Schlaflos in der neuen Welt: Erste Hilfe für Führungskräfte – eine Diagnose
Erste Hilfe Tipps und Maßnahmen dienen als Merkhilfe für das richtige Verhalten im Notfall. Dass sich dies auch in den Managementkontext übertragen lässt, zeigt das aktuelle Buch von Fredmund Malik, das „Essentials für den Alltag“ bieten soll. Wer mit den Büchern des Autors vertraut ist, wird die Inhalte, teilweise in gleichem Wortlaut, hier wiederfinden: So sind Führungskräfte von heute gefordert, altes Managementwissen – das seine Wurzeln noch im vorigen Jahrhundert hat - zu vergessen und Neues zu erlernen, denn die meisten Steuerungs- und Lenkungssysteme greifen nicht mehr und müssen deshalb grundlegend reformiert und revolutioniert werden. Die Grundzüge dessen, was Malik früher „Neue Zeit“ nannte und heute als „Neue Welt“ bezeichnet, beschrieb er bereits ab 1993 in seinem monatlichen Managementletter. 1997 fasste er dies in seinem Buch über Corporate Governance in einem Kapitel mit dem Titel „Die Große Transformation21“ zusammen, die einen „fundamentale Umwandlungsprozess“ umfasst: In der Alten Welt geht vieles nicht mehr, weil sie ihrem Ende zugeht. In der Neuen Welt geht vieles noch nicht, weil es noch nicht richtig da oder noch nicht reif genug ist. Deshalb ist es in allen Organisationen eine der Kernaufgaben der Führung, nach Wegen zu suchen, auf denen es dennoch geht. Ohne Kenntnis der Großen Transformation können Organisationen nicht richtig geführt und transformiert werden können.
revolutionäre Fortschritte in Wissenschaft und Technologie
umwälzenden Veränderungen in der Demographie
ökologische Herausforderungen
die geschichtlich größte globale Verschuldung
Komplexität.
Wer in der Lage ist, mit Komplexität richtig umzugehen, kann am besten auf Unvorhergesehenes reagieren, weil er mehr Handlungsspielraum hat. Komplexität und Geschwindigkeit des Wandels erfordern: höchste Effektivität und Professionalität nachhaltigen Managements, innovative Instrumente sowie nachhaltige Architektur der komplexen Systeme, die sich selbst stabilisiert und repariert. Maliks Kritik von 1997, dass die Natur dieses Wandels von vielen Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft nur schlecht verstanden wurde, ist aktueller denn je: „Ein erheblicher Teil der öffentlichen Diskussion konzentriert sich auf die falschen Schwerpunkte, sie wird in den Denkkategorien der letzten 100 Jahre geführt, und man läuft daher Gefahr, auf die wirklich wesentlichen Faktoren dieser Transformation und deren Auswirkungen unvorbereitet zu sein. Man gibt heute viele sehr gute Antworten – leider auf viele falsche Fragen.“
Die Basis für wirksames Management sind für ihn noch immer die drei Komplexitätswissenschaften Systemtheorie, Kybernetik und Bionik, die bereits seit seinen frühen Forschungsprojekten die theoretischen Grundlagen seiner Managementlehre sind. 2015 fasste er seine Ergebnisse im Buch „Navigieren in Zeiten des Umbruchs“ zusammen, in dem er sich ebenfalls Denkprinzipien und Regeln des Handelns bei Ungewissheit und hoher Komplexität widmet: Das Navigieren verlangt von Führungskräften der Gesellschaft vor allem kopernikanische Fähigkeiten. In diesem Zusammenhang räumt er auch mit dem Geniekult auf, denn um sich im Unbekannten („wenn die Standorte ungewiss, die Ziele beweglich und die Wege vielfältig sind“) zurechtzufinden, genügt auf weite Strecken ein bestimmtes „Handwerk“. Was künftig passiert, hängt seiner Ansicht nach heute weniger von der Wirtschaftspolitik ab, sondern vielmehr von einem neuen Funktionieren der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisationsformen: „Was früher eine Revolution durch Maschinen war, ist diesmal eine Revolution durch Organisation.“
