Mit einem neuen IT-Campus will die Schwarz-Gruppe die Tech-Giganten aufmischen. - (Foto: Handelsblatt)
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Revolution bei Lidl: Wie die Schwarz-Gruppe den Giganten aus dem Silicon Valley nacheifert

Auch weil das Kerngeschäft stockt, will sich Deutschlands härtestes Handelshaus neu erfinden. Die Treiber des Wandels: ein 84-jähriger Firmengründer und sein ungewöhnlicher Vorstandschef.

  • Die Schwarz-Gruppe hat ambitionierte Pläne: als Cloud-Anbieter will sie jetzt mit Tech-Giganten wie Amazon oder Microsoft konkurrieren.

  • Es ist nicht das erste mal, dass man außerhalb des bisherigen Kerngeschäfts wachsen will.

  • Wie die Schwarz Gruppe ihre Digitalsparte im umkämpften Markt etablieren will und wie es im Handelsgeschäft weitergeht, erklärt Gerd Chrzanowski im Handelsblatt-Interview.

Die Zukunft von Europas größtem Händler entsteht auf sechzehn Hektar südlich von Bad Friedrichshall. Zwischen den Flüssen Neckar und Kocher wächst ein Campus heran, groß wie 22 Fußballfelder, der einmal bis zu 5000 IT-Spezialisten der Schwarz-Gruppe aufnehmen soll. „Hier geht es darum, wie wir künftig arbeiten werden“, sagte Konzernchef Gerd Chrzanowski beim ersten Spatenstich.

Im Jahr 2026 sollen die ersten Gebäude bezugsfertig sein. - Foto: projektcampus.schwarz
Im Jahr 2026 sollen die ersten Gebäude bezugsfertig sein. - Foto: projektcampus.schwarz

Im Jahr 2026 sollen die ersten der insgesamt sieben geplanten Gebäude bezugsfertig sein, terrassenartig angelegt auf einem Hang, mit viel Glas und Grün. Neue Geschäftsmodelle sollen dort erdacht werden – aber immer in enger Zusammenarbeit mit den Praktikern aus dem Handel, wie Chrzanowski betont.

Der Campus soll auch für eine Neuerfindung der Schwarz-Gruppe stehen. Der verschwiegene Handelskonzern mit den Kernmarken Lidl und Kaufland steht seit Jahrzehnten für niedrige Preise und unbändigen Expansionsdrang. Aber auch für überraschende Wechsel im Management und eine Firmenkultur, die mit dem Wort „rustikal“ angemessen beschrieben sein dürfte.

Nun will die Schwarz-Gruppe zu einem Daten-Discounter werden. Nach mehreren Jahren der Entwicklung startet das Familienunternehmen als Konkurrent von großen Cloud-Giganten wie Microsoft und Amazon Web Services (AWS). Kein Zweifel: Der 84-jährige Firmengründer Dieter Schwarz will es noch einmal wissen. Und den Beweis antreten, dass auch ein jahrzehntealtes Familienunternehmen sich noch einmal neu erfinden kann.

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Unter dem Namen Schwarz Digits hat das Familienunternehmen eine eigene Cloud-Sparte gegründet. Das Tochterunternehmen unter der Führung von Rolf Schumann und Christian Müller wird seine IT-Lösungen aus den Bereichen Cloud-Technologie, Cybersecurity und Künstliche Intelligenz vor allem anderen Mittelständlern anbieten.

Der Discounter will damit die Abhängigkeit von den Handelsketten Lidl und Kaufland verringern und sich neue Erlösquellen erschließen.

Vorbild ist Amazon: Dort machte die Cloud-Sparte (AWS) im zweiten Quartal einen operativen Gewinn von 5,7 Milliarden US-Dollar – das sind 74 Prozent des Gesamtgewinns. Amazon hat demonstriert, dass die Erweiterung vom Handelsunternehmen zum Datendienstleister höchst erfolgreich verlaufen kann. Diesen Erfolg versucht die Schwarz-Gruppe nun zu wiederholen. Es ist die momentan vielleicht größte Tech-Transformation in der deutschen Wirtschaft.

1. Ab in die Cloud – aber bitte nach europäischen Regeln

Schwarz Digits hat – ähnlich wie das Vorbild AWS – die Cloud-Technologie zunächst für interne Zwecke entwickelt. Im Handel, so das Kalkül, kann man ohne durchgängige Digitalisierung nicht mehr erfolgreich sein.

