Selbstorganisation adé? Der Stellenwert von agilen Prinzipien in der Pandemie
Der 23.03., schon jetzt ein Datum historischen Ausmaßes, fegte hierzulande nicht nur Geschäfte, Straßen und Büros leer. Für mich persönlich hat der Start des Lockdowns (in Österreich eine Woche vorher) noch eine andere Tragweite: Bis dato schwamm die agile Szene auf der Erfolgswelle einer prosperierenden Wirtschaft, agile Beratungsunternehmen wie unseres waren in den letzten Jahren gefragt wie eh und je. Dieser glückliche Umstand erlaubte uns, auch im eigenen Unternehmen neue Arbeitsweisen auszuprobieren, dabei Fehler zu machen und sie bestmöglich zu korrigieren. Selbstorganisation und selbstständige Entscheidungen anstelle hierarchiegeprägter, starrer Prozesse – wir predigten dieses Mantra rauf und runter, denn wir waren und sind zutiefst von dessen Wirksamkeit überzeugt. Doch mal ehrlich: In diesem Umfeld Selbstorganisation zuzulassen ist einfach – sind in einem finanziell gesunden Unternehmen doch mögliche Fehler schnell wieder ausgebügelt. Welchen Stellenwert aber haben agile Prinzipien, wenn es ums Ganze geht – also die Existenz eines Unternehmens bedroht ist?
borisgloger consulting war zwar nicht unmittelbar gefährdet – doch die Unsicherheit zunächst groß. Dennoch sind wir nicht in eine Command-and-Control-Mentalität zurückgefallen. Im Gegenteil: Die letzten Wochen zeigten, dass unsere Führungskultur, unsere agilen Prozesse und Strukturen resilient waren und die Firma durch die Krise sogar antifragiler wurde. So haben wir seit März/April:
Mehr neue Kollegen eingestellt als im Quartal zuvor
Unsere internen Prozesse verschlankt
Das Vertrauen in die Führung und umgekehrt in die Kolleginnen und Kollegen erhöht
Weiterhin transparent und partizipativ über Gehälter im Rahmen unserer Gehaltsgilde gesprochen
Neue Produkte erstellt
Neue Kunden gewonnen und alte Kunden behalten
Aus meiner Sicht sind fünf Ankerpunkte für das agile Krisenmanagement elementar, die uns in den letzten Monaten stützten und es nach wie vor tun.
Entscheidungshoheit in den Teams
Selbstorganisation meint in aller Konsequenz: Das Team entscheidet selbst. Doch was bedeutet das eigentlich, wenn gelernte Arbeitsabläufe ad hoc auf die Probe gestellt werden? Ein Beispiel: Auch wir haben als Reaktion auf die Krise Kurzarbeit angemeldet. Ich habe die Notwendigkeit aufgezeigt, das Einverständnis aller Mitarbeitenden eingeholt und gemeinsam mit der HR-Abteilung über die Besonderheiten aufgeklärt. Doch den entscheidenden Teil setzten die Kolleginnen und Kollegen selbst um: Die quer über Deutschland und Österreich verteilten Teams entschieden auf Grundlage der Informationen eigenständig, wer in Kurzarbeit geht und in welchem Umfang. Jedes Team beriet sich zuvor anhand nachvollziehbarer Kriterien und entschied untereinander, wer in Kurzarbeit gehen kann. Zuvor holte unsere HR-Abteilung die sich ständig ändernden Informationen über die einzuhaltenden gesetzlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen ein. Ganz wichtig war mir der persönliche Austausch und das Verständnis dafür: Es geht darum, unsere Arbeitsplätze zu sichern.
Übergeordnete Ziele, die uns durch die Krise navigieren
Wir bleiben in Kontakt mit unseren Kunden!
