Schuld, Mitschuld und Verantwortung: Warum uns der Untergang Ludwigs II. noch heute angeht
"Ein ewig Rätsel will ich bleiben mir und anderen", schrieb Ludwig II. einst seiner Erzieherin. Er lebte stets danach, seinen Träumen so nahe wie möglich zu sein.
Sein exzentrisches Wesen und das, was er hervorgebracht hat, fasziniert die Menschen bis heute: Seine Schlösser, die niemals ein Fremder betreten sollte, wurden seit seinem Tod von mehr als 130 Millionen Menschen besucht. Ohne solche herausragenden Menschen gäbe es heute keine Spitzenleistungen in Wirtschaft und Gesellschaft, weil die Welt ohne sie grau und trist wäre. Großes entsteht, wenn nicht nur nach dem Mittelmaß gestrebt wird. Außergewöhnliche Menschen folgen ihrem Herzen und ihrer inneren Stimme, sie haben eine Vision, aber keinen Plan. Schon als Kind zeigte Ludwig Freude am Anderssein, am Kostümieren und Theaterspielen. Auch seine Fantasie und der Hang zum Einsam sein sind bei ihm von Kindheit an bezeugt. Mit 18 Jahren bestieg er 1864 den Thron: ohne Lebens- und Politikerfahrung, aber zumal von den Frauen schwärmerisch verehrt. 1873 bemerkte er rückblickend: "Ich bin überhaupt viel zu früh König geworden. Ich habe nicht genug gelernt. Ich hatte so schön angefangen, … Staatsrecht zu lernen. Plötzlich ward ich herausgerissen und auf den Thron gesetzt. Nun, ich suche noch zu lernen …" 1866 besiegte Preußen im "Deutschen Krieg" Österreich und Bayern (seitdem war er nur noch nur ein "Vasall" seines preußischen Onkels). München wurde durch die Uraufführungen von "Tristan und Isolde", "Die Meistersinger von Nürnberg", "Das Rheingold" und "Die Walküre" (1870) zur Musikhauptstadt Europas. Richard Wagner musste die Stadt allerdings Ende 1865 verlassen, weil er sich in Regierungsgeschäfte einmischte, wurde jedoch weiter von Ludwig finanziell unterstützt. Das für München geplante monumentale Festspielhaus wurde in stark vereinfachter Form in Bayreuth errichtet und 1876 eingeweiht.
Seit etwa 1875 lebte Ludwig II. nachts und schlief tagsüber. 1868 entstanden Idealentwürfe von Theatermalern für eine "Neue Burg Hohenschwangau" hoch über dem beschaulichen Hohenschwangau seines Vaters. Die "Neue Burg" (Neuschwanstein) versetzte in das christliche Königtum des Mittelalters, das neue Versailles. Linderhof im Graswangtal wurde ab 1869 zu einem Sammelplatz für Illusionen verschiedenster Herkunft, unterstützt von modernster Technik. Diese wurde auch für Kutschen und Schlitten, in denen sich der König nachts fortbewegte, verwendet. Die selbstgewählte Einsamkeit war langfristig mit den Pflichten eines Staatsoberhauptes nicht vereinbar. Ludwig scheiterte an dem Wunsch, Illusion und Traumsphäre in der Wirklichkeit zu verankern. Seit 1885 drohten ausländische Banken mit Pfändung. Die Verweigerung einer rationalen Reaktion darauf durch den König war 1886 der Auslöser für Unmündigkeitserklärung und Absetzung durch die Regierung. Ludwig II. wurde in Schloss Berg interniert. Einen Tag später kam er zusammen mit dem Psychiater, der das Unmündigkeitsattest verfasst hatte, unter „ungeklärten Umständen“ im Starnberger See ums Leben.
