Dr. Alexandra Hildebrandt

Schaukeln: Parabel auf das menschliche Dasein

Als ich das Buch „Schaukeln“ von Wilhelm Schmid in meinen Händen hielt, breitete sich das Leben in seiner Gleichzeitigkeit vor meinem inneren Auge aus: Ich sah mich als Kind an jenem Platz, auf dem ich am liebsten war: auf der Schaukel. Ich liebte die kurzen Augenblicke gefühlter Schwerelosigkeit immer sehr und dachte auch an „Papa Jürgen“, der mir (ich war 23 Jahre alt!) eine Schaukel im Garten baute. Meine Freude fand allerdings bald ein jähes Ende, weil der Karabinerhaken schnell „durchgeschaukelt“ und ich schnell wieder auf dem Boden der Tatsachen war. Meine letzte Erinnerung an Schaukeln ist mit dem Kaiserpark von Bad Ischl verbunden: Zwei Monate vor seinem Tod schaukelte „Papa Jürgen“ hier. Einige Monate zuvor erhielt er die Diagnose Krebs im Endstadium. Sein einziger Moment erlebter Freiheit schien er auf dieser Schaukel zu haben. Dann, zwei Monate später, stand das Leben plötzlich still.

Das ist auch die Grundaussage des Büchleins des Philosophen Wilhelm Schmid, der ähnliches erlebte: Nach fast 40 gemeinsamen Jahren starb seine Ehefrau, der er das Buch gewidmet hat, nach langer Krebserkrankung im Alter von 59 Jahren. Sie hatte Speiseröhrenkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Auch hier gab es nur noch eine palliative Behandlung. Schlagartig wurde alles anders. Sie ertrug wie „Papa Jürgen“ Strahlentherapie und Chemotherapie – die Tiefen des Lebens. Auch sie wollte wie er nicht weggehen. Das sagte „ihr letzter, todernster, todtrauriger Blick.“ Wenn der Tod plötzlich hereinbricht, können wir vom geliebten Menschen, der nicht mehr da ist, nur Abschied nehmen. Die „Zwischenzeit“ zwischen der Diagnose und dem Tod dauerte neun Monate bei „Papa Jürgen“. Es war ein Hin und Her zwischen guten und schweren Phasen. Das Leben hing in der Luft, und manchmal war es, als würden wir den Boden unter den Füßen verlieren. Wie Wilhelm Schmid seine Frau, so begleiteten auch meine Mutter und ich „Papa Jürgen“ in den Tod. Im Moment seines Ablebens lief eine Träne aus seinem rechten Auge. Als wird das Krankenhaus am späten Abend mit seinem Gepäck verließen, es war August, wurde im Radio der Song „The Power of Love“ der britischen Band Frankie Goes to Hollywood gespielt. In den 1980er Jahren war es vor allem zur Weihnachtszeit zu hören. Heute Morgen, als mir noch nicht bewusst war, dass ich diesen Text im Laufe des Tages schreiben würde, kam er wieder im Radio.

Ein Trost ist allerdings, dass die Energie nicht stirbt und nichts von ihr verloren geht. In seinem Buch beschreibt der Philosoph, dass die Energie, die einen Menschen belebt hat, nach seinem Tod weiterhin da ist. Das folgt aus dem Energieerhaltungssatz: Energieformen werden ineinander umgewandelt, können aber nicht vernichtet werden. Sie bleiben im Raum und sind spürbar. „Die vertrauten Menschen könnten magnetische Pole sein, die die Energien anziehen, die auf sie ‚geeicht‘ sind“, sagt Wilhelm Schmid. Auf diese Weise lebt das Wesentliche des Toten weiter in den Lebenden. Seine Frau war sich sicher, dass beide zusammenbleiben, „egal in welchem Aggregatzustand“. Die reale Gestalt stirbt, aber nicht die Energie, die sie belebt hat. Doch wirklich trösten konnten den Philosophen diese Gedanken nicht. Dennoch spürt er ihre Energie, „die wie eine große, lichte, warme Wolke“ immer nahe bei ihm ist. Sein Versprechen, das er ihr im Moment des Todes gab, „wir bleiben zusammen“, gilt bis zur künftigen Wiederbegegnung im Kontinuum der Energie.

In vielen seiner Bücher und Vorträge beschreibt Wilhelm Schmid diesen Kreislauf des Werdens und Vergehens in der gesamten Natur. Was für eine Weile die Lebensenergie eines Menschen war, geht dieser Deutung zufolge über endlose Prozesse der Transformation wieder in die kosmische Energie über, die allem zugrunde liegt. Ein anderes Wort für die umfassende Energie könnte Schmid zufolge die Allmacht Gottes sein. Seiner Frau war es bis zuletzt wichtig, „mit Gott in Verbindung zu sein“ (ohne genauere Vorstellung). Der Satz von der Erhaltung der Energie wurde 1847 von Hermann von Helmholtz formuliert: Energien können in andere Energieformen umgewandelt, nicht jedoch vernichtet werden. 1909 publizierte der Naturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Wilhelm Ostwald das Werk „Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft“, in dem er für den bewussten Umgang mit Energie den Begriff „Lebenskunst“ gebraucht. Wenn Energie als das Wesentliche des (Da)Seins verstanden werden kann, und das Wesentliche der Energie wiederum in der Fülle von Möglichkeiten zu sehen ist, die in ihr gespeichert sind, dann ergibt sich für den Philosophen daraus:

Ein anderes Wort für Energie könnte seiner Ansicht nach Seele sein, von der alle Kulturen (außer der modernen) schon immer angenommen haben, dass sie unsterblich sei. Das Schaukeln, das uns ein Hin- und Herfliegen zwischen verschiedenen Seiten des Lebens ermöglicht, erinnert uns daran, dass wir Balance nur halten können, wenn wir uns immer wieder hinauf und hinab begeben. Es hilft uns, um wieder leichter Atem für neue Aufschwünge schöpfen zu können. Daraus gewinnt Wilhelm Schmid eine Metapher für das Leben.

  • Wilhelm Schmid: Schaukeln. Die kleine Kunst der Lebensfreude. Insel Verlag, Berlin 2023.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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