Schreiben, Rechnen, Ablegen: Eine Archäologie der modernen Gesellschaften
„Eine Zeit, die das Gedächtnis für die Dinge, die ihr Leben formen, verloren hat, weiß nicht, wo sie steht, und noch weniger, was sie will.“ Siegfried Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung
Ordnung als Inbegriff der Modernität
Die Frage des Ordnens und Ablegens beginnt im Verwaltungsleben Anfang des 20. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund des Arbeitsstatus und der Überproduktion von Schriftstücken erklären die Modernisierer dem Papier den „Krieg“: Ordnen und Ablegen soll von veralteten Praktiken, unproduktiven Verrichtungen und Handgriffen befreit werden. Die neuen Technologien des Ablegens stehen im Zentrum einer Managementrevolution, die in den Vereinigten Staaten begann und von den 1890er- bis 1930er-Jahren die amerikanische, britische und französische Wirtschaft verändert. Ablegen wird zur Bedingung der Entfaltung und Neuordnung von Geschäfts- und Industrietätigkeiten - und „ein System von Handlungsanweisungen“. Eine neue Ablagemethode ist zugleich mit einem „neuen Regime“ verbunden:
· der Strukturierung von Operationen der Produktion
· der Vervielfältigung und Ablage
· der Aufbewahrung und Indexierung
· des Verzeichnens und Auffindens von Schriftstücken.
Auf Karten und Zetteln werden sämtliche Geschäftsbewegungen präzise festgehalten, „wie durch jene Fähnchen, die auf einer Karte das Vorrücken und die Aufstellung der Truppen markieren – eine Schlachtmetaphorik, die denn auch in der Literatur des Management und Business in den Vereinigten Staaten seit Beginn des 20. Jahrhunderts allgegenwärtig ist.“ Nicht nur der Umfang der Tätigkeiten verändert sich, auch das Personal wird austauschbarer und unbeständiger.
Das Buch von Delphine Gardey widmet sich scheinbar gewöhnlichen Geschäftstätigkeiten wie Schreiben, Klassifizieren und Ablegen, Rechnen, Buchführen und damit verbundenen Werten, die mit den Regierungsformen und der Ökonomie interagieren. Tachograph, Parlograph, Diktaphon, Dactylotyp, Schreibmaschine, Walzenzählwerk, Aufzeichnungen, Belege, Formulare, Rechenmaschinen, Adressiermaschinen, statistische Maschinen, Telefone, mechanische Förderbänder, Uhren, Diagramme und Grafiken: Im späten 19. Jahrhundert bis in die 1940er-Jahre durchleben die westlichen Gesellschaften eine intensive Phase der Mechanisierung sämtlicher Arbeitsabläufe. Es verbreitet sich die Stenographie als Technik beschleunigter Schriftproduktion, und neue Mechanismen werden erfunden, die an die Stelle der Handschrift treten. Damit wird der unaufhaltsame Aufstieg des Dienstleistungssektors ein- und die digitalen Umwälzungen unserer Gegenwart vorbereitet.
Delphine Gardey zeigt, dass das Büro am Ende als „maßgeblicher Geburtsort“ neuer Regierungstechnologien erkennbar ist. Später tritt eine neue Schreibpraxis der Ökonomisierung, Datenverarbeitung und Kontrolle auf den Plan. Im Rausch des mechanischen Fortschritts, der Verbreitung von Bürozubehör, der Papiermassen, entsteht nicht nur eine neue Welt, sondern es ergeben sich auch neue Möglichkeiten der Intervention.
Kinder des Krieges
Der Erste Weltkrieg wirft schließlich die Frage der Informationserhebung, des Sammelns, der Vereinfachung und raschen Verarbeitung von Informationen auf. Mit dem Übergang zur Lochkartentechnologie verändert sich die Wirkkraft des Staates. Wir haben es mit einer gesteigerten Fähigkeit zur „Mobilmachung“ zu tun, die eine Schlüsselrolle in totalitären Staaten spielt, aber auch zur Kontrolle und Unterdrückung. Während im Rahmen ihrer Verwendung für statistische Zwecke die Karte ein schlichtes „Rechenwerkzeug“ ist, setzt der Erwerb alphabetischer und drucktechnischer Fähigkeiten neue Möglichkeiten der Nutzung solcher Systeme frei und ermächtigt den Staat zum quantitativen und personalisierten Bevölkerungsmanagement. Die Karte wird zum „storing medium“ (Speicherkarte). Diese Technologien tragen zu unterschiedlichen „Formgebungen“ der Gesellschaft zwischen den Weltkriegen bei.