Nein, es ist schon erstaunlich, dass es seit dem Tod Ludwigs II. im Juni 1886 bis heute noch kein offizielles Gerichtsverfahren oder einen offiziellen Prozess gab, in dem sämtliche Personen und Institutionen im Hinblick auf ihre mögliche Schuld, Mitschuld oder Verantwortung an der Entmündigung, Inverwahrnahme und am Tod Ludwigs II. einer detaillierten Untersuchung unterzogen wurden. Die unmittelbar nach dem Tod des Königs als „Totengericht“ bezeichneten Konferenzen in zwei Landtagssitzungen am 17. und 26. Juni 1886 waren nur Scheinverhandlungen und wurden dem Anspruch eines ernst zu nehmenden Prozesses in keiner Weise gerecht.
Da wurden von den Landtagsabgeordneten lediglich die Rechtmäßigkeit der Entmündigung und Inverwahrnahme Ludwigs II. und die Einsetzung der Regentschaft des Prinzen Luitpold von Bayern thematisiert, aber nicht wirklich geprüft, wie es dazu kam. Am Ende wurde, wie zu erwarten war, die Regentschaft Luitpolds zur Beruhigung aller für rechtmäßig befunden. Deshalb ist es nach 136 Jahren an der Zeit, die Königskatastrophe einmal gründlich zu untersuchen. Dabei müssen sämtliche in Frage kommenden Personen und Institutionen hinsichtlich ihrer Schuld, Mitschuld und Verantwortung akribisch und im Detail überprüft werden.
Sehen Sie und genau das ist der falsche Ansatz, denn die Frage muss nicht lauten: Wie kam der König ums Leben? Vielmehr muss endlich geklärt werden: Wie kam es dazu, dass Ludwig 1886 ums Leben kam? Wer also trägt Schuld, Mitschuld und Verantwortung, dass es überhaupt so weit kommen konnte, dass der König entmündigt und interniert wurde und starb? Alles begann nämlich nicht erst 1886, sondern weitaus früher. Bedauerlicherweise starren aber alle immer nur auf die Geschehnisse der Jahre 1885/86 und stellen stets dieselben „Sündenböcke“ an den Pranger. Ein ernsthafter „Prozess Ludwig II.“ muss jedoch sämtliche Verursacher der Königskatastrophe 1886 zur Rechenschaft ziehen und alle W-Fragen untersuchen: Was geschah wann, warum und wo, und wer war daran wie, weshalb und wieso beteiligt?
Vorrangig wird diesbezüglich die „königlich-bayerische Viererbande“ genannt: der Psychiater Dr. Bernhard von Gudden, der in seinem Gutachten dem König eine Geisteskrankheit bescheinigte, dann der Ministerratsvorsitzende Johann von Lutz, der um seine Macht fürchtete, des Weiteren der mit dem König verfeindete Maximilian Graf von Holnstein und natürlich Prinzregent Luitpold. Seit Reichskanzler Bismarck Dr. Gudden einmal als „Königsbeseitiger“ bezeichnete, entstand sogar der Eindruck, dass es allein dieser Psychiater war, der Unglück und Tod über den König brachte. Seither wird diesen Personen die Hauptschuld an der Entmündigung und am Ende Ludwigs II. zugeschoben. Bis heute sind sie nahezu unwidersprochen als die maßgeblichen „Sündenböcke“ gebrandmarkt. Die vielen anderen Mitverantwortlichen wurden bewusst oder unbewusst übersehen.
Ich denke da an die zahlreichen Personen und Institutionen aus Bayern, aber ebenso aus anderen Regionen, die an der Entwicklung und den Ereignissen zur schrittweisen Eliminierung des Königs auf die eine oder andere Weise beteiligt waren. Das Geflecht der daran Mitwirkenden ist erschreckend umfangreich. Es handelt sich gleichsam um eine gigantische „Entmündigungsmaschinerie“. Diese kam nicht erst 1886 in Gang, sondern weitaus früher, wobei sich ein Rädchen nahtlos ins andere fügte und in welcher der König regelrecht zermalmt wurde. Es ist also irreführend, nur die letzten Lebensjahre des Königs in Augenschein zu nehmen oder lediglich in den Ereignissen im Juni 1886 herumzustochern. Die Schuldfrage am Untergang Ludwigs II. ist so keinesfalls zu klären.
