Planetare Krisen: Chancen und Herausforderungen für das deutsche Gesundheitssystem
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet den Klimawandel als „die größte Gesundheitsbedrohung für die Menschheit“ und erkennt das Pariser Abkommen als das wichtigste Public-Health-Abkommen des 21. Jahrhunderts an. Auch der Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) betont, dass die Klimaerwärmung und die Überschreitung zahlreicher Ökosystemgrenzen die größte Herausforderung für die öffentliche und individuelle Gesundheit des 21. Jahrhunderts darstellen. Bereits 2008 hat die Bundesregierung die deutsche Anpassungsstrategie an den Klimawandel (DAS) beschlossen. Damit war der Grundstein dafür gelegt, Deutschland in einem stetigen Prozess auf die Auswirkungen des Klimawandels vorzubereiten und Klimarisiken zu verringern. Im Koalitionsvertrag 2021-2025 wurde ihre Weiterentwicklung beschlossen: Mit einer neuen vorsorgenden Klimaanpassungsstrategie sollen die notwendigen Anpassungen an den Klimawandel in allen Bereichen vorangebracht werden. Hierfür werden von den zuständigen Bundesministerien in ihren Bereichen messbare Ziele definiert mit dem Ziel, Maßnahmen zur Klimaanpassung zukünftig zielgerichteter zu planen und Fortschritte besser zu überprüfen. Ein Handlungsschwerpunkt ist dabei der Schutz der menschlichen Gesundheit.
Die aktuelle Gesundheitsversorgung verbraucht viel Energie, Rohstoffe und Materialien mit langen Lieferketten und ist so für rund 4,4 Prozent der globalen Treibhausgase verantwortlich. Die Strategie für ein klimaneutrales Gesundheitswesen soll dazu beitragen, das Ziel der Bundesregierung der Klimaneutralität bis 2040 zu erreichen: Gesundheitseinrichtungen sollen Energie sparen, Gebäude klimafit machen sowie nachhaltiger mit Arzneien und Medizinprodukten umgehen. Auch Transportwege und das Thema Mobilität sollen von den Gesundheitseinrichtungen mitbedacht werden. Doch die planetaren Krisen führen zu zusätzlichen und oft vermeidbare Krankheitslasten, die das Gesundheitssystem vor enorme Herausforderungen stellen. Die Überschreitung ökologischer Belastungsgrenzen trifft jeden von uns, allerdings nicht alle in gleicher Weise: So sind benachteiligte und marginalisierte Bevölkerungsgruppen weltweit von den Folgen des Klimawandels am stärksten betroffen, obwohl sie am wenigsten zu ihrer Entstehung beitragen. Die regional unterschiedlich verteilten, gesundheitlichen und gesellschaftlichen Fortschritte sind zwar bedeutsam, haben allerdings einen hohen Preis: sie riskieren die Bewohnbarkeit des Planeten. Der früher gebräuchliche Begriff Klimawandel wird vor diesem Hintergrund durch „Klimakrise“ abgelöst.
Nutzung fossiler Brennstoffe zur Energiegewinnung und ihre Auswirkungen auf die Klimaerwärmung
veränderte Land- und Wassernutzung insbesondere zur Nahrungsmittelproduktion
Verschmutzung und Zerstörung von Ökosystemen und der damit einhergehende Verlust der Artenvielfalt
Übermäßige Nutzung natürlicher Ressourcen
Meeresspiegelanstieg
erhöhte Temperaturen
Ausbreitung von Wohn- und Infrastruktur
Zunahme von Wetterextremen.
Zunahme thermischer Belastungen (z.B. durch immer häufigere, längere und extremere Hitzewellen) sowie sozialer und psychischer Belastungen und Störungen wie Stress, Angstzuständen und Depressionen
Zunahme von Infektionskrankheiten sowie nicht-übertragbare Krankheiten wie Allergien
Effekte von Luftverschmutzung auf verschiedene Organsysteme
Verstärkung der Symptome bei Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen
Zunehmende Belastung durch UV-Strahlung und bodennahem Ozon (Hautalterung und Hautkrebs, Augenschädigungen).
