Phytofuture: Warum wir eine pflanzliche Zukunft brauchen
**Der Begriff Klimawandel vermittelt den Eindruck, dass sich der Anstieg der globalen Temperaturen stoppen lasse. Doch bisherige Anstrengungen reichen nicht aus.**Deshalb starteten Al Gore und sein Climate Reality Project bereits im Jahr 2018 eine Initiative, die appellierte, künftig von „Klimakrise“ zu sprechen. Erst dieser Begriff mache deutlich, wie dringlich die Situation ist.
Die Klimakrise ist die größte Herausforderung der Menschheit, denn sie bestimmt den weiteren Verlauf unseres Lebens, der Artenvielfalt und unserer Natur. Wir sollten sie sofort und mit aller Konsequenz angehen, fordert auch Tim Kaysers. Wenngleich die EU der Klimakrise mit dem Slogan „Fit for 55“ begegnet und mit der neuen Taxonomie und ihren neuen Standards für ein ökologisches Wirtschaften das Finanzwesen nachhaltig machen möchte, so reichen seiner Meinung nach diese gut gemeinten Ansätze noch lange nicht aus. Er kritisiert, dass noch viel zu wenig in nachhaltige Projekte investiert wird. Eine bloße CO2-Betrachtung reicht ebenfalls nicht aus. „Zusätzlich muss CO2 aus der Atmosphäre genommen werden, der Artenschwund aufgehalten, die Naturzerstörung geheilt, die Menschenrechte und insbesondere die Rechte der Naturvölker und Armen beachtet werden.“
Zudem kritisiert er, dass plötzlich alles und jede/r klimaneutral ist. „Es wird überall so ausgelegt, wie es am besten passt.“ Was es wirklich bedeutet, klimaneutral zu sein, verkörpern für ihn die Pflanzen, die das Klima und die Natur regulieren und diese auch positiv beeinflussen: „Der pflanzliche Weg ist nicht nur CO2-neutral, sondern auch klima- und lebenspositiv.“ In seinem aktuellen Buch, „Phyto for Future. Mit Pflanzen aus der Klimakrise“, kritisiert er, dass sich vor allem die großen Unternehmen gerade auf dem Markt „tummeln“ und sich damit brüsten, „dass sie klimaneutral und sauber seien.“ In der Debatte um Klimaneutralität wird die Pharmaindustrie kaum erwähnt. Dabei sterben jährlich 16.000 bis 58.000 Menschen an den Nebenwirkungen chemischer Arzneien (die bei schweren Krankheitsverläufen ihren Sinn haben und Leben retten können). Andererseits sind für die Produktion meistens enorme, energieintensive Herstellungstechniken erforderlich, die giftige Abwässer produzieren und die Luft verunreinigen.
Die Pharmaindustrie emittiert mehr Treibhausgase als die Autoindustrie.Tim Kaysers, Autor von „Phyto for Future. Mit Pflanzen aus der Klimakrise“
Die Massen- und Überproduktion ist hier wie in der Landwirtschaft das Problem. Unsere Ernährung hat großen Anteil an der globalen Erwärmung. Um die Klimakrise abzuwenden, darf jeder Mensch insgesamt maximal zwei Tonnen CO2-Äquivalente pro Jahr hervorrufen. In Deutschland verursacht jeder von uns durch seine Ernährung 1,5 Tonnen Treibhausgase. Die Produktion tierischer Lebensmittel wie Milch, Eier und Fleisch verbraucht ein Vielfaches an Energie im Vergleich zum Anbau von Obst, Gemüse und Getreide. Die Landwirtschaft und unser gesamtes Ernährungssystem müssen deshalb grundlegend nachhaltig transformiert werden. Schließlich ist es der Boden, der uns trägt und nährt.
Doch statt von uns gepflegt und behütet zu werden, wird er mit Füßen getreten. Um der Zukunft einen gesunden und fruchtbaren Boden zu bereiten, braucht es ein breites Spektrum von Perspektiven aus den Agrar-, Sozial-, Kultur- und Naturwissenschaften, aus Theologie, Philosophie, Psychologie, Architektur und Kunst. Humus und humanus haben im Lateinischen dieselbe Wortwurzel. Zudem bedeutet humanus neben „menschlich", „menschenwürdig" und „menschenfreundlich" auch „fein gebildet".
