Radikale Akzeptanz: So lösen Sie sich aus der Problem-Schockstarre
Radikale Akzeptanz gilt als psychologisches Konzept, um mit schwierigen Situationen umzugehen. Funktioniert das?
Ein kurzes Schläfchen – und auf einmal steht Oliver Heers Welt Kopf. Im wahrsten Sinne des Wortes. Als der Profisegler im vergangenen Mai während eines Transatlantikrennens aus dem Schlaf gerissen wird, muss er schnell handeln. Sein Autopilot ist ausgefallen, der Wind drückt die Segelyacht bei voller Fahrt auf die Seite. Mehr als 3000 Liter Wasser dringen ein, zerstören Technik und einen Großteil der Segel. Heer muss bei vollständiger Dunkelheit die Notfallpumpe ans Laufen bekommen. Parallel schöpft er mit einem Eimer fünf Grad kaltes Wasser aus dem Boot und dreht es aus dem Wind, um es wieder aufzurichten. Geschafft. Aber jetzt dümpelt er in durchnässten Kleidern Tausende von Kilometern vorm Ziel vor sich hin.
Sich Optionen schaffen
Heer ist verzweifelt. Und holt per Satellitentelefon seinen Coach Wolfgang Jenewein zur Hilfe. „Hör auf dich zu beschweren, so hart es auch ist. Du kommst da wieder raus, wenn du anfängst, es zu akzeptieren“, sagt Jenewein – und bringt damit das Konzept der radikalen Akzeptanz auf den Punkt.
Unverrückbare Dinge schnell annehmen und das Beste aus der Situation machen – davon profitieren nicht nur Segler, sondern auch Arbeitnehmer. Jenewein, der neben Spitzensportlern auch Führungskräfte coacht, betont: „Es bringt nichts, sich ständig über den neuen Vorgesetzten zu beschweren.“ Und dennoch: Radikale Akzeptanz bedeutet nicht, einen schwierigen Umstand zu ignorieren. „Aber nur wer aktiv wird, kann etwas ändern, wer sich nur ärgert, hingegen nicht.“ Um beim Beispiel des anstrengenden Chefs zu bleiben: Sich bei den Kollegen auszuweinen wird das schlechte Verhältnis nicht verbessern, ein freundliches Gespräch eröffnet dafür zumindest die Möglichkeit.
Seinen Ursprung hat das Konzept der radikalen Akzeptanz in der Akzeptanz- und Commitmenttherapie, kurz ACT. Diese wurde in den 1990ern vom US-amerikanischen Psychiater Steven C. Hayes entwickelt. „Manche Patienten müssen erst lernen, ihre Ängste zu akzeptieren, um sich überhaupt auf irgendetwas anderes einlassen zu können“, sagt Dominique Endres, Psychiater und Oberarzt am Universitätsklinikum Freiburg. Er verwendet diese Therapieform bei Menschen, deren Alltag von Ängsten dominiert wird. „Sie zielt auch darauf ab, dass die Patienten erst einmal begreifen, dass ihre Sorgen tatsächlich nur Gedanken sind, nicht aber zwangsläufig ihr Handeln dominieren müssen.“ Mit Übungen wie Atemtechnik oder Meditation soll das Zergrübeln der Sorgen gestoppt werden – und so der Raum für neue Gedanken entstehen.
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Auch wenn eine Angststörung etwas anderes ist als der Ärger über den Chef, die Denkmuster können sich ähneln: Unverrückbares zerdenken statt „etwas aus der Situation zu machen“, so beschreibt auch Jenewein ein Schema, nach dem viele im Büro vorgehen – und das radikale Akzeptanz durchbrechen kann.
Impuls für die Kollegen
Nachweisen konnte die positiven Effekte dieses Konzepts ein Team der israelischen University of Haifa 2023. Die Forscher und Forscherinnen maßen mit standardisierten Fragebögen die Fähigkeit der Probanden, negative Gefühle wie Stress oder Sorgen zu akzeptieren. Anschließend erhielt ein Teil der Gruppe ein Training: Sie bekamen Bilder von einem Autounfall oder Kriegsszenen vorgelegt. Zugleich sollten sie dabei auftretende Gefühle zulassen und sich nicht mit anderen Gedanken ablenken. Schon sechs dieser Trainings erhöhten die Resilienz dieser Probanden gegenüber der Kontrollgruppe deutlich.
Aber wirkt man als radikaler Akzeptierer in seinem Umfeld nicht schnell unsensibel oder unreflektiert, wie jemand, dem Schwierigkeiten schlichtweg egal sind? „Im Gegenteil“, sagt Jenewein. Statt sich in den Beschwerdekanon der Kollegen über den neuen Chef einzureihen, rät er zu Offenheit: „Ich verstehe euren Ärger, aber möchte dem Boss eine Chance geben.“ Das, so seine Erfahrung, würde auch die Kollegen motivieren, die eigene Einstellung zu überdenken.
Oliver Heer akzeptierte die katastrophale Lage auf seiner Segelyacht übrigens schnell: Statt mit Autopilot steuerte er sein Schiff von Hand weiter. Zeitweise fuhr das Schiff stundenlang in die falsche Richtung, da Heer eingeschlafen war. Dennoch: Elf Tage nach dem verheerenden Zwischenfall kam er übermüdet, jedoch heil und ohne fremde Hilfe in New York an.
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