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Perspektiven für Europas Zukunft

Die schöpferischen Energien sind für den Philosophen Peter Sloterdijk der Schlüssel, um Europas Zukunft zu gestalten und den Kontinent wieder zu einer aktiven gestaltenden Kraft zu machen.

Was ist Europa? Darüber sind viele Bonmots im Umlauf: Man wisse nicht, unter welcher Nummer es erreicht werden kann. Dies wird dem einstigen US-Außenminister Henry Kissinger zugeschrieben – allerdings konnte er sich nicht daran erinnern, so etwas gesagt zu haben. In seinem Buch "Der Kontinent ohne Eigenschaften" stimmt der Philosoph Peter Sloterdijk im Vorwort seine Leser mit einem Zitat aus Goethes Faust II ein:

Phorkyas:

„Habt ihr Geduld, des Vortrags langgedehnten Zug

Still anzuhören? Mancherlei Geschichten sind’s.“

Chor:

„Geduld genug! Zuhörend leben wir indes.“

Europas Erbe

Die gedankliche Reise durch Europas Geschichte, Selbstverständnis und ungewisse Zukunft ist geprägt durch scharfe Analysen, literarische Verweise und historische Geschichten. Der Untertitel "Lesezeichen im Buch Europa" verweist darauf, dass Sloterdijk die Geschichte Europas wie ein Buch liest - allerdings greift er einzelne Bücher aus der europäischen Geistesgeschichte heraus, in die er seine "Lesezeichen" als Interpretationsvorschläge einlegt. Auch knüpft er an seinen Essay "Falls Europa erwacht" (1994) an. Hier beschrieb er den europäischen Raum als eine Theaterbühne, auf der wiederholt das Stück der Reinszenierung des Römischen Reiches gegeben wird: Rom ging niemals zugrunde, sondern wurde immer wieder als Imperium neu aufgeführt. Das Drama: Europa ist zu klein für mehrere Imperien, die nebeneinander existieren. Das Ergebnis: Kriege rivalisierender Mächte, Imperialismus und Kolonialismus. Inzwischen sind die USA zur Bühne der Re-Inszenierung geworden (Washington als Wiederaufführung des alten Roms mit dem Kapitol als Zentrum).

In der Einführung zu seinen hier abgedruckten Vorlesungen, die Sloterdijk im Frühjahr 2024 am Collège de France gehalten hat, stellt er die Frage: "Was ist Europa anderes als ein Klub aus Nachfolgern gedemütigter Imperien?" Am Beginn steht die These, dass Europa ohne die Geschichte des Römischen Imperiums nicht zu verstehen sei. Dieses Imperium sei im Kern nicht untergegangen, sondern habe lediglich einen „Gestaltwandel“ erfahren. Um Europa zu verstehen, müssen die Metamorphosen dieses Gebildes nachvollzogen werden, das immer zwischen Einheit und Vielfalt, zwischen Dominanz und Rückzug balanciert hat: Jahrhundertelang versuchten die europäischen Nationalstaaten, das Einzugsgebiet ihrer Befehlsmacht nach dem Vorbild der alten Römer zu erweitern. Damit verbunden war ein Hang zur Überdehnung: Nach 1945 wurde die europäische Kommandozentrale in die USA ausgelagert, wo die Architektur des Capitols die Erinnerungen an das antike Rom wachhält. Europa selbst hat sich "von der Weltgeschichte in die Niemandsposition zurückgezogen". Heute hat sich Europa von imperialen Machtansprüchen - aber auch von der Weltpolitik - verabschiedet. Die EU sei nichts anderes als ein Klub aus gedemütigten Imperien von einst, ein „monströser Großkörper“ ohne imperiale Haltung. Europa erinnert heute an ein „Museum“ - ein Ort, an dem die Errungenschaften und Konflikte der Vergangenheit betrachtet werden können, ohne dass sie in direktem Kontakt zur Gegenwart stehen. Sloterdijk kritisiert die überbordende Bürokratie, den Verlust eines positiven Bezuges auf Stärken, Leistungen und Traditionen. Allerdings bietet die museale Position Europa auch die Möglichkeit, seine Werte und Traditionen zu bewahren. Damit verbunden ist jedoch auch die Gefahr einer Lähmung, in der der Kontinent sich aus der globalen Machtordnung zurückzieht, während andere Akteure (z.B. autoritäre Staaten) an Einfluss gewinnen. Große

Sloterdijks Kritik: Imperiale Autokraten bemächtigten sich gewaltsam der Welt, währenddessen die Europäer der Lust an der moralischen Selbstkritik frönten.

Ressentiments, die von Nostalgien, Schuldzuweisungen und nationalistischen Tendenzen geprägt sind, blockieren oft den Fortschritt. Hinzu kommen weitere Herausforderungen wie Klimakrise, geopolitische Spannungen, der Ukrainekrieg, die Wiederwahl Trumps und soziale Ungerechtigkeiten. Dennoch warnt Sloterdijk davor, in Krisenzeiten nicht die Hoffnung zu verlieren. In seinem Buch belässt er es nicht bei diesem negativen Befund, sondern erinnert auch an die schöpferischen Energien, universellen Werte und zivilisatorischen Errungenschaften, die Europa hervorgebracht hat:

  • Bildung als europäisches Prinzip (Urvater des Bildungsprinzips ist Amos Comenius, der im 17. Jahrhundert den Grundsatz formulierte: "Die ganze Welt ist eine Schule", in der alle Menschen als Lernende und Lehrende vereinigt sind.)