Auch der Sachstandsbericht Klimawandel und Gesundheit 2023 zeigt zahlreiche Gesundheitsrisiken auf, die durch den Klimawandel entstehen oder verstärkt werden. Besonders gefährdet sind Säuglinge, Kleinkinder, Ältere und chronisch Kranke sowie vulnerable Personengruppen wie Schwangere, Beeinträchtigte und Wohnungslose. „Hinzu kommen die über 7 Millionen Außenbeschäftigten sowie ein großer Teil der rund 30 Millionen Sportlerinnen und Sportler in Deutschland, die etwa der Hitzebelastung berufs- oder sportbedingt kaum aus dem Weg gehen können“, sagt Prof. Dr. Sven Schneider. Er lehrt und forscht als Professor für sozialmedizinische Epidemiologie und als Sport- und Medizinsoziologe an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Nach langjähriger Tätigkeit als Forschungsgruppenleiter an der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg und als stellvertretender Stabsabteilungsleiter am Deutschen Krebsforschungszentrum arbeitet er nun in den Themenfeldern „Sport“ und „Klimawandel“ an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Er ist u. a. Mitglied der Deutschen Allianz für Klimawandel und Gesundheit (KLUG) und der Gesellschaft zur Förderung Medizin-Meteorologischer Forschung. Seit etwa 30 Jahren besitzt er mehrere DOSB-Trainerlizenzen und bildet bundesweit für zahlreiche Sportverbände Trainerinnen und Trainer – mittlerweile auch zum Thema „Klimawandel und Sport“ – aus.
Alle stehen gleichermaßen vor der Herausforderung, vor Ort Präventionsmaßnahmen zeitnah und effektiv umzusetzen. Vor diesem Hintergrund hat er nun das Buch "Gesundheitsrisiko Klimawandel - Neue Herausforderungen für Sport, Beruf und Alltag" herausgegeben. Es enthält die Expertise von mehr als 70 Autorinnen und Autoren aus 42 Institutionen aus Wissenschaft, Arbeitswelt und Sport enthält. Dazu gehören nationale staatliche Einrichtungen wie das Umweltbundesamt, das Robert Koch-Institut, der Deutsche Wetterdienst, universitär tätige Forschende sowie den DOSB und zahlreiche Sportverbände. Es beschäftigt sich mit Fragen wie:
Welche Auswirkungen hat die Klimakrise auf die Arbeitswelt haben?
Welche Bevölkerungsgruppen sind von den Folgen des Klimawandels besonders betroffen?
Welche Folgen hat der Klimawandel auf die Gesundheit? Wie wirken sich Extremwetterereignisse aus?
Was bedeutet die zunehmende Hitze für Alltag und Sport?
Müssen wir uns darauf vorbereiten, dass irgendwann kein Sport mehr draußen stattfinden kann?
Wie kann der Sport aus den langjährigen Erfahrungen in der Arbeitswelt (vor allem aus den Regelungen im Arbeitsschutz) lernen?
Welche Präventionsmaßnahmen sind nachhaltig erfolgreich?
Warum ist UV-Strahlung für Kinder noch viel schädlicher als für Erwachsene?
Wie können im Training, beim Wettkampf, bei Großveranstaltungen oder bei beruflichen Außentätigkeiten spezifische und übergreifende Schutzkonzepte aussehen?
Die Autoren des RKI argumentieren, dass klimaschutzrelevantes Verhalten für jeden von uns auch unmittelbare positive Auswirkungen auf die eigene Gesundheit haben kann: Wenn Menschen beispielsweise vermehrt zu Fuß gehen oder Fahrrad fahren, statt das Auto zu nutzen, und weniger tierische Lebensmittel verzehren, reduziert das nicht nur klimarelevante Gase. All dies verringert gleichzeitig das Risiko für chronische Erkrankungen wie Krebs oder Herz-Kreislauf-Krankheiten. Diese positiven Effekte werden als Co-Benefits bezeichnet und könnten die Motivation zu klimagerechtem Verhalten erhöhen.
Doch unser Gesundheitssystem ist an vielen Stellen noch nicht nachhaltig ausgerichtet, zudem ist es nicht vorausschauend genug auf zukünftige Systemschocks wie Extremwetterereignisse, die Versorgung von wegen Umweltkrisen aus dem In- und Ausland flüchtender Menschen, oder Ausbrüche von Infektionskrankheiten mit pandemischem Potential vorbereitet. Vor allem Hitzeperioden stellen eines der größten klimawandelbedingte Gesundheitsrisiken dar. Das Konzept der planetaren Gesundheit („Planetary Health“) ist ein wertebasierter und an Nachhaltigkeit orientierter Denk- und Handlungsrahmen, welcher die Transformation unterstützen kann. Es betrachtet eine gesunde natürliche Umwelt als Basis für menschliche Gesundheit bzw. ein gesundes Leben und anerkennt die Abhängigkeit menschlicher Gesundheit von politischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Systemen unserer Erde. Empfohlen wird eine inter- und transdisziplinäre Auseinandersetzung über die Grenzen von Fachbereichen und Professionen hinaus. Als Forschungsparadigma spielt die planetare Gesundheit vor allem im medizinischen Bereich eine wichtige Rolle. Aktuelle Planetary Health-Projekte belegen, dass der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Gesundheit bislang zu wenig beachtet wurde und Handeln erforderlich ist. Ein ähnliches Konzept ist das von „One Health“, das jedoch einen starken Fokus auf Zoonosen hat – Planetary Health umfasst stärker auch Aspekte des Klimawandels, die Interaktion mit menschlicher Gesundheit und nicht-medizinische (soziale) Determinanten von Gesundheit. Deshalb wird häufig der breitere Begriff gewählt.