In „Grammophon Film Typewriter“ schreibt der Medientheoretiker Friedrich Kittler (1943-2011), dass die Medien häufig Kinder des Krieges sind. Ursprünglich militärisch verwendet, werden sie später irgendwann „entschärft“ unter die Menschen gebracht. Ähnlich bemerkte das auch der Medienphilosoph Paul Virilio. Zur Computertechnologie äußerte sich Kittler bereits 1986 und sagte voraus, dass der PC alle anderen Medien „schlucken“ wird. Einiges mag übertrieben gewesen sein, dennoch ist in seiner Ironie und Distanz zu den Dingen auch immer ein Funken Wahrheit. Vor allem ging es ihm darum, Technik durchschauen zu können. Die Software von Computern verachtete er deshalb „als eine Schranke, die einen hindere, den Computer selbst zu programmieren. Und im Lasergewitter der Diskotheken fand er das einzige Glück darin, ihren Schaltplan zu verstehen.“
Das Wissen der Menschen hängt für Kittler von Kulturtechniken ab, die sie benutzen. Lebenslang suchte er nach den Regeln der Kunst und des Denkens. Er sammelte eigene Zettel über Dinge, die zu Zettelstößen wurden. Typoskripte, die sich ihrer Form nach ähnelten, bewahrte er in einer Schublade auf, die er als „Zettelkasten“ bezeichnete. Er bewahrte ihn davor, sich nicht im Chaos der Welt zu verlieren. Ein Autor der Zettelkästen und „Pionier des Computers" war auch Walter Kempowski (1929-2007). Über sein „Zettel-Imperium" schrieb Sabine Wolf, Leiterin des Literaturarchivs in der Berliner Akademie der Künste. Sie beschäftigt sich darin u.a. mit dem Zettelkasten als Urform des Archivs: So verkündete Kempowski bereits als Zehnjähriger, dass er „Archiv werden" will. Mit dem Berufswunsch verbunden war der Wunsch und Wille, Dinge zu erschließen, zu strukturieren, bewahren und anderen zugänglich zu machen. Bereits als Schüler führte er Lektürelisten und verzeichnete gesehene Kinofilme auf Karteikarten. Sein späteres Schicksal „war wie das vieler mit der deutschen Vergangenheit, der Naziherrschaft, dem Zweiten Weltkrieg und allen seinen Folgen untrennbar verbunden. Die Welt seiner Kindheit existierte nicht mehr, nirgends."
Seine „Verzettelungsmethoden" entwickelte er stetig weiter, indem er seine Transkriptionen der Tonbandinterviews in Partikel „zerlegte", einzelne Erzählpassagen auf Stichwortzettel notierte und diese nach bestimmten Schwerpunkten in Karteikästen zusammenstellte. Wie bei Luhmann wurde auf diese Weise die Vielfalt des Lebens in übersichtliche Formen gebracht, neu strukturiert und arrangiert: „Gerüst und Inspirationsquelle" zugleich. In seinem Archiv hinterließ er Tausende von Karteikarten.
Büromaterialien haben ihn schon immer fasziniert: „Ein sauber angespitzter Bleistift, ein Füllfederhalter mit goldener Feder, Ordner, Vorordner, Notizbücher jeder Art und Karteien." Uns an Chaos der Weltprozesse zu erinnern, die nur ein Literat in dieser besonderen Weise verdichten kann, ist in diesen Zeiten wichtiger denn je. Der Wunsch nach Ordnung in unübersichtlichen Zeiten hat für Claudia Silber, die bei der memo AG in Greußenheim die Unternehmenskommunikation leitet, auch mit Minimalismus zu tun: „Die Konzentration auf die wesentlichen Dinge (und Menschen) im Leben machen uns glücklich, und wir fühlen uns ‚sortiert', gut aufgehoben." Von Interesse ist das Unternehmen in diesem Zusammenhang, weil hier auch jene Produkte berücksichtigt werden, die Geschichte geschrieben haben: Ablage- und Sortiersysteme, Karteiboxen und -register, Schubladenboxen, Archivboxen, aber auch Universalkartons zum „Ordnen, Archivieren und Organisieren“. Es drängt sich eine kleine Weisheit auf: Kennt die Welt da draußen nur noch Preise, aber nicht mehr den Wert der Dinge, dann werden die persönlichen Ablagesysteme wachsen und das Bedürfnis zunehmen, die Welt neu zusammenzusetzen.
Weiterführende Informationen:
Delphine Gardey: Schreiben, Rechnen, Ablegen. Wie eine Revolution des Bürolebens unsere Gesellschaft verändert hat. Konstanz University Press, Imprint der Wallstein Verlag GmbH. Göttingen 2019.
Alexandra Hildebrandt: Denk- und Aufschreibesysteme der Gegenwart. In: CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag. Berlin Heidelberg 2017, S. 1029-1038.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. 2017.
Sabine Wolf, „Karteien sind auch nicht zu verachten." Walter Kempowskis ‚Zettel-Imperium'. In: Zettelkästen. Maschinen der Phantasie. Marbacher Katalog 66. Hrsg. von Heike Gfrereis und Ellen Strittmatter, Marbach am Neckar 2013, S. 77-83.