  • kulturelle, wissenschaftliche und gesellschaftliche Innovationen

  • Formen des Regionalismus, die auf Kooperation und gegenseitigem Respekt basieren

  • Religionsfreiheit (auch verstanden als Freiheit für die Religion)

  • Selbstkritik (Fähigkeit zur Reflexion und Hinterfragung)

  • die kulturelle Technik der autobiografischen Reflexion (Form der Selbstbesinnung).

Diese schöpferischen Energien sind für ihn der Schlüssel, um Europas Zukunft zu gestalten und den Kontinent wieder zu einer aktiven gestaltenden Kraft zu machen.

Ein wichtiger Aspekt in Sloterdijks Ausführungen ist die Unterscheidung zwischen zwei Arten von Freiheit: die Freiheit, „banal zu bleiben“, und die Freiheit, sich durch Training und Übung weiterzuentwickeln und über sich selbst hinauszugehen. Wahre Freiheit besteht für ihn auch in der Fähigkeit, sich selbst herauszufordern und zu wachsen. In seinem Buch „Du musst dein Leben ändern“ schreibt er er, dass Menschen, die sich einem Trainingsziel verschreiben, wie Musiker oder Sportler, Tausende von Stunden üben müssen, um Meisterschaft zu erlangen. Diese Idee des Trainings und der Übung ist auch in den ursprünglichen christlichen Traditionen zu finden. Darauf verweist er auch in seiner „Kritik der zynischen Vernunft“, wo er an die Erscheinung Jesu erinnert, der einem olympischen Athleten ähnelt. Dazu das berühmte Zitat des Apostels Paulus aus dem 1. Korintherbrief (9, 24-27) : „Ihr wisst doch, dass an einem Wettlauf viele Läufer teilnehmen; aber nur einer bekommt den Preis. Darum lauft so, dass ihr den Preis gewinnt. Jeder, der an einem Wettlauf teilnehmen will, nimmt harte Einschränkungen auf sich. Er tut es für einen Siegeskranz, der verwelkt. Aber auf uns wartet ein Siegeskranz, der niemals verwelkt. Darum laufe ich wie einer, der ein Ziel hat. Darum kämpfe ich wie einer, der nicht in die Luft schlägt. Ich treffe mit meinen Schlägen den eigenen Körper, so dass ich ihn ganz in die Gewalt bekomme. Ich möchte nicht andere zum Wettkampf auffordern und selbst als untauglich ausscheiden.“

In diesem Bibel-Zitat wird der historische Kontext der antiken Agonistik lebendig: Zurzeit Jesu war jedem Bewohner des Mittelmeerraums bewusst, was ein Wettlauf ist, und dass man beim Wettlauf siegen möchte, um reich belohnt zu werden. Jesus Christus und alle, die ihm folgen, besonders seine „Jünger“, werden als „Athleten des Evangeliums“ gesehen. Die frühchristlichen Mönche in Griechenland nannten sich „Athleten Christi“, weil sie dem Herrn in seiner asketischen Lebensführung, die der von Hochleistungsathleten entsprach, nacheifern wollten. Ein Christ darf nicht abseits stehen, er soll sich am Leben beteiligen, am Wettlauf teilnehmen, er soll sich anstrengen, üben und trainieren (das bedeutet der griechische Begriff askesis), um den ersten Preis zu gewinnen, auch wenn er weiß, dass nur einer, der Sieger, den Preis bekommen kann. Europa muss sich seiner Vergangenheit stellen, ohne seine Errungenschaften und Potenziale aus den Augen zu verlieren. Benötigt wird eine selbstbewusste Besinnung aufs Eigene, ohne in Selbstkritik unterzugehen, eine Balance zwischen Selbstkritik und Selbstbewusstsein. Auch braucht es Wege, die das Engagement für die äußere Welt und eine tiefe spirituelle Praxis beinhalten, die es uns ermöglicht, aktiv in der Welt zu handeln und einen inneren Raum des Friedens und der Klarheit zu pflegen.

Das Buch:

  • Peter Sloterdijk: Der Kontinent ohne Eigenschaften. Lesezeichen im Buch Europa. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024.

Weiterführende Informationen:

  • „Fire-Fighters aller Länder, dämmt die Brände ein!“

  • „Klarheit, bitte!“ Was es für ein souveränes demokratisches Europa braucht

  • Robert Menasse: Die Welt von morgen. Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.

  • Peter Sloterdijk: Die Reue des Prometheus. Von der Gabe des Feuers zur globalen Brandstiftung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.

  • Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.

  • Zukunft Stadt: Die globale und lokale Bedeutung von SDG 11. Wie die sozialökologische Transformation in Wirtschaft und Gesellschaft gelingen kann. Handlungsempfehlungen – Chancen – Entwicklungen. Hg. von Alexandra Hildebrandt, Matthias Krieger und Peter Bachmann. SpringerGabler. Berlin, Heidelberg 2025.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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