Bei meinen Recherchen wurde mir klar, dass die Schuldigen am tragischen Ende des Königs sich hinter den diversen Ereignissen von August 1845 bis Juni 1886, also von Ludwigs II. Geburt bis zu seinem Tod, verbergen. Es gilt also einen Zeitraum von 40 Jahren und 10 Monaten zu durchleuchten, um hinsichtlich der Schuldfrage zu einem überzeugenden Ergebnis zu gelangen. Dabei müssen des Königs privates, aber ebenso auch sein öffentliches Leben und auch sein politisches Wirken sowie die Reaktionen seiner Umgebung darauf lückenlos auf den Prüfstand.
Jeder, der Ludwigs Biographie von deren Ende her untersucht, gerät zwangsläufig in eine Sackgasse. Um dies zu vermeiden, muss man den „Fall Ludwig II.“ unbedingt von vorne nach hinten aufrollen. Nur so lässt sich feststellen, wer seit Ludwigs Geburt 1845 über die vier Jahrzehnte hinweg daran mitwirkte, dass er schließlich im Juni 1886 für geistig krank, für regierungsunfähig erklärt und entmündigt wurde, worauf sein Leben nach fast 41 Jahren in einem bis heute ungeklärten Tod endete. Wer ausschließlich das Ende des Königs im Blick hat, rätselt hilflos an der Todesursache herum und verzettelt sich in Mutmaßungen und Gerüchten darüber, wie der Tod am 13. Juni erfolgte, ob auf der Flucht, im Kampf, durch Totschlag, Suizid oder Mord. Dabei geraten die vier Jahrzehnte umfassende Entwicklung und alle daran beteiligten Personen und Institutionen aus dem Blickfeld, durch deren Handeln es zum 13. Juni überhaupt erst kommen konnte.
Das ist eine große Zahl von Personen und Institutionen, da die Wurzeln für Ludwigs II. Entmündigung bis 1845 zurückreichen und folgende Fragen untersucht werden müssen: Welche Rollen spielten dabei Vater und Mutter, die Erzieher und Lehrer des Kronprinzen und ein wenig später der „Dämon“ Richard Wagner, dessen Musik, wie man munkelte, „zum Gudden“ führte? Und welchen Anteil hatte die „Arachne“ Cosima Wagner? Tragen nicht auch die vom König nur anfänglich begeisterte, letztlich aber enttäuschte Frauenwelt und die engen Seelenfreunde des Königs eine Verantwortung und auf welche Weise? Fiel auf Ludwig nicht unheilvoll auch der Schatten seines kranken Bruders Otto, seines „Alter Ego“? Wie gelang es dem machtgierigen Preußen über die Jahre hinweg den König systematisch zu demütigen und zu zermürben? Und war Otto von Bismarck dem König wirklich so wohlgesonnen, wie manche glauben?
So ist es. Doch dazu kommen noch etliche Minister, der Landtag und die Parteien. Beim Blick auf den Ministerratsvorsitzenden Lutz darf man keinesfalls die mit ihm regierende, berechnende oder ignorante fünfköpfige Ministerriege aus den Augen verlieren. Auch deren Anteil am Ende des Königs gilt es schonungslos offenzulegen. Welchen Beitrag leisteten das ständige Parteiengerangel im bayerischen Landtag, die stets verunsicherte und um ihre Macht fürchtende Fortschrittspartei, die dem König grollende Patriotenpartei und die Sozialdemokraten, von denen sich Ludwig bedroht fühlte? Dann die diversen Ängste Prinz Luitpolds und seiner Söhne vor dem König, aber auch deren Animositäten gegen ihn. Wurden die sich auf dem Schleudersitz befindenden Hofbeamten, darunter die unter Hochdruck stehenden Kabinettssekretäre, die vom König überforderten Hofsekretäre und die gestressten Flügeladjutanten nicht ständig von zwiespältigen Gefühlen gegenüber ihrem unberechenbaren Herrn geplagt und wie reagierten sie auf des Königs willkürlichen Umgang mit ihnen?