„Keiner schläft mehr gut, alle sind Tag und Nacht beschäftigt mit der Frage, wie es weitergeht“, sagte Malik während der Pandemie. Mit der Frage „Was lässt Sie nachts nicht schlafen?“ beschäftigt er sich nun auch in seinem neuen Buch. Seit 1993 erscheint der Newsletter „Malik on Management“. Im aktuellen Buch erscheint eine Auswahl der unveröffentlichten Letter der letzten Jahre sowie Kernaussagen seines Buches „Führen Leisten Leben“ (2000). Es soll ein Leitfaden, kein „Leidfaden“ sein. So verweist er beispielsweise darauf, dass wirksame Führungskräfte aus zwei Gründen keine Interviews über Stress geben: „Weil sie ihn nicht haben und weil sie ihre Zeit nicht verschwenden wollen ...“ Auffällig ist, dass gerade Nachhaltigkeitsmanager in Unternehmen zunehmend über Stress klagen. Die Befragten der Studie „Sustainability People Report“ von The Sustainability People Company, EY und Haufe sind zwar mehrheitlich zufrieden, leiden aber unter zunehmender Arbeitsbelastung und konstatieren eine Desillusionierung. 73 Prozent der Befragten berichten, dass die Arbeitsbelastung in den letzten drei Jahren stark zugenommen hat, 38 Prozent fühlen sich im Job tendenziell überfordert. Fast die Hälfte plant, in den nächsten zwei Jahren den Arbeitgeber zu wechseln. Fehlt es ihnen an Wirksamkeit? Viele Positionen verleiten dazu, sich selbst wichtiger zu nehmen als die eigene Aufgabe – wer ständig auf Veranstaltungen präsent ist oder seine Zeit nur in Teams-Meetings verbringt, kann seine Arbeit nicht ausführen, und wer sich ständig bei anderen über seine Situation beklagt, hat keine Zeit, sie zu ändern. Aber das sollte dennoch nicht verallgemeinert werden.
Konzentration auf die eigenen Aufgaben und nicht auf die eigene Person
Problemfokussierung zur Chancennutzung
Aufgaben und Stärken werden zur Deckung gebracht
Konstruktives, positives und systemisches Denken
Disziplin
Ihr „Kapital“: Erfahrungen – Lernfähigkeit - Beziehungen
Ungestörte Konzentration auf das Wesentliche (Weniges, aber Wichtiges)
Leidenschaft für das Mögliche (Managementdefinition des Soziologen Peter Gross)
Setzen von Prioritäten
Klare und präzise Bestimmung von Schlüsselaufgaben
Flexible Selbstorganisation
Selbstvertrauen
Stärken nutzen und Schwächen bedeutungslos machen
Verständlichkeit in der Kommunikation
Schlüssel zur Wirksamkeit liegt im Tun
Entwicklung eines zuverlässigen Zeitgefühls.
Maliks Kritik bezieht sich auch auf die Aussage, dass Arbeit „Spaß“ machen müsse: „Ärzte, Pflegepersonal, Polizisten oder Feuerwehrleute fragen niemals nach Motivation. Sie verrichten ihre Arbeit aus ganz anderen Gründen. Eine große Rolle spielt dabei das Wort Pflichtbewusstsein, das vielleicht ein bisschen aus der Mode gekommen ist. Bei der Arbeit geht es jedoch vorrangig erst einmal darum, eine Pflicht zu erfüllen. Wer immer Spaß haben und motiviert werden will, ist in den meisten Unternehmen schlecht aufgehoben.“ Freude wäre das richtige Wort und eine Haltung, welche Mitarbeitenden und Führungskräften die nötige Kraft gibt, das eigene Tagwerk anzupacken. Am wichtigsten ist es Mitarbeitenden zu vermitteln, in ihrer Arbeit einen Sinn zu finden (nicht zu geben).
