Rückkehr zur Erde: Wir brauchen ein tieferes Verständnis für Entstehen und Umgang mit der Klimakrise
Viele Menschen haben heute das Gefühl, dass ihnen der Boden unter den Füßen wankt. Aber wie können sie wieder festen Boden gewinnen?
Wer „landen“ möchte, muss sich zunächst richtig orientieren und eine „Karte der Positionen“ entwerfen. Alles muss aufs Neue kartografiert werden, schreibt der französische Soziologe Bruno Latour in seinem terrestrischen Manifest. Darin unternimmt er den Versuch, die Landschaft des Politischen neu zu vermessen: „Man versteht nichts von den seit fünfzig Jahren vertretenen politischen Positionen, wenn man die Klimafrage und deren Leugnung nicht ins Zentrum rückt.“ Er zeigt, dass sie in direktem Zusammenhang mit den Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten dieser Welt steht und plädiert für eine Politik, die nicht nur ökonomische Aspekte einbezieht, sondern auch die Ökologie. Sie ist für Latour ein Appell, die Richtung zu ändern: „Hin zum TERRESTRISCHEN.“ Diesen Begriff verwendet er für den wechselseitig konstitutiven Zusammenhang von mundanen (von lat. mundus = Welt) und tellurischen (von lat. tellus = Erde) Sichtweisen. Den biblischen „Erdling“ Mensch bestimmt er von hier aus neu.
Das Terrestrische ist für Latour eine neue Welt, die allerdings nicht jener ähnelt, die einst von den Modernen „entdeckt“ und dann entvölkert wurde. Damit wurde er zu einem Vordenker für das tiefere Verständnis für Entstehen und Umgang mit der Klimakrise. Im Sommer 2020 wurde eine große Ausstellung im Berliner Gropius-Bau wesentlich von ihm mitinspiriert: „Down to earth“. Mit GAIA verbindet Latour das Signal einer elementaren „Rückkehr zur Erde“. Urheber der Gaia-Theorie, die die Erde als lebendes und sich entwickelndes System betrachtet, das nach einer Selbstregulierung strebt, ist der Umweltaktivist James Lovelock. Wenn wir unsere Systeme auf der Erde stabiler bzw. resilienter machen wollen, sodass sie auch Schocks verkraften können, müssen wir uns vom Wachstum trennen, um dafür Stabilität zurückzubekommen. Mit seinen beiden Büchern „Kampf um Gaia“ (2015) und „Das terrestrische Manifest“ (2017) eröffnete Latour eine neue, auch für die Theologie weiterführende Perspektiven.
Diese werden von den Professoren Daniel Bogner (Allgemeine Moraltheologie und Ethik an der Université de Fribourg) Michael Schüßler (Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen) und Christian Bauer (Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Innsbruck) in ihrem Sammelband „Gott, Gaia und eine neue Gesellschaft“ in aktuelle gesellschaftliche Kontexte gestellt. Latours Denken sehen sie auch als einen Beitrag zum wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis der Theologie. Dabei geht es unter anderem um die Fragen: Wie lassen sich mit ihm Welt und Gesellschaft anders denken, und welche Möglichkeiten eröffnen sich dadurch für die Theologie? Welche Impulse ergeben sich aus seinen Laborstudien für den Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie?
Der Klimaexperte Hans Joachim Schellnhuber fasst die Dringlichkeit eines entsprechenden „terrestric turn“ der Theologie in ein drastisches Bild: „Man könnte die Situation mit einem leckgeschlagenen Schiff auf hoher See vergleichen. Natürlich gibt es auch neben dieser Havarie Probleme: Das Essen in der dritten Klasse ist miserabel, die Matrosen werden ausgebeutet, die Musikkapelle spielt deutsche Schlager, aber wenn das Schiff untergeht, ist all das irrelevant. Wenn wir den Klimawandel nicht in den Griff bekommen, wenn wir das Schiff nicht über Wasser halten können, brauchen wir über Einkommensverteilung, Rassismus und guten Geschmack nicht mehr nachzudenken [– und dann letzten Endes wohl auch nicht mehr über Theologie und Kirche.“
In seiner ersten Umwelt-Enzyklika „Laudato Si" („Über die Sorge für das gemeinsame Haus"), die Umweltaspekte, Ethik, Politik und Religion verbindet, charakterisierte Papst Franziskus 2015, wie es mit unserer Erde und uns „bestellt" ist. Mit Blick darauf würdigt der Katholik Latour eine terrestrisch „erdsensible“ Spiritualität, die sich dieser existenziellen Herausforderung zu stellen bereit ist: „Der Kosmos […] braucht […] eine Religion, die sich […] mit den Wissenschaften und der Politik zu verbünden lernt […]. In diesem Punkt hatte ich schon jede Hoffnung aufgegeben, als ich bei der Lektüre der Enzyklika […] zu meiner freudigen Überraschung feststellte, dass hier […] die ERDE als ›Mutter‹ und ›Schwester‹ angesprochen wurde [und] […] der Papst schwungvoll den Bogen von der Ökologie zur Politik spannte […].“ Bekannt wurde Latour als Kritiker der modernen „Reinigungsarbeit“, die getrennte Sphären zwischen Natur und Kultur, Ursachen und Gründen einerseits, Folgerungen und Wirkungen andererseits herstellen wollte:
Um Gesamtzusammenhänge zu verstehen, sollten sich Wissenschaften ergänzen und miteinander kooperieren. Abschottung, Arroganz und Deutungshoheit kann sich heute niemand mehr erlauben. Der Sammelband trägt wesentlich dazu bei, dass sich Fachbereiche öffnen und gemeinsam am Big Picture einer erdverbundenen Welt arbeiten. Auch das gehört in den Kontext nachhaltiger Bildung.
Politische Unwetter: Warum wir wieder festen Boden unter den Füßen brauchen
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Daniel Bogner / Michael Schüßler / Christian Bauer (Hg.): Gott, Gaia und eine neue Gesellschaft. Theologie anders denken mit Bruno Latour. Transcript Verlag, Bielefeld 2021.
Bruno Latour: Das terrestrische Manifest. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
Alexandra Hildebrandt: Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2020.