Reputationsmanagement: So sollten sich Unternehmen verhalten, wenn sie zur Zielscheibe werden
Offen zur Schau gestellte Wut und Empörung gehören inzwischen zum gesellschaftlichen Alltag. Wie sollen sich Unternehmen verhalten, wenn sie ins Visier geraten?
Von Karthik Ramanna
Führungskräfte müssen sich immer öfter mit wütenden Stakeholdern auseinandersetzen – und dies über alle Branchen hinweg. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die Truckerdemo in der kanadischen Hauptstadt Ottawa Anfang 2022: Damals demonstrierten Lkw-Fahrer im „Freedom Convoy“ vor dem Parlament gegen eine berufsbezogene Corona-Impfpflicht. Das kam in manchen Teilen der Bevölkerung nicht gut an. Kunden, deren Lieferungen sich verzögerten, und Medienvertreter verlangten von Banken, Spendengelder für die Trucker zu sperren, die dort eingegangen waren.
Das Beispiel zeigt: Unternehmen geraten auch dann ins Visier aggressiver Stakeholder, wenn sie an den kritisierten Umständen kaum beteiligt sind.
Natürlich mussten Unternehmen schon immer mit dem Risiko leben, ihre Stakeholder zu verärgern. Was die heutige Situation allerdings deutlich brisanter macht, ist das Aufeinandertreffen dreier Kräfte, die zusammen eine explosive Mischung ergeben.
Erstens: Viele Menschen machen sich große Sorgen um ihre Zukunft. Die Gründe dafür reichen vom Klimawandel über demografische Verschiebungen bis hin zu stagnierenden Löhnen. Zweitens sind viele Menschen – zu Recht oder zu Unrecht – davon überzeugt, übervorteilt zu werden. Berichte, dass der reichste Teil der Bevölkerung häufig weniger Steuern zahlt als die Mittelschicht und dass Minderheiten systematisch benachteiligt werden, untermauern diesen Eindruck noch. Drittens scheinen Menschen – vielleicht befeuert durch die ersten beiden Faktoren – anfälliger für Ideologien geworden zu sein, die auf Distanzierung und Abgrenzung abzielen. Ihre Anhänger legen immer öfter eine „Wir gegen die anderen“-Haltung an den Tag, die dem aufgeklärten Liberalismus den Rücken kehrt. Der inzwischen verstorbene US-Historiker Samuel Huntington bezeichnete dies als „Kampf der Kulturen“.
In diesem Artikel stelle ich Ihnen einen Handlungsrahmen zum Umgang mit aufgebrachten Kunden, Mitarbeitern und anderen Interessengruppen vor. Die Grundlage dafür sind analytische Erkenntnisse aus der Aggressionsforschung, BWL, Organisationspsychologie und der politischen Philosophie. (Der Rahmen bildet übrigens die Grundlage des Kurses „Managing in the Age of Outrage“, den ich an der Universität Oxford gebe.) Er entstand aus mehreren ausführlichen Fallstudien zu unterschiedlichen Unternehmen, darunter Ikea, die Londoner Metropolitan Police, Nestlé sowie die Oxford University Hospitals. Mein Framework umfasst insgesamt fünf Schritte:
Das passende Klima schaffen
Die Wut analysieren
Die richtige Reaktion entwickeln
Die eigene Macht erkennen
Die Resilienz steigern
Einige Schritte sind recht komplex, andere beinahe selbsterklärend. Gemein ist ihnen, dass sie alle auf dem gesunden Menschenverstand gründen und für erfahrene Führungskräfte nicht allzu überraschend sein dürften. Was den Wert des Frameworks ausmacht, ist die Zusammenführung der Erkenntnisse.
Dieser Schritt umfasst zwei Maßnahmen. Die erste ist, sich mit den wissenschaftlichen Grundlagen von Empörung und Ärger vertraut zu machen. Bei der zweiten Maßnahme geht es darum, Prozesse zur Einbindung von Stakeholdern zu etablieren. Im Idealfall werden sie bereits vor dem Beginn einer Krise abgestimmt.
Lassen Sie uns Empörung zunächst einmal aus wissenschaftlicher Perspektive betrachten. Wie sich zeigt, ist Aggression aus Sicht von Verhaltensforscherinnen und -forschern ein weites Feld. Führungskräfte sollten jedoch zumindest Folgendes verinnerlichen: Das Zusammenspiel von Umfeld, Emotionen und kognitiver Fähigkeit bestimmt, wie unser Gehirn auf Ereignisse reagiert.
Zunächst betrachten wir die physische Umgebung, die maßgeblich zur Grundstimmung beiträgt. In Räumen, die heiß, schwül oder laut sind, verlieren Menschen nachweislich schneller die Beherrschung als in gut klimatisierten oder leisen Räumlichkeiten. Darüber hinaus sollte Führungskräften bewusst sein, dass sich Menschen eher von ihren Gefühlen leiten lassen, wenn ihr logisches Denken aufgrund von Stress eingeschränkt wird. Aus diesem Grund reagiert ein überfordertes oder abgelenktes Gehirn in Krisensituationen schneller emotional und aggressiv. Deshalb wird uns oft geraten, über wichtige Entscheidungen „eine Nacht zu schlafen“. Eine emotionale Reaktion muss dabei nicht automatisch schlecht sein. Wir sollten uns jedoch Zeit nehmen, sie kognitiv zu verarbeiten.
Wissenschaftliche Untersuchungen legen nahe, dass wir Ereignisse mithilfe von sogenannten mentalen Drehbüchern bewerten. Sie helfen uns bei deren Einordnung und stützen sich auf unsere individuellen Erfahrungen. Menschen folgen ihrem persönlichen Drehbuch übrigens selbst dann, wenn es logische Brüche enthält. Hierin liegt auch der Grund dafür, dass einseitige oder voreingenommene Narrative in sozialen Medien unsere eigenen Drehbücher allmählich verändern können und so unser Aggressionspotenzial steigern.