Die Cloud-Dienste der großen amerikanischen Anbieter AWS, Microsoft und Google, in der Branche ehrfürchtig als Hyperscaler bezeichnet, kamen laut Chrzanowski als Dienstleister für die Schwarz-Gruppe nur bedingt infrage: „Das sind alles nichteuropäische Anbieter. Uns ist die digitale Souveränität in diesem sensiblen Bereich besonders wichtig.“

Die Infrastruktur, die der Konzern über einige Jahre für interne Zwecke aufgebaut hat, will er nun an externe Kunden vermarkten. Vor allem im Mittelstand hofft das Management auf Nachfrage bei Firmen, die Nachholbedarf bei der Digitalisierung haben.

Chrzanowski stellt im Interview mit dem Handelsblatt „hohe Qualität zu einem günstigen Preis“ in Aussicht – und dank des israelischen IT-Sicherheitsspezialisten XM Cyber, der seit 2021 zum Konzern gehört, einen Schutz gegen Hackerattacken und ähnliche Unbill.

Der Topmanager führt seit Dezember 2021 die Schwarz Gruppe. - Foto: Gene Glover für Handelsblatt
Der Topmanager führt seit Dezember 2021 die Schwarz Gruppe. - Foto: Gene Glover für Handelsblatt

Das Umsatzpotenzial erscheint gigantisch: Das Marktforschungs- und Beratungsunternehmen Gartner prognostiziert, dass die Ausgaben für Cloud-Dienste in diesem Jahr um 22 Prozent auf fast 600 Milliarden Euro wachsen. Dieser Trend dürfte über Jahre anhalten. AWS, Microsoft und Google teilen sich zwei Drittel des europäischen Marktes auf. Und mit Oracle investiert ein weiteres Unternehmen aus den USA massiv, um Kunden zu gewinnen.

Es ist eine Materialschlacht. Die Hyperscaler haben in den vergangenen Jahren viele Milliarden Dollar in ihre Angebote investiert. Neben Speicherplatz, Rechenkapazitäten und Netzwerktechnik bieten sie eine Vielzahl von Diensten, mit denen Kunden beispielsweise Apps managen, Daten analysieren und ihre IT schützen können. Für viele Unternehmen sind sie längst zentrale Partner – BMW etwa arbeitet gemeinsam mit AWS am autonomen Fahren.

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Dagegen kann und will die Schwarz-Gruppe nicht antreten. Deren Versprechen ist ein anderes: Sie wollen der Discounter unter den Cloud-Anbietern sein. Schwarz Digits offeriert günstige Basisprodukte wie Speicherplatz, Rechenkapazitäten und Datenbanken plus einige weitere Services. Dazu Speicherung der Daten in Deutschland und zusätzlichen Schutz durch XM Cyber, wenn Kunden die stattlichen Extragebühren dafür zahlen.

2. Neue Geschäftsfelder – auch weil die bisherigen schwächeln

Kann ein Discounter gegen die Technologiekonzerne bestehen? Es ist eine große Wette, die die Schwarz-Gruppe eingeht. Netzwerkdienste sind keine Nackensteaks. Um mit den Marktführern von der amerikanischen Westküste mithalten zu können, muss der Cloud-Neuling aus dem deutschen Südwesten rasch eine gewisse Größe erreichen, um die Kosten zu drücken – Skalierung lautet eine Lieblingsvokabel von IT-Managern.

Auch der Datenschutz hilft womöglich nicht dauerhaft bei der Vermarktung. Zum einen hat die Europäische Union ein Abkommen mit den USA geschlossen, um Datentransfers rechtssicher zu machen. Zum anderen kooperieren Microsoft und Google mit europäischen Unternehmen, um ihre Cloud-Dienste mit zusätzlicher Absicherung anzubieten. Europäische Anbieter wie Ionos, Secunet und Owncloud vermarkten ebenfalls souveräne Cloud-Dienste.

Und so mutet die Datenoffensive der Schwarz-Gruppe auch wie eine Flucht nach vorn an. Das klassische Geschäft mit dem Discount wirft immer weniger Gewinn ab. Schon bei der Vorlage der Jahreszahlen im Mai musste der Konzern einräumen, dass die Kostensteigerungen bei Handelswaren, Rohstoffen, Energie und Transport selbst durch effizientes Prozessmanagement nur zum Teil aufgefangen werden konnten.