Bevor die Pandemie ausbrach, waren unsere Consultants oft 4 bis 5 Tage beim Kunden vor Ort und mit den Arbeitsprozessen der Kunden bestens vertraut. Von einem Tag auf den anderen brach der Kanal des direkten Kundenkontakts weg. Und: Nicht jeder Kunde hatte innerhalb von Stunden eine digitale Standleitung aufgebaut. Gleichzeitig war intern die Ungewissheit kaum auszuhalten: Wie wird es weitergehen? Bleiben unsere Kunden oder verhängen sie Projektstopps? Also fokussierten wir uns auf die Frage: Wie werden wir jedem Einzelnen gerecht und wie helfen wir wirklich weiter? In den ersten Tagen des Lockdowns haben die Kolleginnen, Kollegen und ich den telefonischen, persönlichen Kontakt gesucht und vorgefühlt, wie die Situation sich bei unseren Kunden darstellt. Wie geht es euch? Welche nächsten Schritte habt ihr geplant? Über welchen Kanal möchtet ihr künftig kommunizieren? Uns war wichtig, unseren Kunden zu zeigen: Wir sind da – und führen die Teams weiter. Wir unterstützten in jeder nur erdenklichen Form, bauten selbst neue Kompetenzen auf, informierten durch unseren Blog über digitale Arbeitsformen und moderierten Workshops und Meetings mit digitalen Tools wie MS Teams, Slack und Co. Kurz: Unser Fokus verlagerte sich noch stärker auf den wesentlichen Kundennutzen.
2. Jeder fakturierte Tag ist ein guter Tag
Von drastischen Einschnitten oder gar wirklich großen Auftragsabsagen blieben wir verschont — doch auch wir mussten Umsatzeinbrüche verkraften. Deswegen war es unternehmerisch unabdingbar, nicht nachlässig zu werden. So habe ich mein Team gebeten, darauf zu achten, da zu fakturieren, wo nur möglich. Will heißen: Die Aufträge beim Kunden wahrzunehmen, die wir in Rechnung stellen können. Den Ernst der Lage vor Augen, haben die Consultants das Verständnis aufgebracht und zunächst keine neuen Urlaube beantragt oder Vertretungen für nicht verschiebbare Ausfallzeiten organisiert. So konnten wir gewährleisten, rund um die Uhr für die Kunden da zu sein und auch in neu aufgekommenen Fragen zu beraten.
3. Liquiditätsplanung
Wie kommen wir in den kommenden Monaten durch diese Krise? Diese Frage habe ich mir selbst immer wieder gestellt, denn ich wusste: Da ich die Verantwortung für meine Mitarbeitenden trage, ist es zunächst essenziell, sich selbst bestmöglich abzusichern und diverse Szenarien durchzuspielen: Was kann schlimmstenfalls mit mir als Unternehmer passieren, wenn diese Krise die nächsten zwei Jahre andauert? Im nächsten Schritt erfolgt die gleiche Überlegung bezogen auf das gesamte Unternehmen: Wie muss ich es aufstellen, damit wir mindestens zwölf Monate über die Runden kommen? Diese Gedanken sind notwendig und wichtig, um keine überhasteten Entscheidungen zu treffen und ruhig und positiv im Umgang mit den Mitarbeitenden zu bleiben. Sie haben ein Recht darauf, zu erfahren, wie es um das Unternehmen steht. Dazu gehörte auch, den Mitarbeitenden bewusst zu machen, dass diese Phase nicht in ein paar Wochen vorbei sein wird.
4. Operational Excellence: Auch wir werden noch digitaler
Gegenüber Unternehmen, die weniger digital vernetzt waren, hatten wir zunächst einen großen Vorteil: Wir organisieren uns seit Jahren in dezentralen Teams quer über Deutschland und Österreich und nutzen dafür unterschiedliche Tools – für unseren Bedarf ist aktuell MS Teams ideal. Doch unsere Kundenberatungen fanden bis dato noch überwiegend analog statt. Für uns galt also auch: Wir werden noch digitaler. Meetups plötzlich online organisieren? Kein Problem. Nach ein paar Startschwierigkeiten mit Zoom konnten wir schnell und innerhalb kürzester Zeit alle unsere – zuvor physisch geplanten – Meetups in den virtuellen Modus umschalten. Auch unsere Trainings und Beratungen bieten wir in der Online-Version an.
Radikale Transparenz
In einer für jeden Einzelnen persönlich unsicheren und beängstigenden Situation belastet eine zusätzliche Unsicherheit im beruflichen Kontext sehr. Deshalb war von Anfang an klar: Wir steuern hier mit völliger Transparenz und Offenheit gegen. Die monatlichen Finanzberichte unseres Unternehmens sind schon immer für alle Mitarbeitenden transparent. Seit Beginn der Krisenzeit veröffentliche ich gemeinsam mit meinem CFO zusätzlich regelmäßig Videos, in denen wir die Zahlen und Trends ausführlich erklären, auf Risiken eingehen, nächste notwendige Maßnahmen, beispielsweise zur Kostenreduktion, erklären oder – wie aktuell – Erfolge in den Umsatzzahlen an alle Kolleginnen und Kollegen weitergeben. Fragen aller Art sind gewünscht. Zudem organisieren wir uns noch mehr nach elektronischen Boards, die etwa in MS Teams mit der Planner-Funktion einfach erstellt werden können. So behalten wir stets den Überblick, arbeiten und priorisieren gemeinsam.
