Satellitenbilder zeigen: Über 10.000 unverkaufte Chery-Autos stauen sich im früheren VW-Werk Kaluga – russischer Automar
Das einstige russische VW-Werk bringt auch dem chinesischen Autobauer Chery kein Glück, zeigen Satellitenbilder. Zehntausend unverkaufte Autos stauen sich dort. Wirtschaft von oben ist eine Kooperation mit LiveEO.
In einem Golfkarren chauffiert Wladimir Putin Volkswagen-Chef Martin Winterkorn durch eine Werkshalle. Es sei ein „sehr feierlicher Tag“, sagt der russische Präsident später und lacht. Im Städtchen Kaluga, drei Autostunden südlich von Moskau, eröffnen der Kreml-Herrscher und der VW-Chef an diesem Oktobertag des Jahres 2009 die seinerzeit neueste VW-Produktionsstätte. Ein Vorzeigeprojekt, mit dem der Konzern ein klar definiertes Ziel verfolgt: „Heute sind wir schon die Nummer drei auf dem russischen Markt“, so VW-Chef Winterkorn damals. „Aber das reicht uns nicht.“
16 Jahre später wirkt alles an dieser Szene befremdlich. Mit Putin sollen Westkonzerne nicht mehr ins Geschäft kommen. Winterkorn gilt aufgrund seiner Verwicklung in den Dieselskandal in Wolfsburg als unerwünschte Person. Der damals formulierte Anspruch passt in vielerlei Hinsicht nicht mehr in die Gegenwart. Und längst hat Volkswagen die Produktion in Kaluga, in die der Konzern insgesamt mehr als eine Milliarde Euro investiert hatte, an russische Firmen verramscht. Nur 125 Millionen Euro bekam VW am Ende für seine komplette russische Tochter, in die über die Jahre insgesamt rund zwei Milliarden Euro geflossen waren.
Käufer des Geschäfts waren im Jahr 2023 der russische Finanzinvestor Art-Finance und seine Muttergesellschaft, die Autohändlervereinigung Avilon. Doch die Fertigung in Kaluga scheint auch den neuen Eigentümern und ihrem chinesischen Partner kein Glück zu bringen. Am Autowerk Kaluga offenbaren sich konzentriert die Schwächen der russischen Wirtschaft, die das Regime mit aller Kraft vor den Blicken des Westens abzuschirmen versucht.
Satellitenbilder von Anfang August 2024 zeigen, wie die letzten paar Hundert Autos, die VW nach Russlands Überfall auf die Ukraine in Kaluga zurückgelassen hatte, zügig verschwinden. Zeitgleich sammeln sich an anderer Stelle des Geländes neue Fahrzeuge. Monat für Monat werden es mehr, eine freie Fläche nach der anderen wird zugeparkt. Im Frühjahr 2025 ist das Werk von einem Meer an Neuwagen umgeben. Ein Anfang Juni aufgenommenes Satellitenbild zeigt, dass selbst auf den Wiesen des Geländes Autos stehen, weil die asphaltierten Flächen nicht mehr ausreichen.
Geparkt werden hier laut russischen Medien SUVs aus der Modellreihe Tiggo, gebaut vom staatlichen chinesischen Autohersteller Chery. Dieser, das belegen die Satellitendaten von LiveEO, hat sich verkalkuliert. Während auf gewöhnlichen Auslieferparkplätzen von Autowerken die Zahl der Fahrzeuge stark schwankt – zum Verkauf bestimmte Autos werden schubweise abgeholt, – steigt auf den Kaluga-Parkplätzen die Zahl der geparkten Pkw immer mehr. Zu erkennen ist diese Entwicklung auf Bildern europäischer Radarsatelliten, die mehrmals pro Woche auch durch die dicke Wolkendecke hindurchschauten, die im Winter über dem Werk hing.
Russlands Wirtschaft ist im dritten Jahr von Krieg und Sanktionen angeschlagen. Staat, Unternehmen und Bevölkerung geht gerade das Geld aus. Um die hohe Inflation zu bekämpfen, hat die Zentralbank den Leitzins auf mehr als 20 Prozent gehoben. Kreditfinanzierungen wie der Autokauf auf Pump wird für viele unbezahlbar. Jüngste Sanktionen sorgen zudem dafür, dass im Ausland geparktes Geld nur noch sehr eingeschränkt ins Land fließt. Und der schwache Ölpreis belastet sowohl die von Energieexporten abhängige Wirtschaft als auch die aufgrund des Krieges ohnehin maximal beanspruchte Staatskasse.