Gemeinsame Prozesse etablieren
Es liegt auf der Hand, dass es enorm hilfreich ist, wenn Führungskräfte für ein Umfeld sorgen, das Diskussionen ermöglicht. Dazu gehört auch, dass Sie Teammitgliedern Zeit geben, emotionale Impulse kognitiv zu verarbeiten. Doch was passiert, wenn unterschiedliche Drehbücher aufeinandertreffen? Zunächst einmal sollten Sie akzeptieren, dass Sie die Erfahrungen, die das mentale Drehbuch Ihres Gegenübers geprägt haben, nicht kennen und kontrollieren können. Deshalb sollten Sie darauf verzichten, es offensiv infrage zu stellen. Sie mögen das Skript Ihres Kollegen vielleicht kritisch beurteilen, ändern werden Sie es jedoch kaum – zumindest nicht im Rahmen eines einzigen Treffens. Sie können jedoch einen geschützten Raum schaffen, in dem Ihre Stakeholder ihre individuellen Drehbücher erklären. Das kann befreiend wirken und dabei helfen, gegenseitiges Verständnis aufzubauen, das im weiteren Verlauf nachhaltige Lösungen ermöglicht.
Eine meiner Aufgaben an der Oxford Blavatnik School of Government besteht darin, politische Verantwortungsträger aus über 60 Ländern (darunter China und die USA, Indien und Pakistan, Israel und Palästina, Russland und die Ukraine) an einen Tisch zu bringen, um Koalitionen zu kontroversen Themen wie Klimawandel, Migration und soziale Ungleichheit zu schmieden. Unterschiedliche Drehbücher sind bei diesen Treffen die Norm.
Damit unsere Treffen erfolgreich sind, haben wir Regeln definiert und uns verpflichtet, sie auch einzuhalten. Das ist ganz wesentlich, denn es wäre unrealistisch zu erwarten, dass andere einem bereits bestehenden Verfahren zustimmen, um kontroverse Fragen zu diskutieren. Als Führungskraft sollten Sie sich deshalb die Zeit nehmen, Ihre wichtigsten Stakeholder zu identifizieren und sich deren Unterstützung zu sichern – und zwar bevor Sie sich an die Lösung eines Problems machen.
Die Regeln unserer Gemeinschaft sind einfach: Niemand hat das Recht zu verlangen, dass ein Drehbuch außen vor bleibt, weil es zu aggressiv ist. Gleichzeitig müssen alle die volle Verantwortung für das von ihnen Gesagte übernehmen. Diese zweite Verpflichtung führt dazu, dass sich die Mitglieder bemühen, wie Führungspersönlichkeiten aufzutreten und nicht nur als Diskussionsteilnehmer. Zudem bewirkt sie, dass alle Stakeholder in angemessener Weise miteinander kommunizieren. Und dies nicht, weil sie sich selbst zensieren, sondern weil sie hoffen, dass die anderen Mitglieder allmählich Verständnis für ihre Weltsicht entwickeln – auch wenn nicht jeder diese teilen wird.
Indem wir die Teilnehmenden ermutigen, ihre Drehbücher im Kontext ihrer eigenen Vorurteile offenzulegen, kommen wir schneller und mit größerer Wahrscheinlichkeit zu einer gemeinsamen Entscheidung, die langfristig Gültigkeit hat.
Indem Sie die Drehbücher Ihrer Stakeholder kennenlernen und zu verstehen versuchen, gelangen Sie zum zweiten Schritt. Auch er besteht wieder aus zwei Teilen:
Den Ursachen auf den Grund gehen
Im Juni 2020 hatte die Stadt London einen dreimonatigen Lockdown hinter sich. Cressida Dick, die Chefin der Londoner Metropolitan Police („Met“), sah sich jedoch direkt mit der nächsten Herausforderung konfrontiert: der Wut der Schwarzen Einwohnerinnen und Einwohner der Hauptstadt. Wie sich herausstellte, waren Schwarze während des Lockdowns viermal häufiger von der Polizei angehalten und kontrolliert worden als andere Bevölkerungsgruppen.
Dick selbst, die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen sowie die Opfer der zunehmenden Gewalt in der Stadt betrachteten die Personenkontrollen und -durchsuchungen eigentlich als sinnvolle Maßnahme. Ein Großteil der Schwarzen Community sah das jedoch ganz anders – und forderte das Ende der Kontrollen.
Die Beschwerdeführer wiesen darauf hin, dass Schwarze im Verhältnis deutlich öfter in systemrelevanten Berufen arbeiteten und folglich während der Ausgangsbeschränkungen häufig draußen unterwegs waren. Da Schwarze im Verhältnis zu anderen Bevölkerungsteilen nicht häufiger verhaftet wurden, gab es ihrer Ansicht nach auch keinen Grund, sie gezielt zu kontrollieren. Die Aktivistinnen und Aktivisten forderten Dick deshalb auf, einzugestehen, dass die Londoner Polizei ein Rassismusproblem habe.
Damit Sie als Führungskraft in einer solchen Situation angemessen reagieren können, müssen Sie verstehen, welcher der folgenden drei Treiber die Empörung ausgelöst hat: Ist es Hoffnungslosigkeit? Das Gefühl, dass nach unfairen Regeln gespielt wird? Oder eine Ideologie des Othering, also eine starke Abgrenzung?
Bei den ersten beiden Treibern verfügen Chefinnen und Chefs über einen gewissen Handlungsspielraum: Sie können etwa erklären, warum es sich ihrer Überzeugung nach lohnt, optimistischer in die Zukunft zu blicken. Außerdem können sie die Chance nutzen, um herauszufinden, warum sich ihre Stakeholder betrogen fühlen.
Im Fall der Polizeikontrollen während des Lockdowns in London lag die Wut der Protestierenden in der Geschichte begründet. Die Polizei der Stadt war seit Langem dafür bekannt, Minderheiten zu benachteiligen und besonders im Fokus zu haben. Berichte, die diese Praxis kritisieren, reichen bis ins Jahr 1981 zurück. Dies gab Dick einen Ansatzpunkt: Um das Vertrauen der enttäuschten Bürgerinnen und Bürger zurückzugewinnen, musste sie effektivere Maßnahmen ergreifen als ihre Vorgänger.
Speist sich die Wut hingegen aus ideologischen Überzeugungen, ist es für Führungskräfte fast immer ratsam, eine direkte Konfrontation zu vermeiden. Anderenfalls besteht die Gefahr, die gegenwärtige Empörung weiter anzufachen.