Ja, es gilt wirklich alles und alle auf den Prüfstand zu stellen. Welchen Anteil am Untergang Ludwigs II. hatten das den König ablehnende Militär, des Adels offensichtliche Antipathie und die Ressentiments der Kirche gegen ihn? Welche Ereignisse trugen zur außenpolitischen Isolierung Ludwig II. bei und zur Gleichgültigkeit von Regenten anderer Länder gegenüber seiner Person? Ganz zu schweigen von der Hetzjagd der Skandalpresse auf ihn in Wien, Zürich, Paris und New York, aber auch in Preußen und Bayern, für die der König zum „medialen Freiwild“ wurde und die selbst vor „Rufmord“ nicht zurückschreckte.
Natürlich, gerade ihr kommt zentrale Bedeutung in der Königskatastrophe zu, da sie sich beim Wühlen im Sumpf der Rechtsvorschriften verzettelte und kläglich versagte. Man vertiefte sich in die lückenhafte „Bayerische Verfassung von 1818“, blätterte im „Codex Maximilianeus civilis von 1756“, warf einen Blick in die „Civilprozessordnung 1879“ und zog das „Bayr. Königl. Familien-Statut 1819“ zu Rate. Auf welches Recht konnte sich der König berufen oder war er rechtlich gesehen ärmer als jeder normale Bürger seines Landes? Wollte er eines der ihm zustehenden Rechte aber überhaupt in Anspruch nehmen und für welches rechtliche oder unrechtliche Vorgehen entschied sich schließlich die Regierung und der Landtag und mit welcher Begründung?
Ja, man darf niemanden aus dem Blick verlieren, so auch nicht die wahren Gründe für die Indiskretion der Gutachter-Zeugen. Sie aber einfach als „schäbige Bedienten-Seelen“ zu beschimpfen, ohne die Motive ihres Handelns zu durchleuchten, ist unseriös und unzulässig. Wie lässt sich das psychiatrische Gutachten Dr. von Guddens unvoreingenommen beurteilen und ist ihm und seinen drei Mitgutachtern tatsächlich böswilliges Handeln oder ärztliches Versagen vorzuwerfen? Gab es über die Jahrzehnte hinweg nicht vielmehr ein Dutzend Ärzte, die sich auf die eine oder andere Weise mit dem Gesundheitszustand des Königs auseinandersetzten, wobei mitunter sogar der Eindruck eines „Ärzte-Komplotts“ entsteht? Formulierten nicht auch sie zum Teil recht eigenwillige Urteile über ihn, weshalb auch sie sich der Verantwortung für sein Ende nicht entziehen können?
Doch auch sie darf man nicht vergessen. Es müssen auch die Königsfreunde sowie die Motive der Kreditgeber Ludwigs II. und des Hofpersonals auf den Prüfstand. Wie ist einerseits die Gier, andrerseits aber auch die Scheu, Unglaubwürdigkeit und das unseriöse Verhalten diverser Darlehensgeber zu beurteilen? Neben der „Sprengladung Hofpersonal“ – insbesondere der Heimtücke der sogrannten „Oberrösser“ und „Rösser“, also des Stallpersonals – gilt es auch die Zurückhaltung der diversen angeblichen Königsfreunde zu untersuchen, ihr Verstummen und Schweigen, ihre Hilflosigkeit, Unsicherheit und lähmende Angst, aber auch ihre distanzierte Haltung, ihren Kadavergehorsam und ihr fragliches Durchsetzungsvermögen. „Ich armer König habe keinen Freund, der mir hilft“, seufzte der König am 11. Juni nicht ohne Grund. Und warum verstummten letztlich selbst die erst nach 1886 lautstark sich äußernden Gutachtenzweifler?
