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Public Health: Neue Impulse zur gesamtgesellschaftlichen Sorge um Gesundheit und Wohlergehen

Im Jahr 1267 verfasste Roger Bacon (ca. 1214 bis ca. 1292) sein Verständnis von einer interdisziplinären Zusammenarbeit der unterschiedlichen Wissenschaftsbereiche. Sein ganzheitlich interdisziplinärer Ansatz sollte nicht nur Körper und Seele, sondern auch der Gesellschaft als Ganzes dienen. Bacons wissenschaftlicher Versuch einer Neuordnung geriet über dreihundert Jahre in Vergessenheit. Die Universitäten Europas beschäftigten sich erst wieder im 18. Jahrhundert damit. Der enge Rahmen, der künstlich um das derzeit sehr bescheidene Fächerspektrum gezogen wird, führt dazu, dass der Blick auf Gesundheit noch weiter eingeschränkt wird, ja er behindert sogar die 1986 von der WHO eingeforderte gesamtgesellschaftlich getragene Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung. In ihrem Buch „Gesundheit in der Postmoderne: Transdisziplinäre Perspektiven auf Public Health“ versammeln Dr. Marina Böddeker, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld und Referentin für Wissenschaftskommunikation im SFB 1288 "Praktiken des Vergleichens" an der Universität Bielefeld, sowie Dr. Thomas Hehlmann, Lecturer für Gesundheitskommunikation und Health Literacy an der Universität Bremen, jene Fachdisziplinen, die bislang nicht ausreichend in gesundheitswissenschaftlichen Diskussionen berücksichtigt wurden. Dazu gehört zum Beispiel das ägyptische Medizinsystem mit dem Themenkomplex „Gesundheit-Gesundsein-Gesundbleiben-Gesundwerden“ (Betrachtungen zu Körperpflege und Ästhetik, Weisheitstexte etc.).

„Die Auseinandersetzung mit historischen Vorstellungen und Konzepten von Gesundheit kann eine andere Perspektive auf uns heute vertraute Vorstellungen und vermeintliche Gewissheiten eröffnen und eine historische Reflexion unserer Gegenwart ermöglichen“, so die Autoren, deren Buch ein Plädoyer für ein neues, postmodernes Verständnis von Public Health (übersetzt: "öffentliche Gesundheit"). Public Health verfolgt das Ziel, Bedingungen zu schaffen und sicherzustellen, unter denen Menschen gesund leben können. Unter dem Begriff wird eine interdisziplinäre Wissenschaft sowie die Praxis der Prävention von Krankheiten und der Förderung der körperlichen und psychischen Gesundheit verstanden. Der Fokus liegt hier auf der interdisziplinären Erforschung der Frage nach der besten gesundheitlichen Versorgung einer Bevölkerung (Grundlage: bevölkerungsbezogene Analysen zu den Voraussetzungen für Gesundheitsförderung und die Wiederherstellung von Gesundheit). Kritisiert wird, dass es in Deutschland fast keine historischen Arbeiten über die Entstehung von Public Health gibt. „Akademisch“ wurde das anwendungsorientierte Fachgebiet bei uns erst 1989.

Der Sammelband ist ein einzigartiges Projekt für die Gesundheitswissenschaften in Deutschland, um herauszufinden, welchen Beitrag akademische Disziplinen leisten können, die traditionell nicht im Kanon der gesundheitswissenschaftlichen Teildisziplinen zu finden sind. Ziel ist es, neue Impulse zur gesamtgesellschaftlichen Sorge um Gesundheit und Wohlergehen zu erhalten. Gezeigt wird, dass im angloamerikanischen Sprachraum die Berücksichtigung und Vernetzung von Sozial-, Kunst- und Geisteswissenschaften bereits seit mehr als 15 Jahren in der Medizin und in den Gesundheitswissenschaften stattfindet. In Bachelor- und Masterstudiengängen werden seither praktische Erfahrungen in dieser interdisziplinären Idee gesammelt – in Deutschland dagegen gibt es noch immer „definitorische Außengrenzen“, „die wenig Spielraum für eine derartige Integration und Erweiterungsidee (zu) lässt.“ Der enge Rahmen verengt auch den Blick auf Gesundheit sowie auf die 1986 von der WHO eingeforderte gesamtgesellschaftlich getragene Sorge um die Gesundheit.

  • Komplexität des Gesundheitssystems

  • Krise der Gesundheitswissenschaften (Binnenstruktur des Fachs, mangelnde Interdisziplinarität)

  • Klimawandel

  • starker Fokus auf Profitorientierung und Gewinnmaximierung im Gesundheitsbereich

  • Silodenken und separate Insellösungen

  • Starke Belastungen institutioneller Versorgungsstrukturen im Angesicht fortlaufender Krisen

  • zunehmende Komplexität und Heterogenität postmoderner Gesellschaften erzeugen

  • Zielkonflikte einzelner Akteure und Interessengruppen.