Diesen Fehler beging die kanadische Regierung während der Truckerproteste in Ottawa. Den Regierungsvertreterinnen und -vertretern war von Anfang an bewusst, dass einige Forderungen der Lkw-Fahrer durchaus legitim waren. Allerdings nutzten einige Aktivisten die Aufstände, um sich besondere Vorteile zu verschaffen. Als die Regierungsvertreter die Trucker daraufhin als „Rassisten“ bezeichneten, heizten sie den Konflikt weiter an – und motivierten andere Rassisten dazu, sich den Demonstrationen anzuschließen. Zudem versperrten sie sich die Möglichkeit, das Ende der Blockade auf dem Verhandlungsweg zu erreichen. Denn sie wollten nicht dafür kritisiert werden, mit Rassisten zu debattieren.
Ich möchte Führungskräften weder das Recht auf persönliche Ideologien absprechen noch, sich angegriffen zu fühlen. Doch eines sollte deutlich werden: Stakeholder mit ihrer abweichenden ideologischen Haltung zu konfrontieren trägt selten dazu bei, die Situation zu klären. Im Gegenteil: Indem Sie solche Auseinandersetzungen vermeiden, beugen Sie einer Eskalation vor – und gewinnen Zeit, um eine Lösung zu finden.
Die Treiber identifizieren
In diesem Schritt identifizieren Sie die Kräfte, die das Ausmaß der Empörung bestimmen. Dabei kann es sich um bestimmte Personen handeln, aber auch um Ereignisse. Beide Treiber können Ansätze für eine Lösung sein.
In London wurde die Wut der Protestierenden auf die Polizei durch den gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd in Minneapolis befeuert. Die Kritik an der gängigen Praxis bei Kontrollen und Durchsuchungen aus den Reihen der Londoner Metropolitan Police heizte die Situation zusätzlich an. Am Ende war es jedoch ausgerechnet diese Kritik, die Polizeichefin Cressida Dick half, die Lage zu entschärfen: Ihre Urheber, zumeist Schwarze Beamtinnen und Beamte, waren glaubwürdige Verhandlungspartner, mit denen sie eine langfristige Lösung erarbeiten konnte.
Die sozialen Medien verstärken Auseinandersetzungen häufig noch. Sie gewährleisten Anonymität und verleiten selbst ansonsten besonnene Menschen dazu, extreme Positionen zu äußern. Werden solche Ansichten von anderen Nutzern aufgegriffen, ergänzt oder verschärft, entsteht ein Phänomen, das Fachleute als emotionale Ansteckung bezeichnen. Die Algorithmen, auf denen die Netzwerke basieren, schüren die Wut noch zusätzlich, indem sie die Vorlieben der Netzwerk-User bedienen.
Es empfiehlt sich deshalb, alle involvierten Parteien darum zu bitten, ihre Aktivitäten auf Social Media für die Zeit der Gespräche herunterzufahren. (Auch hier sollten Sie die Regeln für den gegenseitigen Umgang bereits festgelegt haben, bevor die Verhandlungen beginnen.)
Wie wollen Sie reagieren? Das sollten Sie erst entscheiden, wenn Sie herausgefunden haben, welche Faktoren die Empörung weiter verstärken. Unabhängig davon, für welche Maßnahmen Sie sich entscheiden: Wichtig ist das passende Maß. Die beiden folgenden Konzepte helfen Ihnen, die richtige Balance zu finden.
Ungleich verteilte Fähigkeiten
Der Lebensmittelriese Nestlé geriet 2015 in Indien in eine ernsthafte Krise – nach über 100 Jahren erfolgreicher Präsenz auf dem Subkontinent. Bei einer Routinekontrolle in einem staatlichen Lebensmittellabor waren Spuren von Natriumglutamat (auch bekannt als Mononatriumglutamat beziehungsweise MNG – Anm. d. Red.) in den Instantnudeln der Marke Maggi gefunden worden. Und dies, obwohl auf der Packung ausdrücklich stand, dass das Produkt kein MNG enthalte.
Zunächst ignorierte Nestlé das Problem. Die Verantwortlichen waren davon überzeugt, dass sich Nestlé im Rahmen des Zulässigen bewege. Schließlich wusste man nicht nur im Konzern, dass etwa 75 Prozent der indischen Zulieferer von verarbeiteten Lebensmitteln kleine inländische Produzenten waren, die regelmäßig falsche Angaben zu den Inhaltsstoffen ihrer Vorprodukte machten. Weil zudem die allgemeinen Schutzvorkehrungen und Standards bei indischen Herstellern deutlich niedriger waren als bei Nestlé, wähnten sich die Schweizer auf der sicheren Seite.
Als staatliche Labore bei weiteren Untersuchungen Hinweise auf einen erheblichen Bleigehalt in Maggi-Nudeln fanden, wurde die Situation jedoch zunehmend ungemütlich. Denn damit geriet das Produkt, das als gesunde Nahrung für Kinder vermarktet wurde, immer stärker ins Visier der indischen Behörden. Nestlé erklärte daraufhin, dass das Produkt zwar „ohne Zusatz von Natriumglutamat“ sei, aber bereits von Natur aus Glutamate enthalte. Auch was die Bleikonzentration anging, wiegelte Nestlé ab – und verwies auf eigene Tests in Indien, Singapur und der Schweiz. Sämtliche Untersuchungen, so Nestlé, hätten die Sicherheit der Maggi-Waren bestätigt. Für das vermeintliche Blei in den Nudeln hatte der Konzern die folgende Erklärung parat: Die erhöhten Werte seien auf mangelhafte Verfahren in den staatlichen Laboren zurückzuführen.
Als staatliche Labore in Indien Hinweise auf Blei in Maggi-Nudeln fanden, wurde die Situation für Nestlé ungemütlich.
Die indischen Behörden reagierten prompt und veranlassten lokale Rückrufaktionen für Maggi-Nudeln. Auch die Presse schoss sich auf Nestlé ein. Praktisch über Nacht büßte der Konzern die Hälfte seines fast 80 Prozent großen Marktanteils für Instantnudeln ein. Nestlés Aktienkurs sank aufgrund der Auseinandersetzungen um 15 Prozent. Um den Streit beizulegen, entschloss sich der Hersteller, die beanstandeten Produkte vorübergehend vom Markt zu nehmen. Als Nestlé die Nudeln in Indien später wieder ins Sortiment aufnahm, verzichtete das Unternehmen allerdings auf den Hinweis „ohne Zusatz von Natriumglutamat“. Der Verdacht auf einen möglichen Bleigehalt bestätigte sich tatsächlich nicht.