Natürlich, doch warum wurde bisher der Wechselstimmungen im bayerischen Volk, der harschen Kritik der Münchner Bürger am König, dem fehlenden Mut der Landbevölkerung und den rigorosen Forderungen der Gläubiger Ludwigs II. noch nicht die erforderliche Aufmerksamkeit geschenkt? Lobte das Volk seinen König nur dann, wenn es Wohltaten von ihm erhielt? War es wirklich bereit, ohne zu zögern Gut und Leben für seine Rettung aufs Spiel zu setzen? Oder äußerte Ludwig im Juni 1886 zu Recht den Vorwurf: „Was tat ich meinem Volk, dass es mich so verlässt?“, worauf er vor seinem Tod noch verbittert die Frage hinzufügte: „Warum tut das Volk denn nichts zur Rettung seines Königs?“
Wer sich alle über vier Jahrzehnte ereignenden Agitationen gegen Ludwig II. vor Augen führt, erkennt die Vorhersehbarkeit durchaus. Sie erreichte ihren Höhepunkt in einem beispiellosen Entmündigungs-Chaos. Bei dieser grotesken Schmierenkomödie im Beisein eines aufgeschrecktes Häufleins Königstreuer kam es zu einem windigen Volksaufstand ohne Volk und zu einem sukzessiven Erlöschen der Königstreue in Verbindung mit der unerklärlichen Wirkungslosigkeit der Gegenproklamation und einem kläglichen Versagen der Aufständischen, das zu einer Entmachtung des Königs ohne Widerstand führte. „Sie hatten wohl keine Männer in Bayern, dass Sie ihren König so verraten und verkaufen ließen?“ äußerte ein österreichischer Offizier nicht ohne Grund.
Dass es dazu kommen musste, verwundert nicht beim Rückblick auf die Entwicklung der 22 Regierungsjahre Ludwig II. Das Desaster in Schloss Berg war geprägt von ärztlichen Fehlentscheidungen und der Nachlässigkeit aller Verantwortlichen, einem peinlichem Versagen der viel zu kleinen Gruppe von Gendarmen und einem Scheitern von 33 planlos handelnden und überforderten Fluchthelfern, wozu unter anderen auch Jakob Lidl gehörte, der wegen nachweislich unterlassener Hilfeleistung nicht zur Verantwortung gezogen wurde, falls er den angeblich angeschossenen König, wie er später behauptete, statt ins Boot zu ziehen tatsächlich ins Wasser geschoben hat.
Natürlich, auch Ludwig II. selbst gehörte, obwohl er Opfer war, zu den Verantwortlichen der Königskatastrophe. Als Provokateur und Grenzgänger, als Separationsfanatiker, Anachronist und Visionär, als Systemsprenger und verkappter Putschist, ja sogar als Amoralist und Landesverräter – sogar das warf man ihm vor! – mit seiner Sehnsucht nach Gottähnlichkeit provozierte er über die Jahre hinweg sämtliche in der „Entmündigungsmaschinerie“ zusammenwirkenden Personen und Institutionen derart massiv, dass er am Ende für sie untragbar wurde und so auf seine Weise mithalf, die „Königskatastrophe“ auszulösen.