Erhöhung der Kommunikationsfrequenz
Neben der Kundenkommunikation lag der Schwerpunkt stark auf der internen Kommunikation. Zeitgleich mit dem Lockdown war klar: Wir erhöhen vorerst die Abstimmungsfrequenz. In der ersten Phase des Lockdowns starteten viele Teams morgens mit einem gemeinsamen Daily – einem kurzen Videotelefonat von rund 15 Minuten – in dem die wichtigsten Themen und Aufgaben des Tages zur Sprache kamen. Im Channel „Kaffeeküche“ halten wir uns stets auf dem Laufenden und haben in der Krise den #DailyCheckOut wieder auferlebt. Hier schreibt jeder, der mag, am Abend seine wichtigsten Punkte des Tages auf – aber auch Gefühle und Eindrücke. Das hat nichts mit Kontrolle zu tun: Führungskräfte und Kollegen sehen so, mit welchen Herausforderungen jeder Einzelne zu tun hat und wer zu welchen Themen Unterstützung benötigt. Wir bleiben eine Gemeinschaft, auch virtuell. Einmal wöchentlich treffen sich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei einem virtuellen Frühstück, das unter dem Dach des privaten Austausches steht. „Wie geht es dir?“ steht als zentrale Frage im Mittelpunkt.
So lernen wir durch die erhöhte Kommunikationsfrequenz sehr schnell auch in extremen Situationen voneinander. Dabei entwickeln wir viele Ideen, die wir direkt ausprobieren – etwa in unserem neuen Produktentwicklungsbereich, der während der Krisenzeit entstand.
Chancen nutzen: Investieren statt sparen
Als Reaktion auf möglicherweise schwindende Umsätze gibt es bei mir ein Tabu: Am Personal sparen. Im Gegenteil: In den vergangenen Wochen führten wir viele Bewerbungsgespräche und stellten neue Kolleginnen und Kollegen ein, die uns seitdem auch in der Neukundenakquise tatkräftig unterstützen. Auf dem Prüfstand standen Abos und Mitgliedschaften, die uns keinen Nutzen mehr bringen und einfach nebenherliefen. Wir haben ausgemistet – aber nicht am falschen Ende.
Gleichzeitig sind wir von Anfang sehr in den kommunikativen Dialog gegangen sind: Am ersten Tag des (österreichischen) Lockdowns habe ich mein PR- und Marketing-Team zusammengerufen, um eine buchstäbliche Krisensitzung abzuhalten. Wie kommunizieren wir mit unseren Kunden und in welcher Form? Auf welchen Kanälen erreichen wir sie bestmöglich und bieten ihnen einen relevanten Mehrwert für die aktuelle Kommunikation? Die ersten Ideen entstanden und wurden in täglichen Kommunikations-Dailys ausgebaut. Mittlerweile treffen wir uns einmal wöchentlich zum Video-Call und sind in viel engerem Austausch als noch vor Ausbruch der Pandemie.
Seitdem versorgen wir unsere Kunden und andere Interessierte verstärkt auf den Social-Media-Kanälen, via Newsletter und im persönlichen Gespräch mit Tipps rund ums Remote-Arbeiten und positionieren uns als Beraterungsunternehmen, das aktuelle Herausforderungen löst. Ich denke, es ist wichtig, dass der kommunikative Faden zum Kunden nie ganz abreißt und er weiß, dass wir uns schnell auf die neuen Gegebenheiten einstellen können.
Rückblickend kann ich sagen: Unsere Voraussetzungen erlaubten uns, flexibel auf die neuen Herausforderungen zu reagieren und helfen uns enorm. Für mich beweist das einmal mehr: Agile Prinzipien wie Fokus, Vertrauen und der Mut, neue Wege einzuschlagen statt in starren Strukturen zu verharren, schaffen nicht nur ein humanes Arbeitsumfeld und verschlanken Prozesse – sie tragen dazu bei, dass Unternehmen profitabel werden und bleiben.