Die Erwartungshaltung der indischen Behörden war klar: Nestlé sollte Verantwortung übernehmen und das Problem lösen – unabhängig davon, ob der Konzern der Verursacher gewesen war oder nicht. Dass seine Zulieferer einen deutlich größeren Anteil an dem Desaster hatten, fiel dabei nicht ins Gewicht. Die Behörden gingen davon aus, dass Nestlé im Gegensatz zu seinen Lieferanten die Fähigkeiten besaß, den Sachverhalt zu klären.
Führungskräfte, die sich in einer ähnlich vertrackten Situation befinden, sollten sich deshalb vier Fragen stellen:
Ist unser Unternehmen unmittelbar für den Ärger verantwortlich?
Würde Untätigkeit das Problem verschärfen?
Haben wir uns gegenüber unseren Stakeholdern (implizit) dazu verpflichtet, auf eine solche Empörung einzugehen?
Wollen wir das überhaupt?
Nur wenn Sie alle vier Fragen mit Nein beantworten, brauchen Sie nichts zu tun. Nestlé beantwortete die erste Frage für sich mit Nein, weil der Konzern die Probleme auf regulatorische Inkohärenzen zurückführte. Die Antworten auf die anderen drei Fragen zeigten jedoch, dass das Unternehmen gute Gründe hatte, aktiv zu werden.
Nehmen wir die zweite Frage: Eine Bleivergiftung gefährdet die Gesundheit von Kindern erheblich, und weil Nestlé nichts unternahm, blieb dieser Punkt ungeklärt. Wer jedoch potenziell gravierende Schäden für andere Menschen in Kauf nimmt, weckt Empörung.
Hier kann die Rule of Rescue der Bioethik helfen: Unsere moralischen Instinkte ermutigen uns dazu, Menschen in Lebensgefahr zu helfen – unabhängig davon, ob sie sich selbst in diese Lage gebracht haben. Dabei hängt die gefühlte Verpflichtung davon ab, wie offensichtlich die Gefahr ist: Wir fühlen uns eher dazu verpflichtet, jemanden zu retten, der in einem Teich zu ertrinken droht, als jemanden, der durch eine Überschwemmung seine Existenzgrundlage verlieren könnte.
Für die dritte Frage lässt sich Folgendes sagen: Selbst in Fällen, in denen der Schaden vermutlich moderat oder gering ausfällt (wie im Fall des MNG), können Unternehmen durch einmal getroffene Aussagen (wie Maggi-Nudeln als „gesundes“ Produkt zu bezeichnen) dazu gezwungen sein, sich mit den Sorgen ihrer Stakeholder auseinanderzusetzen – auch dann, wenn sie das unmittelbare Problem nicht selbst verursacht haben.
Bei der vierten Frage sollten wir uns einen Ratschlag des Harvard-Professors und Wirtschaftstheoretikers Fritz Roethlisberger zu Herzen nehmen: Anstatt uns darüber zu beklagen, dass die Krise unsere mühevoll konstruierten Pläne über den Haufen wirft, sollten wir sie als Chance betrachten, unsere Pläne anzupassen und Ziele umso entschlossener anzugehen. Nestlé hätte den Skandal um die Maggi-Nudeln zum Beispiel dazu nutzen können, seine Verpflichtung zur Lebensmittelsicherheit zu bekräftigen.
Wenn Sie sich sicher sind, dass Sie Handlungsbedarf haben, sollten Sie sich überlegen, wie das richtige Maß dafür aussieht. Ansonsten wecken Sie Erwartungen, die Sie nicht erfüllen können. Im schlimmsten Fall bringen Sie Ihr Unternehmen dadurch vom Kurs ab oder gefährden es sogar. Womit wir beim zweiten Konzept wären.
Sich verändernde Erwartungen
2012 musste sich Schwedens Einrichtungsriese Ikea in einer schwedischen Zeitung heftige Kritik gefallen lassen: Der Konzern hatte für die Saudi-Arabien-Ausgabe seines Katalogs etliche Frauen aus den Fotos wegretuschiert. Das Unternehmen reagierte, indem es auf saudisches Recht verwies und hinzufügte, dass es diese Praxis schon lange verfolge.
Der Aufschrei in der Heimat und in den westlichen Ländern, in denen Ikea zusammengenommen 70 Prozent seines Umsatzes machte, war groß. Ein schwedischer Minister kommentierte das Vorgehen mit den Worten: „Dass Ikea in einem Land, das dringender als jedes andere über die Prinzipien und Werte von Ikea informiert werden sollte, einen wichtigen Teil des schwedischen Images und damit einen wichtigen Teil seiner eigenen Werte ausblendet, ist völlig inakzeptabel.“
Damit traf er einen Nerv: Das Unternehmen hatte sich über viele Jahre hinweg gerühmt, der Inbegriff schwedischer Kultur zu sein. Ein Besuch in einem Ikea-Einrichtungshaus, ausgestattet mit skandinavischem Design und Restaurant für nordische Spezialitäten, mutete überall wie ein Kurztrip nach Schweden an.
Über viele Jahre hatte Ikea beträchtlich von dieser Strategie profitiert und schwedische Werte weitgehend hochgehalten. Bereits in den frühen 2000er Jahren achtete der Konzern auf faire Arbeitsbedingungen und hohe Umweltstandards entlang seiner Lieferkette. Damit war er vielen Unternehmen deutlich voraus. So auch in den 1990ern, als homosexuelle Paare in der Ikea-Werbung auftauchten. Auch sonst verpasste der Konzern kaum eine Chance, sich als Vertreter eines progressiven Schwedens zu präsentieren. Deshalb schien es so gar nicht zu passen, dass das Möbelhaus Abbildungen von Frauen aus seinem Katalog für Saudi-Arabien strich.