„Fachdisziplinen haben eine hohe diagnostische und therapeutische Tiefe in ihrem jeweiligen Gebiet. Der Blick aufs Ganze, die Verknüpfung unterschiedlicher Bereiche sowie Zusammenhänge und Abhängigkeiten werden oft außer Acht gelassen“, bestätigt auch Christine Bergmair. Ihr Anliegen ist es, durch Vernetzung verschiedener Disziplinen, Integration variabler Gesundheitsfaktoren und aktive Zusammenarbeit unterschiedliche Aspekte wieder zusammenzuführen und so im medizinischen Bereich ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit zu entwickeln, das Patientenwohl in den Vordergrund zu stellen sowie menschenorientiert zu arbeiten. Nach der Schule war es für sie nicht leicht, sich zu entscheiden, was sie studieren möchte. Ihr Interesse galt der Medizin, doch konnte sie sich die Arbeit in einer Klinik nicht vorstellen. Sie entschied sich schließlich für ein interdisziplinäres Studium an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Das Studium der Wirtschaftswissenschaften war hier stark vernetzt mit den Fachbereichen Politik und Kultur. Bereits vor Jahren wurde hier der Gedanke der Interdisziplinarität zwischen Wirtschaft, Kultur und Politik gelehrt und gelebt: „Egal für welchen Studiengang man sich entschied, die anderen Fachgebiete wurden in bestimmten Modulen und auch jeweils übergreifend mitstudiert. Das Konzept war zudem stark auf die Förderung eigenständiger Studierender ausgelegt: Vorlesungen wurden vorab vorbereitet und in den Präsenzterminen die Inhalte besprochen, diskutiert und weiterentwickelt (nicht einfach nur ‚vorgelesen‘). Es ging um lebendigen Diskurs und darum, Zusammenhänge zu begreifen sowie Konzepte weiterzudenken.“

Ihr Blick für die ganzheitliche Erarbeitung von systemübergreifenden Herausforderungen wurde dadurch immens erweitert. Vor einigen Jahren hatte Bergmair dann die Vision, mit unterschiedlichen Ärzten, Therapeuten, Naturheilkundlern, Gesundheits- und Sozialberufen unter einem Dach interdisziplinär zusammenzuarbeiten. Dafür wurde ein modernes Praxishaus aus eigener Initiative heraus gebaut: das Gesundhaus i-Tüpferl in Steindorf, wo auch ein Fokus auf positiv definierte Gesundheitsziele (ganzheitliches Wohlbefinden, Lebensqualität, Fähigkeit zur konstruktiven Lebensgestaltung) gesetzt wird. Die Menschen, die hierher kommen, erfahren und spüren moderne Medizin sowie ganzheitliche Gesundheit. „Wir brauchen Mut, im kollegialen Miteinander Kompetenzen und Expertise zusammenzubringen und die Motivation aufzubringen, gemeinsam an einer höheren Entwicklung zu arbeiten. Dafür braucht es Menschen, die gemeinsam eine Vision verfolgen und bereit sind, auf dem Weg der Verwirklichung voneinander und miteinander zu lernen sowie der Gesellschaft ihre Erkenntnisse und Erfahrungen zur Verfügung zu stellen“, so Bergmair. Buch und Beispiel zeigen gleichermaßen, dass Gesundheit nicht räumlich an den Türen einer medizinischen Praxis und auch nicht an der Grenze einer einzelnen Disziplin wie der Medizin oder der Psychologie endet – alles ist miteinander verbunden.

  • Gesundheitsförderung (positives Gesundheitsverständnis, positive Gesundheitsziele sowie Prozesse der Förderung und Erhaltung von Gesundheit durch die Förderung gesundheitsbezogener Kompetenzen und Ressourcen)

  • Stärkung der Gesundheitskompetenz für das individuelle Gesundheitsverhalten

  • positive Gesundheitsorientierung und ganzheitliches Gesundheitsverständnis

  • innovative Lösungen, die sich von räumlich-dinglichen, über digitale bis hin zu organisationalen Strukturen erstrecken und dabei Abläufe und Prozesse als zusammenhängende Erlebnisse adressieren

  • sektorübergreifendes und integrativen Management („Ent-Siloisierung“)

  • strategisch ausgerichtete Maßnahmen, die kontinuierlich evaluiert und optimiert werden sollten

  • Inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit (zwischen unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen sowie zwischen Akteuren aus Wissenschaft und Praxis).

Marina Böddeker / Thomas Hehlmann (Hg.): Gesundheit in der Postmoderne: Transdisziplinäre Perspektiven auf Public Health. transcript Verlag, Bielefeld 2025.

Christine Bergmair: Zukunftssicheres Umsetzen von Entwicklung und Gesundheit im Kontext von SDG 11 am Beispielprojekt i-Tüpferl. In: Zukunft Stadt: Die globale und lokale Bedeutung von SDG 11. Wie die sozialökologische Transformation in Wirtschaft und Gesellschaft gelingen kann. Handlungsempfehlungen – Chancen – Entwicklungen. Hg. von Alexandra Hildebrandt, Matthias Krieger und Peter Bachmann. SpringerGabler. Berlin, Heidelberg 2025.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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