Ja, da ging ein höchst kurioser Wandel vor sich. Begegnete man dem König zu Lebzeiten vor allem in München mit Argwohn und Kritik und schloss selbst eine geistige Erkrankung nicht aus, so änderte sich das schlagartig, als Ludwig II. tot war. Mit einem Aufschrei empörten sich nun alle über sein unwürdiges Ende, entrüsteten sich über den Staatsstreich der Regierung, der nun sogar „Königsmord“ unterstellt wurde, und waren von seiner geistigen Gesundheit plötzlich zutiefst überzeugt. Jeder behauptete plötzlich von sich, ein glühender Verehrer Ludwigs gewesen zu sein und leugnete entschieden eine Verantwortung an dessen Ende oder gar Mitschuld an seinem Tod. Schnell mussten Sündenböcke her und die fand man rasch in der „Viererbande“: Lutz, Holnstein, Prinz Luitpold und natürlich Dr. Gudden, denen man die Pest an den Hals wünschte. Man verdrängte, was in den 41 Lebensjahren des Königs geschehen war, starrte allein auf den 13. Juni und suhlte sich in unhaltbaren Mutmaßungen und Gerüchten über die Todesursache, die sich bis heute von Jahr zu Jahr wie Kaninchen vermehren, ohne zu einem Resultat zu führen.
… und zwar beim Begräbnis Ludwigs II. Da fanden sich beim Trauerzug neben unschuldigen Bürgern – auch die gab es! – sämtliche Schuldige, Mitschuldige und Verantwortlichen ein, darunter große Teile des bayerischen Volkes, das zu Tausenden den Weg von der Residenz zur Michaelskirche säumte, das Militär und der Adel, die königlichen Diener und Hofbeamten, der Klerus mit Bischöfen aus ganz Bayern, die königlichen Leibärzte, die General- und Flügeladjutanten, dann Prinz Luitpold in tiefgebeugter Haltung, die Prinzen des königlichen Hauses hinter ihm und die Kronprinzen von Preußen und Österreich, die Kronbeamten, Minister und Abgeordneten, Veteranenvereine, Feuerwehren und zum Schluss die Chevaulegers, Train und schwere Reiter. Viele von ihnen heuchelten jetzt mit Trauermine, den Märchenkönig schon immer verehrt und geliebt zu haben. Angewidert wandten sie sich von der kleinen Schar der Bösewichter ab, denen die alleinige Schuld an der „Königskatastrophe“ aufgebürdet wurde und verschlossen die Augen vor einer „Kollektivschuld“ am Tod des Königs.
Das lässt sich kaum bestreiten. Auf Grundlage umfangreicher Recherchen und eines differenzierten Quellenstudiums kommt der „Ludwig II.-Prozess“ jedenfalls zu einem ganz anderen Urteil als bisher verkündet. Es waren weitaus mehr Personen und Institutionen – und nicht nur in Bayern ansässige –, die über fast 41 Jahre hinweg in einer „Entmündigungsmaschinerie“ lückenlos zusammenwirkten und Ludwig II. von der Geburt bis zu seinem Ende „viele kleine Tode“ bescherten, die 1886 dann in sein endgültiges Ende münden mussten. Zum reibungslosen und perfekten Funktionieren dieser Teufelsmaschine, die 1845 startete, in den Jahren 1866 (Deutscher Bruderkrieg) und 1870 (Krieg gegen Frankreich und Kaiserproklamation) an Tempo zunahm und ab 1880 (Schuldenkrise) zur Hochform auflief, bevor 1886 König Ludwig II. in ihr schließlich zermalmt wurde, griff ein Rädchen perfekt ins andere.
Nach der zutreffenden Ansicht des Rechtsanwalts und Politikers Peter Gauweiler trägt jeder, der sich am Untergang des Königs auf die eine oder andere Weise beteiligte und den König psychisch zermürbte, eine Mitschuld an seinem Tod und ist nach dem damaligen bayerischen Recht „Mittäter einer Fremdtötung“ bzw. „Mittäter einer Fremd- oder Selbsttötung“, ganz gleich, auf welche Weise Ludwigs II. ums Leben kam, ob durch fremde oder eigene Hand.
Vielen Dank für das Gespräch.
Alfons Schweiggert: Der Ludwig-II.-Prozess. Die Schuldigen an der Königskatastrophe. Volk Verlag, München 2022.