Die schwierige Lage von Bevölkerung und Unternehmen trifft den Automarkt mit Wucht. So lag im März 2025 der Fahrzeugabsatz in Russland 45 Prozent unter dem Vorjahresmonat, zeigen Statistiken des Marktforschers MIS. Noch schlimmer ist es bei Firmenkunden, die ein Viertel des Gesamtmarktes ausmachen. „Wurden 2024 noch rund 289.000 Autos an Taxifirmen verkauft, werden es 2025 wohl nur 110.000 sein“, berichtet ein Automanager in Russland, der namentlich nicht genannt werden will. Ein Minus von 61 Prozent. Die Lage sei übel, Besserung nicht in Sicht.
Für chinesische Hersteller wie Changan, Geely, Great Wall und besonders Chery ist das ein Problem. Sie haben nach Kriegsbeginn nicht nur die russischen Werke europäischer Autobauer, sondern de facto gleich den halben russischen Markt übernommen. Laut Daten des russischen Analysehauses Autostat liegt der Marktanteil chinesischer Marken seit dem Rückzug der westlichen Autobauer kontinuierlich über 50 Prozent. In Moskau prägen heute chinesische Wagen das Straßenbild, so wie es vor ein paar Jahren noch deutsche und französische Autos taten.
Nun aber stellt sich für die Anbieter aus Fernost die Frage: Lohnt das Wagnis? Ihr Russlandgeschäft wickeln sie zwar meist über Schattenfirmen ab, trotzdem riskieren sie Sanktionen und Reputationsschäden im Westen.
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Wie das Geschäft läuft, lässt sich nirgends besser beobachten als in Kaluga. Betreiber des von VW abgegebenen Werks am Wolgazufluss Oka ist die AGR Automotive Group, eine zu diesem Zweck gegründete Tochter der Kaluga-Käuferin Art-Finance. Diese setzt in den Werkshallen die aus China importierten Chery-Autos final zusammen. Im Februar teilte das Werk mit, 260 bis 280 Autos pro Tag zu bauen. Die aber werden, das beweisen die Bilder aus dem All, nicht verkauft. Mehr als 10.000 Chery-Autos dürften inzwischen auf dem Gelände parken, das entspräche mehr als der Fertigungskapazität eines kompletten Monats. Marktwert: 200 Millionen Euro.
Chery lässt die Wagen dem Vernehmen nach nur minimal zerlegt von China nach Russland bringen. Offenbar in Containern per Eisenbahn – über eine erst im September 2024 gegründete, formell unabhängige Firma namens Defetoo, die chinesischen Unternehmensregistern zufolge im chinesischen Wuhu sitzt. Die Stadtverwaltung von Wuhu ist zugleich Eigentümerin von Chery.
Hinter der komplizierten Geschäftsstruktur mag auch die Sorge vor Sanktionen stehen. Direkte Investitionen in Russland könnten Chery dem Vorwurf aussetzen, die Kriegswirtschaft des Landes zu unterstützen, was zu möglichen Gegenmaßnahmen der EU führen könnte. Die werde chinesische Autobauer zwar kaum wegen des Exports von Fahrzeugen nach Russland ins Visier nehmen, schätzt Gregor Sebastian vom Research-Haus Rhodium. Anders sehe es aber bei chinesischen Unternehmen aus, „die sich lokalisieren“. Erst recht dann, wenn diese die Produktion von auch für zivile und militärische Zwecke benötigten Teilen nach Russland verlagerten. Solche Dual-Use-Komponenten sind etwa elektronische Steuergeräte und Halbleiter.