Pflanzen sind auch Kulturschaffende
Wollen wir eine vielfältige, gesunde und produktive Landschaft auf einer begrenzten Welt, dann braucht es Alternativen zur aktuellen Situation, so Tim Kaysers. Dabei ist es wichtig, von den Monokulturen und einseitiger Fruchtfolge wegzukommen. „Der Fokus sollte in jedem Fall wieder auf kleinteiligere Felder und den dezentralen Anbau gelegt werden. Er sollte an Ort und Boden angepasst werden und hierbei spielt die regional unterschiedlich angepasste, kleinbäuerliche Landwirtschaft eine entscheidende Rolle.“ Wenn wir die dringlichsten Fragen unserer Zeit beantworten wollen, bieten uns Pflanzen Lösungen in allen Bereichen an: in Landschaft und Landwirtschaft, Ernährung und Architektur, bei der Energiefrage, in der Klimakrise, beim Artensterben, für unsere Gesundheit und unsere Gesellschaft. Pflanzen – das Wort stammt vom lateinischen Wort planta (Sohle, Fußsohle, Setzling) ab - sind mit ihrer perfekten Lebensstrategie nicht nur Ursprung und Quelle allen Lebens – ohne sie haben wir auch keine lebenswerte Zukunft.
Wesen und Wirkung der Pflanzen
Sie stehen an erster Stelle der Artenvielfalt.
Zusammen schaffen sie ein Ökosystem, das Hitze- und Kälteextreme abfedert, Wasser speichert und feuchte Luft erzeugt.
Sie leben in Kreisläufen und sind ein wertvoller und nachhaltiger Bodenschatz.
Sie haben die Fähigkeit, sich unerwarteten Herausforderungen anzupassen und lange Zeiträume zu überdauern.
Für eine schnelle Nachrichtenverbreitung sind in den meisten Fällen Pilze zuständig, die wie die Glasfaserleitungen des Internets agieren („Wood-Wide-Web“).
Sie haben einen Gleichgewichtssinn, der es ihnen ermöglicht, in den Himmel zu wachsen und sich gleichzeitig im Boden zu verankern.
Sie kommunizieren nicht nur untereinander, sondern auch mit anderen Lebensformen.
Sie können täuschen und reagieren auf Berührung.
Sie haben ein Gedächtnis und können „lernen“ und bewusst Entscheidungen treffen
Viele Pflanzen haben eine heilende Wirkung.
Handlungsstrategien zum Schutz des Klimas
Dabei geht es um den Schutz von Lebensräumen und den Schutz von Tieren, Pflanzen, Pilzen und Mikroorganismen, die nachhaltige Nutzung von wildlebenden und gezüchteten Arten sowie deren genetische Vielfalt, die Zugangsmöglichkeiten zu den genetischen Ressourcen der Welt, die gerechte Verteilung der Vorteile aus der Nutzung dieser genetischen Ressourcen und um dadurch insbesondere verbesserte Entwicklungschancen für die ärmeren, aber biodiversitätsreichen Länder (globale Gerechtigkeit).
Tim Kaysers verweist zwar auch auf die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (SDGs) – für noch umfassender hält er allerdings die Earth Charta, eine Deklaration grundlegender ethischer Prinzipien für eine weltweit nachhaltige Entwicklung, die einen Leitfaden nach dem Erdprinzip aufbaut. Ebenso holistisch ist das Gaia-Prinzip.“ Urheber der Gaia-Theorie, die die Erde als lebendes und sich entwickelndes System betrachtet, das nach einer Selbstregulierung strebt, ist der Umweltaktivist James Lovelock.
Wenn wir unsere Systeme auf der Erde stabiler bzw. resilienter machen wollen, sodass sie auch Schocks verkraften können, müssen wir uns vom schnellen Wachstum trennen, um dafür Stabilität zurückzubekommen. Nachhaltiges Wachstum verbindet Tim Kaysers mit Langsamkeit, die in der Pflanzenwelt ein Schlüssel für ein langes Leben ist. „Es ist auch so, dass Pflanzen, die zu schnell wachsen und zu viele Nährstoffe auf einmal bekommen, nicht genügend Wurzeln ausbilden und so Notzeiten schlechter überstehen.“
Die Beschäftigung mit der Welt der Pflanzen führt uns zu uns selbst zurück.
Rückkehr zur Erde: Wir brauchen ein tieferes Verständnis für Entstehen und Umgang mit der Klimakrise
Multiple Krisen und Biodiversität: Klima- und Artenschutz gehören zusammen
Im Netzwerk der Kommunikation: Was uns Pflanzen zu sagen haben
Saat des guten Lebens: Was ein nachhaltiges und faires Ernährungssystem ausmacht
Klimaneutralität in der Industrie. Aktuelle Entwicklungen – Praxisberichte – Handlungsempfehlungen. Hg. von Ulrike Böhm, Alexandra Hildebrandt, Stefanie Kästle. Springer Gabler Verlag, Heidelberg, Berlin 2023.
Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. SpringerGabler Verlag. Heidelberg, Berlin 2020.