Das verband der Neurologe und Psychiater Viktor E. Frankl (1905 – 1997) mit höchster Lebenskunst. Durch den Dienst an einem Werk, die Erfüllung einer Aufgabe, das Engagement für eine Idee werden Menschen befähigt, auch in schwierigsten Situationen einen eigenen Sinn zu finden. All das fließt in Maliks Managementverständnis ein. Es geht vor allem darum, die eigene Persönlichkeit zu formen und zu gestalten, um „wirkmächtig“ zu werden – auch über das eigene Leben hinaus (ein wesentlicher Aspekt der Nachhaltigkeit). Der Gründervater der Logotherapie und Existenzanalyse ermutigte in seinen Werken dazu, sinnorientiert zu handeln, wo immer dies möglich ist. Er war davon überzeugt, dass die Welt nicht heil, aber heilbar sei. Die Existenzanalyse befasst sich mit dem Ringen des Menschen um einen Sinn und die persönlichen Aufgaben des Lebens. Dabei geht es nicht ums Dulden von schwierigen Situationen, sondern um die aktive Umgestaltung. Auch wenn sich bestimmte Situationen nicht ändern lassen, so können wir unsere innere Einstellung dazu ändern. Frankl selbst erfuhr unfassbares Leid, überlebte mehrere Konzentrationslager und verlor seine Familie: Trotz dieser Schicksalsschläge war er Zeit seines Lebens ein Menschenfreund, der es verstand, jede Krise zu meistern, anstatt an ihr zu verzweifeln.
Frankls Werke „leben“, weil sie während der Lektüre Wurzeln beim Leser schlagen – alles blüht im Nachgang, auch wenn die Bücher längst zugeschlagen sind. So sollte es auch bei Managementliteratur sein. Auch wenn alle Themen inhaltlich richtig sind, kompakt, einfach und logisch vermittelt, so sollte doch noch etwas hinzukommen: die Vielfalt der Welt und des Denkens, das ohne ein warmes Herz kalt bleibt. So schreibt Malik über die Ausnahmebegabungen Leonardo da Vinci und Goethe, „dass sie noch viel mehr und noch Größeres hätten erreichen können, wenn sie sich etwas beschränkt hätten.“ Doch waren sie nicht gerade so genial, weil sie Natur und Geschichte, Geist und Körper nicht als Gegensätze betrachteten, und die Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst stets durchlässig war? Was wäre denn noch „größer“ gewesen als das, was sie hinterlassen haben?
Der Psychoanalytiker hat sie Sicht eines Kanalräumers, der nur Rohre für Gas und Wasser und Kabel für elektrischen Strom unter der Stadt sieht. Sein Blick ist nur auf den (seelischen) Unterbau gerichtet. Auch die Welt des Managements ist „oben“ verzweigt, bunt und lebendig. Aber all wird nicht sichtbar, wenn es im Management nur um den Wettkampf um Minuten geht, um „Nettozeitgewinn“ (z.B. durch weniger Schlaf). All das befremdet genauso wie der Malik-Satz: „Gerade Menschen mit großer Erfahrung verlassen sich nicht auf ihre Gefühle.“ Vielleicht können einige Führungskräfte deshalb nachts nicht schlafen: Alles, was sie sich kurz vor dem Schlafen auf dem Smartphone ansehen, beeinflusst unmittelbar ihren Schlaf und macht ihn schlechter und lässt sie aufschrecken. Hinzu kommt die Angst, im Schlaf keine Kontrolle mehr über das innere Geschehen zu haben, wenn sich Gefühle „Bahn“ brechen. Vielleicht haben sie davor sogar mehr Angst als vor der zunehmenden Komplexität und aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung. Davon ist im Buch allerdings nicht die Rede. Dabei trägt doch gerade die Beschäftigung mit Viktor E. Frankl trägt nachhaltig dazu bei, den transzendenten Charakter der „Gewissenstimme“ (innere Stimme bzw. Bauchgefühl) herauszuhören, damit Empathie (eine wichtige Grundlage unserer sozialen Strukturen), Liebe, Menschlichkeit und Toleranz wirken können.