Konkrete und wirkungsvolle politische Aktivitäten, um Transformationspfade konsequent auf allen Ebenen einzuschlagen
Anpassungsmaßnahmen: Berücksichtigung nationaler Informationssysteme und Frühwarnsysteme, wie UV-Index, Hitzewarnsystem, Pollenflugvorhersage und OzonvorhersageAusbau des Hochwasser- und Katastrophenschutzes, Hitzealarmpläne, Ausgestaltung von Außenanlagen und Gebäuden
Eine Umgestaltung der Arztpraxen, die mit materiellen und ideellen Veränderungen verbunden ist
Gesellschaftliche Debatten darüber, wie Gesundheit und Wohlergehen innerhalb von ökologischen Belastungsgrenzen gestaltet werden kann
Verankerung von planetarer Gesundheit als Zukunftsvision auf nationaler und internationaler Ebene
Resilientes, qualitativ hochwertiges, zugängliches, umweltfreundliches und finanzierbares Gesundheitssystem
Zugang zu Gesundheitsversorgung
Verstärkte Handlungsbereitschaft durch Selbstwirksamkeit, Vertrauen und wahrgenommene Maßnahmeneffektivität
Einstellung auf neue Krankheitsbilder sowie eine sich ändernde Medizin
Anreize zur Mitgestaltung der notwendigen Transformationsprozesse
Einbindung bestehende Netzwerke und Institutionen bei der Transformation zu neuen Rollen in Gesundheitsberufen (z.B. die Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG), Healthcare Without Harm, Health For Future und die Planetary Health Alliance)
Neudefinition und Ausgestaltung des alltägliches Verständnisses von „Normalität“
Stärkung der Prävention (Investitionen) und Vorbereitung auf planetare Krisen
Politische, soziale und ökonomische Prozesse und Strukturen müssen so gestaltet und gesteuert werden, dass Gesundheit und Wohlergehen für heutige und zukünftige Generationen sichergestellt und die Bewohnbarkeit der Erde erhalten wird
Sicherstellung eines gemeinwohlorientierten, gesundheitsfördernden und präventiven Rahmens
Gesellschaftlicher Umbau zu mehr Resilienz und gesundheitlicher Chancengerechtigkeit sowie besseres Verständnis von Resilienz (Persistenz - Anpassungsfähigkeit – Transformierbarkeit)
Schaffung von Möglichkeiten der Teilhabe an Planung und Gestaltung der eigenen Umgebung und der eigenen Arbeits- und Lebenswelt
Umbau vieler Bereiche - auch des Energiesystems (die Nutzung erneuerbare Energieträger ist nicht nur gut für das Klima, sondern verspricht auch Co- Benefits für die Bevölkerungsgesundheit)
Individuelle Verhaltensänderungen
systemische Vernetzung zwischen Technikentwicklung und -einsatz sowie neuen Geschäfts- und Organisationsmodellen
Verhaltensprävention: Anpassungsmaßnahmen der Individuen (ausreichender Sonnen-, Hitze- und Impfschutz)
Verhältnisprävention: effektive und effiziente Maßnahmen, die baulich, technisch, strukturell und organisatorisch Risikogruppen schützen (Maßnahmen der Unternehmen, der Sportvereine und der Pflegeheimleitungen, z.B. Hitzeaktionsplan)
Arbeitsmedizinische Vorsorge und ganzheitlicher Ansatz im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) und Zusammenarbeit mit Betriebskantinen (gesunde Ernährung)
Enge Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Fachbereichen und Akteur:innen des Gesundheitswesens.
Gesundheitsrisiko Klimawandel. Neue Herausforderungen für Sport, Beruf und Alltag. Hg. von Sven Schneider. Hogrefe Verlag, Bern 2024
Die Strategie für ein klimaneutrales Gesundheitswesen im PDF-Download
Studien zur gesundheitlichen Anpassung an die Folgen des Klimawandels
Zur Bedeutung von Health Literacy und organisationsbezogener Gesundheitskompetenz
Wie der Klimawandel die Gesundheit unseres Gehirns beeinflusst
Nachhaltiges Gesundheitssystem: Bausteine einer umfassenden Zukunftsagenda
Die Auswirkungen des Klimawandels auf unsere Gesundheit - wie können Anpassungsstrategien aussehen?
Wie dem Ärztemangel im ländlichen Raum entgegengewirkt werden kann
Alexandra Hildebrandt: CSR und Sportmanagement: Jenseits von Sieg und Niederlage: Sport als gesellschaftliche Aufgabe verstehen und umsetzen. SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2. Aufl. 2019.
Zukunft Mikromobilität. Wie wir nachhaltig in die Gänge kommen. Ein Rad-Geber. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber. Büchner Verlag, Marburg 2022.