Was das konkret bedeutet, zeigt sich beispielhaft in der jetzt veröffentlichten Jahresbilanz der Lidl Stiftung & Co. KG. In diesem Tochterunternehmen des verschachtelten Konzerns ist das gesamte Handelsgeschäft mit Ausnahme des deutschen und französischen Marktes gebündelt.

Für das Geschäftsjahr 2022/23, das am 28. Februar endete, wies die Lidl Stiftung einen Jahresüberschuss von 1,624 Milliarden Euro aus – fast eine halbe Milliarde weniger als im Jahr zuvor.

Weil zugleich der Umsatz – auch getrieben durch die Inflation – um 22,6 Prozent auf fast 82 Milliarden Euro gestiegen ist, sank die Umsatzrendite auf zwei Prozent. Im Jahr zuvor lag sie noch bei 3,2 Prozent. Im erfolgsverwöhnten Lidl

Kosmos ist das ein Alarmsignal. Vergleichbare Kostensteigerungen dürfte es auch im deutschen Markt gegeben haben. Zahlen gibt es dafür noch nicht. „Wir stehen da schon vor einigen Herausforderungen“, sagte kürzlich Lidls Deutschland-Chef Christian Härtnagel dem Handelsblatt.

In der vergangenen Woche gab Härtnagel seinen Posten ab – aus persönlichen Gründen, wie es hieß. Er wechselte auf einen Posten in der Lidl-Stiftung. Bis sein Nachfolger, der bisherige Frankreich-Chef Friedrich Fuchs, Anfang 2024 übernehmen kann, muss Härtnagels Stellvertreter Jan Bock das wichtige Deutschland-Geschäft auf Kurs halten. Er erbt nun Lidls Margenproblem.

Härtnagel habe aus persönlichen Gründen den operativen Posten verlassen. - Foto: dpa
Härtnagel habe aus persönlichen Gründen den operativen Posten verlassen. - Foto: dpa

Sicher, die Inflation spielt eine Rolle. Aber ein großer Teil der Kostensteigerungen ist hausgemacht. So hat Lidl zum Beispiel einen starken Fokus auf frisches Obst und Gemüse gelegt. Da sich um diese Produkte ständig ein Mitarbeiter kümmern muss, erhöht das die Personalkosten in den Filialen. Auch weil die Schwarz-Gruppe, die ohnehin schon über Tarif zahlt, die Entgelte ab Oktober erneut um 5,3 Prozent erhöhen will.

Ohne steigende Bezahlung sind gute Leute im Einzelhandel nicht mehr zu kriegen. Mit Verwunderung hatten viele Konkurrenten auch registriert, wie aufwendig viele neue Lidl-Filialen in der jüngsten Vergangenheit gebaut wurden, über „Glaspaläste“ lästert man in der Branche. Nun müssen die Verantwortlichen wieder genauer aufs Geld achten.

Auch bei den Investitionen schaut der Discounter jetzt genauer hin. Beispielhaft zeigt sich das in Großbritannien, einem der wichtigsten Wachstumsmärkte. Dort hat Lidl im vergangenen Jahr sein Umsatzwachstum von 18 Prozent mit einem Vorsteuerverlust bezahlt. Nun geht es langsamer voran. Hatte Lidl im vergangenen Jahr noch 50 neue Märkte in Großbritannien aufgemacht, sollen es dieses Jahr nur noch 25 werden.

Seit einigen Jahren mischen die deutschen Discounter den britischen Lebensmitteleinzelhandel auf. - Foto: dpa
Seit einigen Jahren mischen die deutschen Discounter den britischen Lebensmitteleinzelhandel auf. - Foto: dpa

„Lidl bremst gerade etwas die Expansion. Das Unternehmen ist in einer Konsolidierungsphase“, beobachtet Marc Houppermans, Discount-Experte der Branchenberatung DRC Discount Retail Consulting GmbH. Investiert werde eher in Logistikeffizienz, um die operativen Kosten zu senken.

„In vielen Ländern war das Wachstum so stark, dass die Prozesse nicht hinterhergekommen sind“, so Houppermans, der viele Jahre als Geschäftsführer bei Aldi Nord gearbeitet hatte.

3. Der schwierige Weg zum Kreislaufkonzern

Wachstum gehört zur DNA der Schwarz-Gruppe, doch im Discount-Kerngeschäft lässt es sich immer schwerer profitabel erreichen. Also müssen neue Geschäftsfelder her.