Ikea hatte Saudi-Arabien bereits Anfang der 1980er Jahre als Markt für sich entdeckt. Damals hatte die Herrscherfamilie des Landes gerade eine Machtübernahme durch radikale Islamisten verhindert. Am Beispiel Iran hatten die Regierenden genau beobachtet, was passieren kann, wenn sich ein Land zu sehr nach Westen öffnet. Deshalb beschlossen sie, einen härteren Kurs zu fahren. In den 30 Jahren danach veränderte sich Saudi-Arabien jedoch stark. So kam es, dass sich selbst saudi-arabische Medien über den Katalogskandal von Ikea lustig machten.
Drei Fragen für den Realitätscheck
Unternehmen, die explizit oder implizit ethische Verpflichtungen gegenüber ihren Kunden und anderen Interessengruppen eingehen, können von solchen Verschiebungen leicht kalt erwischt werden. Umso wichtiger ist es, dass sie sich in Krisensituationen einem Realitätscheck unterziehen. Als Führungskraft sollten Sie dazu drei Fragen beantworten:
Mit welcher Strategie wollen wir dieser Verpflichtung glaubwürdig nachkommen?
Wo hat diese Verpflichtung ihre Grenzen, und wie haben wir dies an unsere Stakeholder kommuniziert?
Wie gehen wir damit um, wenn sich die Erwartungen an diese Verpflichtung ändern?
Ikea hatte sich gegenüber seinen schwedischen und westlichen Stakeholdern mit seinen Entscheidungen zur Markenidentität immer wieder neu dazu verpflichtet, die Werte seines Heimatlandes hochzuhalten. Das Unternehmen war allerdings davon ausgegangen, dass diese Verpflichtung endet, wenn es die Gesetze eines anderen Landes erfordern. Dies zu kommunizieren hatte der global agierende Konzern allerdings versäumt. Zudem war man im Unternehmen nicht darauf vorbereitet gewesen, dass mit zunehmender Liberalisierung der schwedischen Gesellschaft auch von Ikea-Chefinnen und -Chefs anderes erwartet wurde.
Ähnlich verhielt es sich im Fall der Metropolitan Police in London. Einige Stakeholder waren der Überzeugung, dass Polizeichefin Cressida Dick mit ihrem Eingeständnis, die Behörde habe ein Rassismusproblem, ein starkes Signal gesetzt hatte. Für sie war damit klar, dass sich die Met in Zukunft aktiv an der Bekämpfung des Problems beteiligen würde. Die Polizei war zwar nicht allein für die Empörung innerhalb der Schwarzen Bevölkerung verantwortlich. Sie konnte jedoch dabei helfen, die Wogen zu glätten.
Dennoch zögerte Dick. Sie wusste: Wenn eine Polizeichefin ihrer eigenen Behörde ein solches Label verpasste, würde dies hohe politische Wellen schlagen. Zudem würde es bei einigen Stakeholdern Erwartungen wecken, die Dick nicht erfüllen könnte. Darüber hinaus betrachteten viele ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Eingeständnis ihrer Chefin als demoralisierend und beleidigend. Dies wog schwer: Die Proteste gingen weiter, und die Gewalt in London nahm zu. Dick konnte sich jetzt noch weniger als sonst Massenkündigungen oder Boykotte innerhalb der Belegschaft leisten.
Wie dieser Fall zeigt, sind die Reaktionen und Gefühle der Beschäftigten ein guter Ausgangspunkt, um mögliche Auswege aus einer Zwickmühle zu finden. Wenn Ihre Teammitglieder das Gefühl haben, Sie tun nicht genug, um die Empörung und den Ärger (externer) Stakeholder einzudämmen, sollten Sie Ihren Ansatz überdenken. Dies gilt allerdings ebenso, wenn Ihr Team befürchtet, Sie könnten zu viel tun.
Das Beispiel der Metropolitan Police zeigt, wie wichtig es ist, den Beschäftigten – die idealerweise auch andere Stakeholder repräsentieren –, Mitspracherecht in solchen Belangen einzuräumen.
Obwohl der Anteil nicht weißer Beamter bei der Londoner Polizei seit dem Jahr 2000 um das Fünffache gestiegen war, betrug er 2020 nur 15 Prozent. Damit war er deutlich niedriger als in der Bevölkerung der Hauptstadt, wo er insgesamt bei 40 Prozent lag. Dick wurde klar: Solange die Londoner Polizei in ihrer Zusammensetzung nicht stärker die Community repräsentierte, für deren Sicherheit sie verantwortlich war, würde sie das Rassismus-Etikett nicht loswerden. Also machte es sich die Polizeichefin zur Aufgabe, den Recruitingprozess neu aufzusetzen. Ihr Ziel: Mitarbeiter aus jenen Communitys einzustellen, in denen sie das geringste Vertrauen genoss.
Als Nächstes sollten Sie planen, wie Sie vorgehen möchten. Dies ist ein zweiteiliger Prozess. Finden Sie zunächst heraus, wo Sie intern und extern Unterstützung für Ihre Pläne bekommen. Damit dies klappt, müssen Sie sich bewusst machen, woher Ihre persönliche Macht kommt. In einem zweiten Schritt sollten Sie dann überlegen, wie sich Ihre Macht und Ihr Einfluss im Zeitverlauf verändert haben.
Woher die Macht kommt
Um dies herauszufinden, teilen Sie die Macht in vier Kategorien ein:
Macht durch Rang oder Befehlsbefugnis ist die Fähigkeit, das Verhalten anderer durch Anordnungen zu kontrollieren. Diese Macht besitzen Sie aufgrund Ihrer Position und Ihrer Fähigkeit, knappe Ressourcen zu steuern – etwa indem Sie Mitarbeiter einstellen, befördern oder entlassen. Diese Art von Macht hat grundlegenden Charakter, variiert aber je nach Organisationstyp: Verantwortliche im (nicht militärischen) öffentlichen Sektor haben in der Regel weniger Möglichkeiten zum Durchgriff als Managerinnen und Manager in privaten Unternehmen.
Reziproke Macht oder Macht durch Gegenseitigkeit entsteht durch Leistung und Gegenleistung. Sie kann vollständig auf Transaktionen beruhen, so wie die Macht, die Sie als Führungskraft über einen Zulieferer im Austausch gegen Geld haben. So muss es aber nicht sein: In sozialen Netzwerken wird in der Regel keine Gegenleistung erwartet. Hier ergibt sich die Macht vielmehr aus einer empfundenen Gegenseitigkeit. Je mehr Sie bereit sind zu geben, desto mehr Einfluss genießen Sie. Denn Beziehungen, die über viele Jahre und regelmäßigen Kontakt entstanden sind, haben eher das Potenzial, andere zu mobilisieren.
