die Strategie auf Konzernebene ausgerichtet werden. Manager müssen die Spitzenposition in der Fertigung von Kernprodukten erobern. Sie müssen den globalen Marktanteil durch Programme vergrößern, mit denen sie starke Marken aufbauen. Ziel dabei ist es, neue Anwendungen zu ermöglichen. Nur wenn ein Unternehmen sich als eine Hierarchie von Kernkompetenzen, Kernprodukten und marktorientierten Geschäftseinheiten begreift, ist es für den globalen Wettbewerb ausreichend gerüstet.
Topmanager dürfen deshalb nicht eine Art Oberbuchhalter sein, die eine konsolidierte Bilanz abliefern – bei radikaler Dezentralisierung sind sie das häufig. Sie müssen einen eigenen Wertbeitrag leisten, indem sie die strategische Struktur formulieren, mit der der Prozess des Kompetenzerwerbs gesteuert werden soll. Wir glauben, dass die globalen Gewinner der 90er Jahre sich anhand der Besessenheit bestimmen lassen, mit der sie Kompetenz aufzubauen suchen. Da das Jahrzehnt schon begonnen hat, ist die Zeit überreif, die Konzernkonzeptionen zu überdenken. 
© HBP 2019
Autoren
C. K. Prahalad war Professor für Unternehmensstrategie an der Ross Business School der University of Michigan in Ann Arbor und einer der bedeutendsten Managementvordenker unserer Zeit. Er verstarb am 16. April 2010. Gary Hamel ist Gastprofessor für Strategie und Entrepreneurship an der London Business School und Unternehmensberater. Zu seinen bekanntesten Büchern gehören "Competing for the Future", "Das Ende des Managements" und "Worauf es jetzt ankommt".