Die Cloud-Offensive ist nicht der erste Fall, bei dem der Konzern eine interne Dienstleistung als Produkt für externe Kunden zu vermarkten beginnt – einfach weil die Gelegenheit günstig erscheint. „Die beste Strategie ist eine Strategie, die nicht als solche begonnen wurde“, sagt Schwarz-Chef Chrzanowski.

So hatte sich 2008 die Mitteldeutsche Erfrischungsgetränke (MEG), der wichtigste Mineralwasserlieferant für Lidl, bei der Expansion finanziell verhoben und stand vor dem Aus. Kurzentschlossen übernahm die Schwarz-Gruppe den Wasserlieferanten – und legte so den Grundstein zu einer eigenen Lebensmittelproduktion.

Heute beschäftigt Schwarz in seinen Fabriken für Schokolade, Nüsse, Eis, Getränke und Kaffee rund 4000 Menschen und setzt 3,4 Milliarden Euro mit der Produktion von Lebensmitteln um.

Zum Vergleich: Der deutsche Marktführer Oetker machte im vergangenen Jahr weltweit vier Milliarden Euro Umsatz mit Nahrungsmitteln, spielt als Produzent also in der gleichen Größenordnung wie die Schwarz-Gruppe.

Seit Chrzanowski 2014 Vorstand für das Ressort Zentrale Dienste der Gruppe wurde, arbeitete er still und beharrlich daran, die Wertschöpfungskette auch in die andere Richtung zu erweitern: Er will den Kreislauf schließen von der Lebensmittelproduktion über den Einzelhandel bis hin zum Recycling des dabei anfallenden Verpackungsmülls.

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Kern der Recycling-Sparte unter den Namen Prezero war die Übernahme des Entsorgers Tönsmeier 2018. Durch weitere Übernahmen, unter anderem von der Suez-Gruppe und von Ferrovial, entstand ein europaweiter Entsorger, der sogar mit einem eigenen dualen System den Müll aus den gelben Säcken einsammelt.

„Das Handelsgeschäft ist extrem margenschwach, da macht es Sinn zu schauen, wie ich über Vertikalisierung die Profitabilität verbessern kann“, sagt Kai Hudetz, Geschäftsführer des Handelsforschungsinstituts IFH in Köln. Er sehe da klare Parallelen zu Amazon: „Wenn Amazon sich immer ausschließlich aufs Kerngeschäft fokussiert hätte, wäre es heute noch ein Buchhändler.“

Die Schwarz-Gruppe beschäftigt in ihren Fabriken für Schokolade, Nüsse, Eis, Getränke und Kaffee rund 4000 Menschen. - Foto: Schwarz Produktion
Die Schwarz-Gruppe beschäftigt in ihren Fabriken für Schokolade, Nüsse, Eis, Getränke und Kaffee rund 4000 Menschen. - Foto: Schwarz Produktion

Ähnlich sieht es Discount-Experte Houppermans: „Der Betrieb einer Eisfabrik oder eines Entsorgungsunternehmens bringt eine viel höhere Gewinnmarge als der Discount.“ Lidl habe frühzeitig die Weichen für die Transformation des Unternehmens gestellt – und zwar aus einer Position der Stärke heraus, als das Handelsgeschäft sehr gut lief. „Viele Handelsunternehmen starten diese Prozesse leider erst, wenn die Probleme schon da sind“, weiß Hudetz.

Doch um in den neuen Bereichen eine nennenswerte Größe zu erreichen, sind enorme Investitionen erforderlich. So hat Prezero zum Beispiel 2020 mehr als eine Milliarde für die Übernahme von Teilen der Suez-Gruppe ausgegeben, 2021 kaufte sie für 1,1 Milliarden Euro die Entsorgungssparte des Baukonzerns Ferrovial.

Die Schwarz-Produktion hat im vergangenen Jahr 200 Millionen Euro in die Übernahmen einer Papierfabrik investiert und anschließend Deutschlands größten Nudelhersteller gekauft.

Nun kommt mit der Digitalsparte das fünfte Standbein dazu – und auch das verschlingt Milliarden. Allein die Übernahme des Cybersecurity-Unternehmens XM-Cyber Ende 2021 hat 700 Millionen Euro gekostet.

4. Vor der neuen Strategie stand der interne Machtkampf

Dieses Kapital fehlt dann natürlich für die Expansion im Kerngeschäft. Es gab eine lange interne Diskussion, ob die neuen Geschäftsbereiche Lebensmittelproduktion, Entsorgung und Cloud-Dienste zu selbstständigen Sparten ausgebaut oder als Dienstleister für das Handelsgeschäft eher klein gehalten werden sollen.

