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Recruiting: Warum das Case-Interview Willkür und Vorurteile fördert

Fürs Recruiting haben Consultingfirmen ein Lieblingsinstrument – das Case-Interview. Studien zeigen: Die Methode versagt. Sie fördert Willkür und Vorurteile.

Von Atta Tarki und Tino Sanandaji

Jedes Jahr beenden allein in den USA rund 185.000 Studierende erfolgreich ein MBA-Studium. Ein großer Teil von ihnen verbringt in dieser Phase mehr als 100 Stunden mit der Vorbereitung auf sogenannte Case-Interviews – die bevorzugte Methode von Topberatungsfirmen wie McKinsey in Bewerbungsgesprächen. Die Kandidaten erhalten ein Szenario aus dem Geschäftsalltag – also einen Case oder eine Fallstudie – und sollen erklären, wie das Problem zu lösen wäre. Das ist jedoch kolossale Zeitverschwendung. Case-Interviews sind eine schreckliche Bewertungsmethode. Es ist an der Zeit, sie aus dem Recruiting zu verbannen.

Für uns als ehemalige Berater, die Fallstudieninterviews sowohl vorbereitet als auch geleitet haben, ist es schmerzhaft, diese Wahrheit einzugestehen. Case-Interviews waren lange Teil des ritualisierten Einstellungsprozesses von Topberatungsfirmen. Sie sind stressig und einschüchternd. Wer die Interviews besteht, gehört zu den wenigen Auserwählten. Bei renommierten Beratungsfirmen sind die Aufnahmequoten oft niedriger als an Elitehochschulen wie Harvard oder Princeton. Viele Personalverantwortliche, von "Fortune"-500-Unternehmen bis hin zu Start-ups, haben die Case-Methode übernommen, um Bewerberinnen und Bewerber zu bewerten. Unternehmen setzen sie vor allem bei Juniorpositionen ein, um vom "McKinsey-Mythos" zu profitieren.

Es gibt nur ein Problem. Mit Fallstudieninterviews lässt sich nicht zuverlässig die spätere Leistung im Job vorhersagen. Als wir vor zehn Jahren unsere Personalberatung ECA in Kalifornien gründeten, verfolgten wir bei der Suche nach Führungskräften einen datengestützten Ansatz. Wir wandten uns an den Stockholmer Wirtschaftswissenschaftler Tino Sanandaji, der uns bei der Suche nach seriösen, forschungsbasierten Methoden unterstützen sollte.

Wir gingen damals fest davon aus, dass Case-Interviews ganz oben auf der Liste stehen würden. Schließlich schienen sie ein intelligenter Weg zu sein, Bewerberinnen und Bewerber zu bewerten: Case-Interviews sind ja darauf ausgelegt, allgemeine Problemlösungsfähigkeiten zu prüfen, die stark mit der langfristigen Arbeitsleistung korrelieren. Da sich die Geschäftswelt heute schnell verändert, sind diese Fähigkeiten für Arbeitgeber extrem wichtig.

Wir waren bestürzt, als wir erfuhren, dass es für diese Annahme keine wissenschaftlichen Belege gibt. Die Forschung legt sogar das Gegenteil nahe.

Case-Interviews sind so konzipiert, dass es keine richtige oder falsche Antwort gibt. Die Idee hinter der Methode ist, dass sich aus der Präsentation des Bewerbers wichtige Informationen ableiten lassen: "Der Kandidat zeigt Kreativität", "Die Kandidatin hat ein gutes Zahlenverständnis" und so weiter.