Chery will offenbar in Russland kein Risiko eingehen. Umso mehr, da das Unternehmen in Spanien gerade seine erste eigene Produktion im Westen aufzieht und in Europa große Pläne hat. Man wolle nicht weniger als „das wichtigste chinesische Unternehmen in Spanien“ werden, kündigte Chery-Manager Charlie Zhang jüngst an. Dafür ist der Autobauer ein Joint Venture mit der spanischen Firma EV Motors eingegangen. Gemeinsam will man Chery-Modelle in einem früheren Nissan-Werk in Barcelona bauen. E-Autos werden hier noch nicht montiert, dafür aber die SUV-Modelle Ebro S700 und S800 endmontiert, die praktisch baugleich mit dem Tiggo 7 und Tiggo 8 aus Kaluga sind.
Ebro ist zwar eine alte spanische Marke, von einer Wiedergeburt zu sprechen, wäre dennoch weit hergeholt: Die Fahrzeuge kommen fast fertig aus China. Sie werden in Barcelona nur noch, so eine EV-Sprecherin, „unter Einbeziehung der lokalen Zulieferer und durch Hinzufügen von Schweiß- und Lackierarbeiten“ veredelt. Der Markenname Chery taucht auf den Karossen derzeit nicht auf.
Auf eine ähnliche Strategie setzt Chery auch in Russland. Russischen Medien zufolge wurde für den dortigen Markt die Marke Tenet (Take Every New Experience Together) kreiert. Diesen Monat soll das erste solche Auto präsentiert werden. Chery tut es damit anderen Autobauern aus China gleich. Changan aus Chongqing am Jangtse etwa vertreibt seine Wagen unter der alten russischen Marke Wolga. Die Endmontage der Fahrzeuge läuft in den Hallen von Gaz bei Nischni Nowgorod, wo früher ebenfalls Modelle des VW-Konzerns vom Band rollten. Das Gaz-Werk gehört heute mehrheitlich dem von den USA und der EU sanktionierten Oligarchen Oleg Deripaska.Ebro ist zwar eine alte spanische Marke, von einer Wiedergeburt zu sprechen, wäre dennoch weit hergeholt: Die Fahrzeuge kommen fast fertig aus China. Sie werden in Barcelona nur noch, so eine EV-Sprecherin, „unter Einbeziehung der lokalen Zulieferer und durch Hinzufügen von Schweiß- und Lackierarbeiten“ veredelt. Der Markenname Chery taucht auf den Karossen derzeit nicht auf.
Auf eine ähnliche Strategie setzt Chery auch in Russland. Russischen Medien zufolge wurde für den dortigen Markt die Marke Tenet (Take Every New Experience Together) kreiert. Diesen Monat soll das erste solche Auto präsentiert werden. Chery tut es damit anderen Autobauern aus China gleich. Changan aus Chongqing am Jangtse etwa vertreibt seine Wagen unter der alten russischen Marke Wolga. Die Endmontage der Fahrzeuge läuft in den Hallen von Gaz bei Nischni Nowgorod, wo früher ebenfalls Modelle des VW-Konzerns vom Band rollten. Das Gaz-Werk gehört heute mehrheitlich dem von den USA und der EU sanktionierten Oligarchen Oleg Deripaska.
Cherys Strategie nennt sich im Branchensprech Semi Knocked Down. Dabei werden Autos praktisch in einem anderen Land hergestellt, aber nicht vollständig montiert. Die Endmontage passiert dann erst im Zielland. Und dient etwa dazu, vorgeschriebene Fertigungsquoten im Land zu erfüllen. Der Effekt für die lokale Wirtschaft aber dürfte im Fall Chery überschaubar sein, wie ein in Russland tätiger Automanager berichtet: „Man bräuchte das Werk dafür wohl gar nicht, dass könnte man auch in einer Garage machen“, sagt er – und spekuliert, welchen Anreiz die russische Regierung Chery wohl geboten haben könne.
Infrage kämen etwa entfallende oder stark gesenkte Recyclinggebühren. Diese Abgaben für Neuwagen wurden erst im vergangenen Herbst um 70 bis 85 Prozent erhöht und dienen vor allem einem Zweck: Sie sollen im Ausland produzierte Autos unerschwinglich machen. Zwar unterliegen auch einheimische Hersteller der Recyclinggebühr, doch die russische Regierung erstattet ihnen diese fast vollständig zurück. Das könnte am Ende auch bei der neuen Chery-Marke Tenet der Fall sein.