Emotionale Macht entsteht durch persönliche Ausstrahlung. Wie reziproke Macht stützt sie sich auf Beziehungen; Gegenleistungen werden allerdings kaum erwartet. Eltern und Kinder haben zum Beispiel emotionale Macht übereinander. Das Gleiche gilt für Menschen, die derselben Glaubensgemeinschaft angehören oder sehr starke Überzeugungen miteinander teilen.
Rationale Macht ist die Fähigkeit, die eigenen Ziele und Methoden schlüssig (und auf Beweisen beruhend) zu erklären. Führungskräfte nutzen diese Form der Macht häufig, um sachkundige Kolleginnen und Kollegen als Mitstreiter zu gewinnen.
Um besser zu verstehen, in welcher Kategorie Sie Ihre Macht verorten können, sehen wir uns die Herausforderung an, vor der Meghana Pandit, Chief Medical Officer der Oxford University Hospitals (OUH), 2020 zu Beginn der Corona-Pandemie stand.
Die britische Regierung hatte damals angeordnet, dass die OUH und andere öffentliche Kliniken elektive Eingriffe – also geplante und planbare Operationen –, weiter durchführen sollten. Ziel war, einen großen Nachholbedarf zu vermeiden, sobald die Pandemie abebben würde.
Aus Sorge, dass im Ernstfall nicht genügend Schutzausrüstung für das medizinische Personal zur Verfügung stehen könnte, widersetzten sich einige Chirurginnen und Chirurgen dieser Anweisung. Sie fürchteten, sich mit dem Virus anzustecken und daran zu sterben. Pandit musste entscheiden, ob sie der staatlichen Vorgabe Folge leisten und die emotional aufgeladene Situation noch weiter verschärfen sollte.
Obwohl die OUH zu den weltbesten Krankenhäusern zählten, hatte es in jüngerer Vergangenheit immer wieder Zwischenfälle gegeben. 2018 meldete die Klinik acht „Never Events“ – schwerwiegende Fehler, die zu Schäden bei Patientinnen und Patienten geführt hatten, darunter etwa Operationen auf der falschen Körperseite. Zudem ergaben Mitarbeiterbefragungen, dass viele Beschäftigte zwar mit ihrer eigenen Leistung äußerst zufrieden waren, die Teamarbeit jedoch zu wünschen übrig ließ. Zudem bemängelten die Mitarbeitenden, dass das Management Beschäftigte bei Fehlern nicht unterstützte und sich über Risikomanagementprozesse hinwegsetzte. Von der britischen Care Quality Commission hatten die OUH die Note „verbesserungswürdig“ erhalten.
Der Board der OUH war alarmiert. 2019 bat das Gremium Meghana Pandit – zu diesem Zeitpunkt Chief Medical Officer eines anderen britischen Krankenhauses –, den Führungsposten zu übernehmen. Die neue Chefin konzentrierte sich zunächst darauf, die OUH stärker auf Patientensicherheit und -zufriedenheit auszurichten, eine Fehlerkultur zu etablieren und das Vertrauen ins Management zu stärken. Die ersten Ergebnisse waren vielversprechend. Doch dann begann die Pandemie, und Meghana Pandit musste sich mit dem Widerstand der Chirurgen auseinandersetzen.
In dieser Situation besaß sie ein beträchtliches Maß an Macht und Durchgriffsbefugnis. Sie entschied, wer an den OUH praktizieren durfte und wer nicht. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie die staatliche Anordnung zu den geplanten Eingriffen sicherlich durchsetzen können. Zudem genoss sie eine gewisse rationale Macht: In medizinischer Hinsicht befand sie sich mit den Chirurgen in ihrem Haus auf Augenhöhe. Sie besaß ausreichend fachliche Autorität, um die Vorteile der staatlichen Anordnung zu kommunizieren. Zudem konnte sie glaubwürdig das hippokratische Ideal vermitteln, das die Klinik anstrebte.
Was ihr jedoch fehlte, war emotionale Macht. Als Frau und Angehörige einer ethnischen Minderheit war sie nicht Teil der Seilschaft männlicher Mediziner in Oxford. Es war unwahrscheinlich, dass diese sich von Pandits Charisma allein umstimmen ließen. Zudem besaß sie keine reziproke Macht der transaktionalen Art, denn als öffentliche Einrichtung konnten die OUH Gehälter und Boni nicht selbst festlegen. Diese basierten größtenteils auf nationalen Gehaltstarifen. Durch den von ihr angestoßenen Kulturwandel besaß Pandit jedoch über die Beziehungsebene reziproke Macht. Diese entfaltete allerdings nur langsam ihre Wirkung.
Pandit entschied sich letztlich dafür, die staatliche Vorgabe nicht umzusetzen und die Sorgen des chirurgischen Personals ernst zu nehmen. Warum, wird in der nächsten Phase deutlich.
Wie sich Macht mit der Zeit verändert
Hätte Pandit die Anweisung umgesetzt, hätte sie riskiert, die reziproke Macht zu verspielen, die sie bis dahin gewonnen hatte. Vermutlich hätte sie diese auch in Zukunft nicht wiederherstellen können. Der Kulturwandel, den sie angestoßen hatte, zielte darauf, das Vertrauen der Belegschaft in die Führung zu stärken. Ihr war klar: Würde sie die Sorgen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht ernst nehmen, wäre das kontraproduktiv. Am Ende ging Pandit mit ihrer Entscheidung kurzfristig Risiken ein (die Regierung gegen sich aufbringen und widerspenstige Mitarbeiter ermuntern), um ihr langfristiges Ziel (eine Klinik ohne „Never Events“) zu erreichen.
Zudem wollte sie sich ihre Durchgriffsbefugnis für eine Zeit aufsparen, in der sie diese wirklich brauchte. Damals, im März 2020, wusste noch niemand, wie lange die Pandemie dauern würde und welche Entscheidungen vielleicht nötig waren. Diese Macht zu früh aufzubrauchen schien Pandit nicht ratsam.