Damit wäre Chrzanowskis Revolution im Lidl-Reich im Juni 2021 fast schon zu Ende gewesen, bevor sie richtig begonnen hatte. Jahrelang hatte sein Vorgänger Klaus Gehrig in diesem Imperium geherrscht wie ein Feudalfürst. Er machte die Regeln, entließ Topmanager nach Gutdünken. Sein Spitzname im Unternehmen lautete „Killerwal“. Firmengründer Dieter Schwarz ließ ihn jahrelang gewähren – weil Gehrig Erfolg hatte.

Bis zuletzt wollte Gehrig verhindern, dass Chrzanowski sein Nachfolger als Komplementär wurde, das höchste Amt im Familienunternehmen. Im Frühsommer 2021 kam es zum Showdown. Obwohl Inhaber Schwarz Chrzanowski schon offiziell als Nachfolger benannt hatte, wollte Gehrig stattdessen seine Vertraute Melanie Köhler durchsetzen, eine 30-Jährige, fast ohne Handelserfahrung, die er über Jahre gefördert hatte.

Doch dann griff Dieter Schwarz persönlich durch. Zunächst musste Köhler das Unternehmen verlassen. Am 2. Juli wurde der Abgang Gehrigs verkündet – „weil er sich bezüglich einer für ihn sehr wichtigen Personalie nicht mit dem Inhaber einigen konnte“, wie es hieß. Der Weg für Chrzanowski und seinen Konzernumbau war frei.

Was Gehrig unterschätzt hatte: Mit seiner besonnenen und bodenständigen Art hatte sich Chrzanowski über die Jahre das Vertrauen des inzwischen 84-jährigen Schwarz erworben.

Geboren in Offenburg hatte sich Chrzanowski aus einfachen Verhältnissen hochgearbeitet, war nach dem Studium als Inhouse Consultant zu Lidl gekommen. Seine Karriere war für die Schwarz-Gruppe völlig untypisch.

Während sich andere Manager über die Führung von Landesgesellschaften nach oben arbeiteten, organisierte er Zentralfunktionen wie Finanzen, IT und Personal, bündelte sie und machte seinen Bereich schleichend zum Machtzentrum des Familienunternehmens.

Der langjährige Schwarz-Konzernchef hat seine Macht offenbar überschätzt. - Foto: Jesco Denzel / VISUM
Der langjährige Schwarz-Konzernchef hat seine Macht offenbar überschätzt. - Foto: Jesco Denzel / VISUM

Sein Widersacher Gehrig ist nun Geschichte, doch mittlerweile spürt Chrzanowski neuen Gegenwind: Die steigenden Zinsen werden zunehmend zur Belastung für das Unternehmen und engen den weiteren Spielraum für Investitionen ein.

Denn während der ewige Konkurrent Aldi alle Investitionen aus dem eigenen Kapital bezahlt, finanziert die Schwarz-Gruppe ihre Immobilienkäufe in der Regel über Fremdkapital.

„Das tut ihnen richtig weh“, sagt ein Insider über den Zinsanstieg. In der Lidl Stiftung beispielsweise ist der Zinsaufwand schon im abgelaufenen Geschäftsjahr um mehr als 200 Millionen Euro auf 360 Millionen Euro gestiegen, wie Veröffentlichungen im Unternehmensregister zeigen.

Die Verbindlichkeiten aus Finanzierungen sind bei der Lidl Stiftung innerhalb eines Jahres von 13,8 auf 17,2 Milliarden Euro gestiegen. Die Gesamtverbindlichkeiten des Unternehmens dürften weit über 20 Milliarden Euro betragen.

Als immer teureres Abenteuer entpuppt sich auch die Expansion von Lidl in die USA. Der jährliche Verlust dort soll weiterhin in dreistelliger Millionenhöhe liegen. Anders als in anderen Ländern hat es Lidl dort bisher nicht geschafft, sich an die Gegebenheiten vor Ort anzupassen. Nun soll der Amerikaner Joel Rampoldt das Geschäft als neuer US-CEO zum Erfolg führen – er ist der fünfte Landeschef in sechs Jahren.

5. Wie weit trägt die Unterstützung des Gründers?

Selbst im obersten Führungskreis der Schwarz-Gruppe gehen die Meinungen auseinander, wie das Unternehmen mit der derzeitigen schwierigen Situation umgehen soll. Ende des Monats verlassen Prezero-Chef Thomas Kyriakis und der Finanzchef der Schwarz-Gruppe, Carsten Theurer, das Unternehmen. Grund sind „unterschiedliche Auffassungen über die strategische Ausrichtung“.