In seinem Buch „Gefährliche Managementwörter“ kritisiert Fredmund Malik, dass die Begriffe Bauchgefühl und Intuition häufig unpräzise verwendet werden. Aber auch er denkt diese Themen nicht zu Ende und nutzt das Prinzip der Vereinfachung für die eigene Meinung. Wie die Intuitionsforschung zum Erfahrungswissen veranschaulicht, werden zu allem, was ein Mensch erfahren und gelernt hat, gleichzeitig Emotionen und die damit in Zusammenhang stehenden körperlichen Empfindungen abgespeichert. Der Gehirnforscher Gerhard Roth spricht hierbei von dem „emotionalen Erfahrungsgedächtnis“. Gute Entscheidungen brauchen immer eine stimmige Mischung aus Kopf und Bauch, aus Fakten, Erfahrungswissen und Gespür. Das gilt auch für gute Bücher, die im Managementkontext schwer zu finden sind.
Die Malik-Bücher sind wichtig, weil sie Verständlichmacher sind, aber es gibt auch Grenzen, die das Herz nicht einlassen, sondern nur den Kopf. Das neue Buch ist zugleich eine Zusammenfassung seines Gesamtwerks – bis zur Mitte kompakt und schlüssig, danach lösen sich die Einzelteile vom Ganzen. Auch wird zuweilen von „Leuten“ (das Wort suggeriert immer, über ihnen zu stehen) statt von „Menschen“ gesprochen, auch gibt es immer wieder einen Wechsel von der Sie in die Du-Form, was an simple Ratgeberliteratur erinnert und nicht zum Stil des Anfangs passt: „Setze es dir selbst zum Ziel“, „Werde so wirksam …“ Ratschläge sind immer auch Schläge, die dieses Buch nicht gebraucht hätte. Nachhaltige Bücher wirken von selbst, in dem sie sich von innen erschließen ohne „Nachschlag“.
Fredmund Malik: Was lässt Sie nachts nicht schlafen? Erste Hilfe für Führungskräfte – Essentials für den Alltag. Campus Verlag, Frankfurt, New York 2024.
Alexandra Hildebrandt: Nachhaltig managen mit Viktor E. Frankl
Wirksames Management für eine neue Zeit: Warum Malik hochaktuell ist
Wir sind aufgerufen zur „Sinnentnahme“: Viktor E. Frankl über höchste Lebenskunst
Bahnbrechend: Der Blick auf die Welt als ein sinnbehaftetes Ganzes
Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.
Gerd Gigerenzer: Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. Goldmann Verlag, München 2008.
Gerd Gigerenzer: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft. C. Bertelsmann Verlag, München 2013.
Fredmund Malik: Vorwort in: CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag. Berlin Heidelberg 2017.
Fredmund Malik: Die richtige Corporate Governance. Mit wirksamer Unternehmensaufsicht Komplexität meistern. Umfassend aktualisierte Ausgabe: Die Neue Corporate Governance. Richtiges Top-Management - wirksame Unternehmensaufsicht. 3., erweiterte Auflage, Frankfurt am Main: Frankfurter Allgemeine Buch 2002 (1. Auflage 1997)., Campus: Frankfurt am Main/New York, 2008.
Fredmund Malik: Navigieren in Zeiten des Umbruchs. Die Welt neu denken und gestalten. Campus Verlag Frankfurt am Main 2015.
Fredmund Malik: Gefährliche Managmentwörter. Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2017.
„Nicht wer jemand ist, ist entscheidend, sondern wie jemand handelt“. Interview mit Prof. Fredmund Malik: In: Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.