Rentner·innen und der Arbeitsmarkt: Warum wir sie dringend brauchen und wie wir sie in die Jobs holen
Ohne zusätzliche Fachkräfte sieht es düster aus für den deutschen Arbeitsmarkt. Dabei könnten Arbeitnehmer·innen über 65 Jahre eine entscheidende Rolle spielen, wenn es darum geht, Lücken zu füllen. Nur wie gewinnt und begeistert man diese Menschen?
Dass der demografische Wandel unsere Gesellschaft verändern und vor große Herausforderungen stellen wird, ist nicht neu. Dass in den kommenden Jahren und Jahrzehnten mehr Menschen aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden als nachrücken werden, ist ebenfalls bekannt. Und dass ein Rückgang an Beschäftigten bei gleichbleibender durchschnittlicher Arbeitszeit einen volkswirtschaftlichen Wohlstandsverlust bedeutet, kann man sich ebenfalls leicht ausrechnen.
Aber vielleicht ist es so wie mit dem Klimawandel, der sich bereits seit Jahrzehnten abgezeichnet hat: Ein aktives politisches und gesellschaftliches Gegensteuern wird oft erst dann forciert, wenn die Probleme spürbar werden. Das, was Dürren, Waldbrände und Co. im Kontext des Klimawandels sind, dürfte uns in Form eines immer gravierenderen Fachkräftemangels im Arbeitsmarkt bevorstehen: „Viel besser wird es nicht – Deutschlands Arbeitsmarkt am Höhepunkt“ titelte das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) im August 2022. Grund genug, sich die Lage und einen möglichen Ausweg mal im Detail zu betrachten.
Späterer Eintritt in die Rente als Allheilmittel?
Selbst Arbeitsmarktprognosen in Szenarien mit hoher Zuwanderung gehen davon aus, dass die Zahl der Personen im „klassischen“ Arbeitsalter bis 64 Jahre bis 2035 um 1000 Menschen pro Arbeitstag sinken wird. Neben Zuwanderung und einer höheren Erwerbsquote von Personen im Arbeitsalter ist die Verlängerung der Lebensarbeitszeit – sprich: die Erhöhung des Renteneintrittsalters – eine vieldiskutierte Maßnahme. In Island, Norwegen und Italien liegt der Beginn der Rente schon jetzt bei 67 Jahren, in Deutschland steht auch die 70 im Raum. Dass das nicht unbedingt auf Gegenliebe stößt, zeigen unlängst die massiven Proteste in Frankreich. Vermutlich ist eine solche Pauschalmaßnahme auch kein Allheilmittel.
In meinem direkten Umfeld – nämlich bei meinen Eltern und in deren Bekanntenkreis – beobachte ich etwas, das man mit der Politikerphrase „Ein Weiter-so darf es nicht geben!“ umschreiben könnte: nämlich wenig Motivation, über das Renteneintrittsalter hinaus weiterhin unverändert einer Arbeit nachzugehen.
Länger arbeiten ja – aber weniger!
Dennoch zeigt eine repräsentative Befragung unter 55- bis 80-Jährigen, die wir vor einiger Zeit durchgeführt haben, dass knapp drei Viertel der Befragten (77%) sich durchaus dazu in der Lage sieht, über das Renteneintrittsalter hinaus weiter auf dem Arbeitsmarkt aktiv zu sein. Und mehr als zwei Drittel derer sind auch willens, das zu tun – sprich: 51% aller Befragten sind motiviert und in der Lage, über den eigentlichen Renteneintritt hinaus aktiv zu sein. Allerdings zu ihren Bedingungen. Das heißt, mehrheitlich nicht in Vollzeit, sondern mit mehr Zeit für Familie, Hobbys, Erholung etc. Trotz dieser Einschränkungen verbirgt sich dahinter ein riesiges und bislang weitgehend ungenutztes Potenzial.
Was unsere Befragung ebenso zeigt wie eine Studie, über die das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) im vergangenen Jahr berichtet hat: Geld ist für einen überwiegenden Teil der Arbeitenden über 65 Jahre nicht der größte Antreiber. Spaß an der Arbeit, sich weiterhin nützlich und gebraucht fühlen und Kontakt mit Kolleg:innen sind für eine Mehrheit die ausschlaggebenden Faktoren. Tatsache ist aber auch, dass ältere Arbeitnehmer:innen aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung oft eine Mentoren-Funktion übernehmen und so auch ein Zugewinn für die Unternehmenskultur sind.
Wie gewinnen wir die über 65-Jährigen?
Noch scheint das Potenzial an motivierten Arbeitnehmer•innen über 65 aber noch lange nicht ausgeschöpft zu sein. Während der Anteil derer, die in den Altersgruppen über 55 Jahren am Arbeitsmarkt teilnehmen („Partizipationsquote“) in den vergangenen 20 Jahren stetig gestiegen ist, bleibt ihr Anteil bei den über 65-Jährigen laut IW-Prognose auch in den kommenden Jahren einstellig.
Was brauchen wir also, um dieses volkwirtschaftlich perspektivisch so wichtige Potenzial zu heben? Noch wichtiger: Wie können wir Menschen jenseits des Rentenalters dazu motivieren, dem Arbeitsmarkt nicht den Rücken zu kehren, sondern ihre dringend benötigte Expertise weiterhin zur Verfügung zu stellen? Meiner Überzeugung nach müssen wir die Bedürfnisse der älteren Arbeitnehmer·innen verstehen und darauf eingehen.
Das heißt: Bürokratische Hürden wo immer möglich abbauen, Möglichkeiten schaffen, auch mit einer begrenzten wöchentlichen Stundenanzahl aktiver Teil der Unternehmenskultur zu sein, die gesellschaftliche Akzeptanz älterer Menschen im Arbeitsumfeld erhöhen, gezielt Berührungsängste auf allen Seiten abbauen und aktiv gegen Altersdiskriminierung vorgehen – aber auch, sich die Vorteile der sich rapide entwickelnden technologischen Möglichkeiten im Feld der künstlichen Intelligenz zunutze zu machen, um so wirklich alle abholen zu können.
Wie stehen Sie dazu? Welche Hebel halten Sie für am geeignetsten? Ich freue mich auf Ihre Einschätzungen!