Während Sie sich vergegenwärtigen, wie sich Ihre Macht im Zeitverlauf verändert, sollten Sie auch berücksichtigen, wie Macht ausgeübt werden kann: implizit durch die Unternehmenskultur, indirekt durch die Kontrolle der Agenda und explizit durch direktes Handeln (durch Sie oder Personen, die in Ihrem Namen agieren). Grundsätzlich ist der erste Ansatz den anderen beiden vorzuziehen. Er eröffnet Ihnen die Chance, Ihre Macht zu stärken – jedenfalls wenn es Ihnen gelingt, Ergebnisse auf Basis gemeinsamer Überzeugungen herbeizuführen. Die Anwendung der anderen zwei Optionen könnte Ihren Einfluss dagegen schmälern. Oft erleichtert es die Entscheidung, wenn Sie die drei Möglichkeiten auf ihre Umsetzbarkeit hin prüfen.
Wäre der Kulturwandel in den OUH bereits weiter fortgeschritten gewesen, hätte das chirurgische Personal vielleicht gar nicht revoltiert, weil es dem Management vertraut hätte, das Richtige zu tun. Aber so weit war es bei Ausbruch der Pandemie noch nicht. Pandit musste also ein anderes Vorgehen wählen. Für sie bot sich die Strategie an, die Agenda zu kontrollieren.
Im März 2020 beschäftigten Pandit neben den Sorgen der Chirurgen noch weitere Probleme: Sie musste Corona-Quarantänestationen einrichten und das medizinische Personal auf die Triage vorbereiten. Es musste lernen zu entscheiden, welche Patientinnen und Patienten an die wenigen Beatmungsgeräte angeschlossen werden und ein Intensivbett erhalten sollten. Pandit musste zudem festlegen, welche Abteilungen des Krankenhauses Zugang zu den begrenzten Schutzausrüstungen und Corona-Tests erhalten sollten. Und sie musste Personalpläne erstellen, die den Beschäftigten genügend Zeit zur Erholung ließen, um das höchstwahrscheinlich steigende Patientenaufkommen zu bewältigen.
Da Pandit sich ihre Befehlsbefugnis für später aufheben wollte und nur begrenzte reziproke Macht besaß, fragte sie ihr Chirurgenteam um Rat, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Damit übertrug sie ihnen ihre Machtbefugnis und ließ sie in ihrem Namen agieren. Das zahlte sich aus: Durch den Zuwachs an Macht veränderte sich die Perspektive der Chirurgen. Sie erkannten, wie klein ihre Sorgen angesichts der sich auftürmenden Probleme waren und gaben ihren Widerstand auf.
Bei ihrer Entscheidung befolgte Pandit übrigens Roethlisbergers Rat: Mithilfe einer Zukunftsvision der OUH – Krankenhäuser, in denen eine Kultur des Vertrauens herrscht, – fand sie einen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise.
Schritt 5: Die Resilienz steigern
Das von mir vorgestellte Framework verlangt Unternehmen und Führungskräften einiges ab. Deshalb ist es wichtig, die persönliche und organisationale Resilienz zu stärken. Mit Resilienz meine ich die Fähigkeit, sich von negativen Erlebnissen zu erholen. Ebenso wichtig ist es jedoch, mögliche Risiken und damit verbundene Fehler einzuschätzen.
Organisationale Resilienz
Sie entsteht, wenn Entscheidungsbefugnisse an vertrauenswürdige und kompetente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter delegiert werden, die die Situation vor Ort kennen. Dazu sind – wie die Wirtschaftswissenschaften es nennen – „psychologische Verträge“ notwendig: stillschweigende Übereinkünfte zwischen Führungskräften und Beschäftigten über die Werte, die beide Seiten bei ihren Entscheidungen zugrunde legen und von denen sie sich bei ihren Reaktionen leiten lassen.
Ein schönes Beispiel hierfür sind Toyota und die sogenannte Andon Cord des Unternehmens – eine Art Reißleine oder ein Druckknopf am Fließband. Sobald die Mitarbeitenden vor Ort einen möglichen Fehler im Produktionssystem bemerken, sind sie angehalten, die Reißleine zu ziehen. Daraufhin wird der gesamte Prozess gestoppt. Der damit verbundene Aufwand ist erheblich.
Explizite Regeln, wann die Andon Cord betätigt werden soll, gibt es nicht. Stattdessen besteht eine stillschweigende Übereinkunft zwischen den Beschäftigten am Fließband und dem Management, dass Erstere die Reißleine nicht leichtfertig ziehen und Letztere die Beschäftigten nicht bestrafen, wenn sie die Reißleine einmal fälschlicherweise (nicht) gezogen haben. Andere Automobilhersteller versuchen seit Jahren, das System von Toyota zu kopieren. Sie scheitern jedoch immer wieder, weil sie nicht in der Lage sind, die dafür nötigen psychologischen Verträge zu schließen.
Organisationale Resilienz wird auch dadurch beeinflusst, wie gut es der Führungsebene gelingt, aktuelle Probleme zu lösen und gleichzeitig Strategien zu entwickeln, wie in Zukunft mit solchen umzugehen ist. Neben einer möglichen Revolte durch das chirurgische Personal hatte Meghana Pandit viele weitere Schwierigkeiten zu bewältigen. Sie entschied sich, dem Kulturwandel oberste Priorität einzuräumen. Warum konzentrierte sie sich auf etwas so wenig Greifbares, wenn so viele konkrete Aufgaben vor ihr lagen?
Leadership-Experte Stephen Covey hat hierauf eine Antwort. Ihm zufolge verwechseln Führungskräfte häufig „wichtig“ mit „dringend“. Gerade in Krisensituationen müssen sich die Verantwortlichen um viele dringende Aufgaben kümmern, und dies kann schnell ihre gesamte Zeit in Anspruch nehmen. Doch je mehr sich Führungskräfte auf die Brandbekämpfung fokussieren, desto weniger Aufmerksamkeit schenken sie der Brandprävention und desto mehr Feuer müssen sie in Zukunft löschen.
Je mehr Sie sich auf die Brandbekämpfung fokussieren, desto weniger Aufmerksamkeit schenken Sie der Prävention – und desto mehr Feuer müssen Sie in Zukunft löschen.