Studien zeigen jedoch, dass ein zu hohes Maß an Informationen die Urteilskraft und Treffsicherheit von Personalverantwortlichen verringert. Da es keine klare und strukturierte Bewertungsmethode gibt, ist es zudem wahrscheinlicher, dass sich Interviewer von ihren Vorurteilen beeinflussen lassen. Schließlich führt die Tatsache, dass es keine richtige oder falsche Antwort gibt, zu willkürlichen Entscheidungen. Ein Bewerber, der das Geschäftsmodell eines Unternehmens in der Tiefe analysiert, wird vielleicht eingestellt, weil er "intellektuell neugierig" ist, während eine andere Bewerberin, die die gleiche Analyse vorträgt, als "zu theoretisch" abgelehnt wird. Welche Einstellungsentscheidung war die richtige?

Wir haben für sieben der zehn renommiertesten Strategieberatungen Personal rekrutiert. Jahrelang haben wir um Belege gebeten, dass sich durch Case-Interviews die Arbeitsleistung vorhersagen lässt. Zu unserer Enttäuschung lehnten unsere Kunden diese Bitte in der Regel ab. Vielleicht wollten sie keine sensiblen Daten preisgeben, oder sie waren so von der Methode überzeugt, dass sie nicht über Daten diskutieren wollten, die auf etwas anderes hindeuteten. Sie folgten der "Illusion der Gültigkeit", wie Nobelpreisträger Daniel Kahneman dieses Phänomen genannt hat.

Den letzten Schubs, Case-Interviews zu streichen, gab uns die Nachricht, dass Google diese Methode aufgeben würde. In seinem Buch "Work Rules!" beschrieb Laszlo Bock, Googles ehemaliger Senior Vice President für "People Operations", wie das Unternehmen akribisch die traditionellen Einstellungsverfahren untersuchte. Google sammelte gewissenhaft Daten zu Vorstellungsgesprächen und maß dann die Arbeitsleistung Zehntausender eingestellter Kandidaten sowie ihrer jeweiligen Interviewpartner. Jede Interviewtechnik wurde unter die Lupe genommen. Bock berichtet in seinem Buch, wie sich dabei herausstellte, dass Fallstudien-Interviews "wertlos" sind. Später schrieb er auf Twitter: "Ich habe Case-Interviews nie gemocht ... sie sagen nichts über die Leistung der Bewerber aus und dienen hauptsächlich dazu, dass sich der Interviewer clever fühlt."

Wenn wir mit Befürwortern der Methode sprechen, hören wir oft folgendes Argument: Mit Case-Interviews könne ein Unternehmen sicherstellen, dass es nur kompetente Leute einstellt. Sicher könne es vorkommen, dass es ein oder zwei kompetente Bewerber übersehen würde. Aber da es sehr kostspielig sei, die falschen Kandidaten einzustellen, sei es wichtiger, die Personen zu identifizieren, die mit Sicherheit einen hervorragenden Job machen werden.

Zunächst einmal: Es gibt keinen Beweis dafür, dass diese Aussage stimmt. Und selbst wenn es so wäre: Ein Szenario, in dem großartige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durchs Suchraster fallen, ergibt nur dann Sinn, wenn es relativ günstig wäre, weitere Superstars zu finden. In der Tat können Topberatungsfirmen aus Tausenden von Bewerbern auswählen. Daher könnte man argumentieren, dass es sie nicht viel kostet, auf ein paar gute Kandidaten zu verzichten. Aber die meisten Firmen sind nicht McKinsey oder BCG. Vor der Pandemie, 2019, gaben CEOs in einer weltweiten Umfrage von PwC an, die "Verfügbarkeit von Schlüsselqualifikationen" sei die drittgrößte Bedrohung für ihr Unternehmen. In Deutschland zeigten sich in der Umfrage 2021 ganze 72 Prozent der CEOs über den Fachkräftemangel besorgt. In einem derart angespannten Arbeitsmarkt können Sie es sich nicht leisten, Talente zu übersehen, wenn sie direkt vor Ihnen sitzen.