Die Klammer, die bisher alles zusammenhält, ist der unbedingte Wille von Gründer Dieter Schwarz, die Transformation zum Erfolg zu machen – und seine Bereitschaft, für den Umbau zum Digitalunternehmen ins Risiko zu gehen.

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Über die Dieter Schwarz Stiftung fördert der Gründer zudem zahlreiche Institutionen im Bereich Bildung und Forschung, darunter die Programmier-Schule „42“, eine Erzieherakademie und Dutzende Stiftungsprofessuren.

Sein neuestes Großprojekt ist der Innovation Park Artificial Intelligence. Der „Ipai“ genannte Campus in Heilbronn soll das größte Ökosystem für Künstliche Intelligenz in Europa werden. 30 Hektar stehen dafür zur Verfügung und wohl bis zu zwei Milliarden Euro, wie das Handelsblatt von mit der Sache vertrauten Personen erfahren hat.

Auf 23 Hektar sollen Reallabore, ein Start-up-Innovationszentrum, ein Rechenzentrum, Restaurants, Kita und Wohnungen... - Foto: dpa
Auf 23 Hektar sollen Reallabore, ein Start-up-Innovationszentrum, ein Rechenzentrum, Restaurants, Kita und Wohnungen... - Foto: dpa

Die Pläne für den Ipai sehen Labore zum Entwickeln und Erproben von Künstlicher Intelligenz vor, außerdem sollen ein Rechenzentrum entstehen und Gemeinschaftsarbeitsflächen. Damit will die Schwarz Stiftung Unternehmen und Forschungsakteure anziehen. Porsche, Würth und der Robotikspezialist Schunk haben bereits provisorische Büros bezogen. In Zukunft könnten etwa 5000 Menschen auf dem Ipai-Gelände KI-Forschung und -Entwicklung vorantreiben.

Einer, der von dem Projekt schwärmt, ist der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann von den Grünen. Heilbronn habe hier einen „Joker“ gezogen, sagte er auf einer Veranstaltung Ende August. Dort wurde eine enge Zusammenarbeit des Ipai mit dem führenden deutschen KI-Start-up Aleph Alpha verkündet.

„Was Dieter Schwarz da leistet, ist wirklich bewundernswert“, bemerkt auch Handelsexperte Hudetz. „Er ist als Händler extrem erfolgreich geworden und hat sich immer eine Offenheit für neue Themen bewahrt.“ Das sei bei Weitem nicht selbstverständlich.

Schwarz formte aus dem kleinen väterlichen Großhandelsbetrieb einen Einzelhändler von Weltrang und eröffnete in den vergangenen 50 Jahren mehr als 13.700 Märkte unter den Marken Lidl und Kaufland. Der öffentlichkeitsscheue Mann mit den halblangen, weißen Haaren und der randlosen Brille kommt immer noch regelmäßig ins Büro und ist bestens über die Geschäftslage informiert.

Dieter Schwarz hat in den vergangenen 50 Jahren mehr als 13.700 Märkte eröffnet. - Foto: obs
Dieter Schwarz hat in den vergangenen 50 Jahren mehr als 13.700 Märkte eröffnet. - Foto: obs

Schwarz ist ein Zahlenmensch, die Menschenführung hat er früh anderen überlassen. Und doch greift er zuweilen ein, wenn es ihm wichtig scheint – manchmal auch auf unorthodoxe Weise.

Als die Schwarz-Gruppe vor einigen Jahren plante, bis zu 130 Filialen des angeschlagenen Konkurrenten Real zu übernehmen, charterte er kurzerhand einen Helikopter. So schaffte es Schwarz, in kürzester Zeit sämtliche 279 Real-Filialen in Deutschland persönlich in Augenschein zu nehmen und zu entscheiden, welche Häuser zu seiner Kette Kaufland passen könnten.

Grundsätzlich lasse er Chrzanowski beim Umbau des Unternehmens relativ viele Freiheiten, heißt es in Unternehmenskreisen. Aber klar ist auch: Letztlich muss Chrzanowski die Transformation aus den Gewinnen des laufenden Geschäfts finanzieren. Solange die neue Digitalsparte keinen Profit abwirft, trägt die Hauptlast weiter der klassische Discount. Bis zum deutschen Amazon ist es noch ein weiter Weg.

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