Hätte Pandit den Kulturwandel im März 2020 nicht als prioritäre Aufgabe begriffen, hätte sie im weiteren Verlauf der Pandemie die vielen dringenden Entscheidungen nicht treffen können, die von ihr erwartet wurden. Also beschloss sie, weiter am Aufbau einer Unternehmenskultur zu arbeiten, die die Patientensicherheit, das Vertrauen in die Klinikführung und ein intelligentes Risikomanagement in den Mittelpunkt stellte – ohne dabei die Notfallversorgung aus dem Blick zu verlieren. Zudem war es ihr erklärtes Ziel, ihre Mitarbeitenden so gut auszubilden, dass die Klinik künftig noch mehr Notfälle bewältigen konnte, ohne sie dabei zu überfordern.
Persönliche Resilienz
Dies ist vielleicht das am wenigsten greifbare Element des Frameworks. Führungskräfte sprechen nicht gern darüber, weil sie befürchten, man könne ihnen einen Mangel an persönlicher Widerstandsfähigkeit unterstellen. Im Folgenden habe ich Erkenntnisse aus verschiedenen Texten zu drei wichtigen Schlussfolgerungen zusammengefasst.
Optimismus ist nicht gleich Resilienz. Eine positive Denkhaltung ist ein wichtiger Bestandteil persönlicher Resilienz. Geht es darum, Empörung zu bewältigen, muss sie ständig austariert werden. Dazu gehört es auch, die Situation laufend neu zu bewerten sowie Strategie und Maßnahmen bei Bedarf anzupassen. Der Autor und Berater Jim Collins bringt den Unterschied auf den Punkt. Er ist sicher, dass Führungskräfte beides können müssen: Fest daran glauben, dass sie ihr Ziel erreichen werden, und sich zugleich täglich neu disziplinieren, unangenehme Realitäten zu erkennen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Vorsicht vor erlernter Hilflosigkeit. Menschen konstruieren häufig falsche Narrative zu ihren Misserfolgen. Den Job zu verlieren ist eine traumatische Erfahrung, die am Selbstwertgefühl nagt. Erlebt die Person auch am neuen Arbeitsplatz Schwierigkeiten, besteht die Gefahr, dass sie diese auf persönliche Unzulänglichkeiten zurückführt und nur schwer mit der Situation zurechtkommt.
Um eine solche erlernte Hilflosigkeit zu überwinden, müssen wir erkennen, dass unsere Drehbücher falsch sind. Dazu ist häufig Unterstützung von außen nötig. Fachleute sprechen hier von Active Constructive Responding (zu Deutsch: aktive konstruktive Kommunikation). Für die Londoner Polizeichefin Cressida Dick ist zum Beispiel ein Netzwerk an Freundinnen und Freunden, denen sie vertrauen kann, unverzichtbar.
Gelassenheit entwickeln. Der antike Stoiker Epiktet war überzeugt: „Die Hauptaufgabe im Leben besteht einfach darin, die Dinge zu erkennen und zu trennen, sodass ich mir klar sagen kann, welche Dinge extern sind und nicht unter meiner Kontrolle stehen und welche mit den Entscheidungen zu tun haben, die ich tatsächlich kontrollieren kann.“
Auf diese philosophische Erkenntnis stieß ich bei den Recherchen zu meinen Case Studies. Mir fiel auf, dass Führungskräfte, die im Zeitalter der Empörung Erfolg haben, oft eine stoische Gelassenheit an den Tag legen. Diese Methode wird fälschlicherweise allzu oft mit Emotionslosigkeit gleichgesetzt. Für Stoiker besteht das Ziel jedoch nicht darin, die eigenen Gefühle zu negieren, sondern darin, pathologische Zustände zu vermeiden.
Karl Popper, einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, war der Ansicht, dass wissenschaftlicher Fortschritt nur möglich ist, wenn wir unsere Theorien über die Welt widerlegen. Dafür brauche es einen Prozess der ständigen Kritik. Ironischerweise war Popper selbst für seine Unfähigkeit bekannt, „irgendeine Form von Kritik anzunehmen“, wie es sein Biograf Adam Gopnik ausdrückt.
In Bezug auf diesen Widerspruch schlussfolgerte Gopnik: „Es geht nicht einfach darum, dass wir unseren Idealen nicht gerecht werden, sondern dass wir das gar nicht können, weil unsere Ideale genau der Teil unseres Selbst sind, den wir nicht unmittelbar als Teil des Lebens betrachten.“
Ich versuche jeden Tag dem Ansatz zu folgen, den ich hier vorgestellt habe, doch es gelingt mir nicht immer. Ich hoffe, dieses Eingeständnis tröstet und ermutigt andere Führungskräfte, die versuchen, sich in einer polarisierten und unsicheren Welt zurechtzufinden. © HBP 2023
Autor
Karthik Ramannaist Professor für Business & Public Policy an der Blavatnik School of Government der Universität Oxford.
Kompakt
Das Problem Führungskräfte aller Branchen haben es heute mit wütenden Stakeholdern zu tun. Das zeigen die Truckerproteste gegen eine berufsbezogene Corona-Impfpflicht in Ottawa. Damals bekamen Regierung und Unternehmen die Empörung der Demonstrierenden zu spüren. Etliche der attackierten Firmen trugen keine direkte Schuld an der Entwicklung. Trotzdem wurden sie angefeindet.
Die Gründe Mehrere Kräfte fachen die Wut an: Viele Menschen blicken sorgenvoll in die Zukunft und haben das berechtigte oder unberechtigte Gefühl, unfair behandelt zu werden, während andere große Profite einstreichen. Zudem gewinnen Ideologien an Attraktivität, die extrem stark auf Abgrenzung beruhen. Sie treiben Abwehrreaktionen und Spaltung weiter voran.
Die Lösung Auf Basis von Case Studies und Erkenntnissen aus Psychologie, BWL und Philosophie hat der Autor ein Framework zum Umgang mit aufgebrachten Stakeholdern entwickelt:1. Das passende Klima schaffen. 2. Die Wut analysieren. 3. Die richtige Reaktion entwickeln. 4. Die eigene Macht erkennen. 5. Die Resilienz steigern.
Dieser Beitrag erschien erstmals in der April-Ausgabe 2023 des Harvard Business managers.