So testen Sie Intelligenz

Zum Glück zeigen Forschungsarbeiten aus einem Jahrhundert, dass es bessere und fundiertere Methoden gibt, die Problemlösungsfähigkeiten von Menschen zu testen (wenn Sie sich dazu im Detail einlesen wollen, empfehlen wir Ihnen den Artikel "Solving the Supreme Problem: 100 years of selection and recruitment at the Journal of Applied Psychology" im "Journal of Applied Psychology" aus dem Jahr 2017 – Anm. d. Red.).

  1. Die allgemeine Intelligenz (General Mental Ability, GMA) ist der bei Weitem beste Prädiktor für fluide Intelligenz, also die Fähigkeit, Probleme aller Art zu lösen. GMA ist ein seit Jahrzehnten etabliertes und getestetes Konstrukt, zu dem Tausende von begutachteten Arbeiten veröffentlicht wurden. Die Verwendung eines standardisierten Intelligenztests ist ausgesprochen unsexy. Aber mit ihm lassen sich Bewerber weitaus besser beurteilen als durch ein Fallstudieninterview.

  2. Unternehmen können auch einige der Nachteile von Case-Interviews abmildern. Dazu müssen sie ihren Ansatz standardisieren und genau festlegen, welche Fähigkeiten für eine Stelle am wichtigsten sind, wie sie diese Fähigkeiten testen und was eine sehr gute von einer schlechten Antwort unterscheidet. Beurteilungen werden auch objektiver, wenn sie schriftlich erfolgen. Verzerrungen durch Vorurteile lassen sich verringern, wenn Unternehmen es den Bewertenden ermöglichen, die Namen (und damit Geschlecht, Rasse und sozialen Hintergrund) der Bewerberinnen und Bewerber auszublenden.

Einer unserer Kunden ersetzte kürzlich Case-Interviews durch standardisierte schriftliche Beurteilungen. Dabei studierten die Kandidaten ein Dokument über eine beabsichtigte Investition und schrieben die wichtigsten Fragen auf, die sie vor einer Investitionsentscheidung untersuchen würden. Bevor sie die Antworten bewerteten, verdeckten unser Mandant und sein Kollege die Namen der Bewerberinnen und Bewerber. Sie einigten sich darauf, welche Themen für ihr Urteil wichtig waren und was innerhalb dieser Kategorien eine gute Antwort darstellte. Durch diesen Prozess gelangte ein Bewerber in die Endrunde, der erst vor Kurzem in die USA gezogen war und dessen Muttersprache nicht Englisch war. Er hatte sich zuvor in den traditionellen Case-Interviews mit unseren anderen Kunden schwergetan, sich seinen Fähigkeiten entsprechend zu präsentieren.

Fazit

In einem Punkt hatten die Beratungsunternehmen recht: Wenn ein Bewerber zeigt, dass er generell gut Probleme lösen kann, ist dies ein Hinweis auf seinen späteren beruflichen Erfolg. Diese Fähigkeit lässt sich aber nicht durch ein Case-Interview identifizieren. Trotzdem wenden Zehntausende MBA-Studenten und Arbeitsuchende jedes Jahr Unmengen an Zeit und Geld auf, um sich auf derartige Interviews vorzubereiten. Das ist eine enorme Verschwendung von Energie und menschlichem Potenzial. Wir lassen diese Menschen im Stich und verschenken selbst Chancen. McKinsey, BCG und ihre Nachahmer sollten dies zur Kenntnis nehmen: Es ist an der Zeit, diese antiquierte, voreingenommene Methode aufzugeben. © HBP 2022

Die Autoren

Atta Tarki ist Gründer und CEO der US-Personalberatung ECA Partners mit Sitz in Santa Monica. Er ist Autor des Buches "Evidence Based Recruiting" (erschienen bei McGraw-Hill 2020).

Tino Sanandaji ist Wirtschaftswissenschaftler am Institute for Economic and Business History Research an der Stockholm School of Economics.

Dieser Artikel erschien erstmals in der März-Ausgabe 2022 des Harvard Business managers.

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