180 Kilometer nördlich von Kaluga, auf dem früheren Mercedes-Werk von Yesipov, prangt noch der Stern. Das zeigt ein im August 2024 aufgenommenes Satellitenbild. Dabei hatte sich der Stuttgarter Autobauer genauso wie VW 2023 aus Russland verabschiedet. Ex-Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hatte die Fertigung hier erst 2019 zusammen mit Wladimir Putin eingeweiht. Heute stehen auf den Parkplätzen neben dem Werk laut russischen Medien: Autos von Chery, und zwar vor allem SUVs von Exeed, der Edelmarke des staatlich dominierten Konzerns.
Zwar ist rund um das Werk Yesipov mehr Bewegung erkennbar als in Kaluga: Autos werden geparkt, verschwinden aber auch wieder. Die Statistiken der letzten Monate jedoch sind eindeutig: Von der Schwäche des gesamten Chery-Konzerns in Russland ist die Marke Exeed besonders stark betroffen. Zuletzt wurden 70 Prozent weniger Autos verkauft als im Vorjahr. Da dürfte kaum jemand ins Werk Yesipov investieren, damit hier tatsächlich Autos produziert und nicht nur final montiert werden.
Doch selbst wenn der Absatz besser liefe: Der staatliche Konzern Chery dürfte an einer echten Autoproduktion in Russland kein Interesse haben. Die Regierung in Peking will zurzeit so viele Jobs wie möglich im eigenen Land halten, zumal die durch Zollkrieg und Immobilienkrise angeschlagene chinesische Wirtschaft nicht mehr so wächst wie in früheren Jahren. „Aktuell drücken die Chinesen die Fahrzeuge mit aller Gewalt in die Vertriebsnetze in China und natürlich auch in jeden Exportpartner“, heißt es in russischen Autoindustriekreisen. Das könnte mittelfristig zu Konflikten führen, brauche Putin seinerseits Industriejobs in den Fahrzeugfabriken – spätestens nach Ende des Ukrainekriegs, wenn die Soldaten von der Front zurückkehren und beschäftigt werden wollen.
Bei einem Besuch von Chinas Staatschef Xi Jinping in Moskau Anfang Mai wurde deutlich, welcher der beiden Partner sich bei der Frage der Autoproduktion in Russland durchsetzen dürfte. Putin sprach von „einem stabilen System des gegenseitigen Handels, das zuverlässig vor dem Einfluss von Drittländern“ schütze. Beobachter deuten das so: Peking gewährt dem Nachbarn beispielsweise Zugang zu Mikrochips. Im Gegenzug überlässt Moskau den Chinesen mehr oder weniger direkt den russischen Automarkt. Schon heute kommen 90 Prozent aller Chipimporte Russlands aus China. Und Putin braucht die Halbleiter – unter anderem für seine Waffensysteme.
Für ein Arrangement zulasten Moskaus und der Industriestandorte wie Kaluga und Yesipov spricht auch, dass es nach wie vor keinen einzigen Technologiedeal gibt, der es russischen Autobauern wie AwtoWAS (Lada) oder eben AGR erlaubt, chinesische Fahrzeuge auf Lizenzbasis in Eigenregie zu bauen – und vor allem weiter zu entwickeln. Diesen Weg hatte schon die Sowjetunion vor Jahrzehnten verfolgt. So waren Lada-Modelle früher in Lizenz gefertigte Fiat. Die ersten Moskwitsch-Autos basierten in den 1930er-Jahren auf dem Ford Model A.
Und noch etwas bremst den Plan, die russischen Autowerke mithilfe chinesischer Hersteller wie Chery nachhaltig wiederzubeleben: Grauimporte aus China. Dabei werden Fahrzeuge in der Volksrepublik zugelassen, was sie auf dem Papier in Gebrauchtwagen verwandelt. Danach folgt der Export. Laut der russischen Zeitung „Iswestija“ landen solche Fahrzeuge zunehmend in Russland. Ohne dass die meist kleinen Händler dafür Recyclinggebühr abführen würden.
Ein Automanager vor Ort: „Wenn die russische Regierung nicht dafür sorgt, dass es ein super Geschäft ist, Autos in Russland zu bauen, dann werden Grauimporte immer die billigsten Fahrzeuge am Markt sein.“ Und damit für weiterhin volle Parkplätze in Kaluga sorgen.
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