Selbstzweifel im Job: Das Hochstapler-Syndrom überwinden
Selbst Spitzenkräfte zweifeln im Job immer wieder an sich und ihren Fähigkeiten. Wie Sie aus schädlichen Denkfallen ausbrechen.
Von Morra Aarons-Mele
Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Auch unter sehr erfolgreichen Menschen gibt es Gemüter, die von Ängsten geplagt werden: Sie malen sich Worst-Case-Szenarien aus und zermartern sich das Hirn darüber, was möglicherweise schiefgehen könnte. Sie grübeln über Bagatellfehler und vergleichen sich permanent mit anderen. Und: Sie fokussieren sich auf negative Rückmeldungen und blenden anerkennende Worte aus.
In vielerlei Hinsicht sind ihre Ängste ihnen dabei sogar von Nutzen: Schließlich fördern sie Leistungsbereitschaft, den Willen, hart zu arbeiten, und Erfolg. Viele dieser Menschen sind geschätzte Mitarbeiter, weil sie immer bereit sind, sich ganz besonders anzustrengen, und sich nur mit dem Besten zufriedengeben. Die Kehrseite: Ihre innere Zerrissenheit kann den Betroffenen ihr Leben schwer machen, was wiederum ihre Performance beeinträchtigt und der Karriereentwicklung schadet.
Schauen wir uns den Fall Mark Goldstein an, einen Anwalt. Noch vor einigen Jahren konnte er nicht aufhören, sich Katastrophen auszumalen. Er hatte beispielsweise Angst davor, dass ihn jemand wegen eines Kunstfehlers verklagen würde. Außerdem maß er sich ständig mit seinen Kollegen. „In unserer Kanzlei gibt es rund 1800 Anwälte“, erklärt er, „und ich war überzeugt, alle anderen 1799 kämen mit dem Stress unserer Arbeit und des Alltagslebens besser klar.“ Um seine vermeintlichen Schwächen zu kompensieren, überprüfte er seine E-Mails zwanghaft auf Tippfehler und arbeitete jeden Urlaub durch.
Nihar Chhaya erzählt eine ähnliche Geschichte. Obwohl er laut Leadership-Coach Marshall Goldsmith zu den 100 besten Executive-Coaches der Welt gehörte, stellte Chhaya sich regelmäßig vor, sein Geschäft werde den Bach runtergehen. Er fragte sich, ob er in einem größeren Unternehmen nicht vielleicht besser aufgehoben wäre als in seinem eigenen. „In meiner Vorstellung waren alle anderen auf der Überholspur“, sagt er: „Ich war der Einzige, der nicht brillierte.“
Mir gehen diese Geschichten nah, weil ich unter demselben Problem leide. Als ich vor Kurzem eingeladen wurde, einem Verband von Businessautoren beizutreten, was nur auf persönliche Empfehlung möglich ist, geriet ich in Panik. Wer war ich, dass ich zu dieser Gruppe aus Bestsellerautoren, gefragten TED-Sprechern und einem Drei-Sterne-General gerechnet wurde? Das Hochstapler-Syndrom schlug bei mir voll durch.
So wie mir geht es vielen von uns: Wir erliegen dem, was Psychologen „Gedankenfallen“, „kognitive Verzerrungen“ oder „Denkfehler“ nennen – fehlerhafte, zumeist schwarzmalerische Denkmuster, die so tief verwurzelt sind, dass sie vollkommen unbewusst auftauchen und uns komplett im Griff haben. Wenn die Falle einmal zuschnappt, sind wir nicht mehr in der Lage, klar zu sehen, effektiv zu kommunizieren oder gute, realitätsbezogene Entscheidungen zu treffen. Und das wiederum kann sich negativ auf uns und unser Team auswirken.
Auch unter Spitzenkräften sind Gedankenfallen ausgesprochen weitverbreitet. Um ihnen zu entkommen, arbeiten manche Menschen bis zur Erschöpfung. Andere versuchen es mit Drogen oder Alkohol, Vermeidungsstrategien oder passiv-aggressivem Verhalten. Ich versichere Ihnen: Es gibt weit bessere Lösungen. Der erste Schritt besteht darin, die unterschiedlichen Denkfallen zu verstehen und herauszufinden, für welche Sie persönlich am anfälligsten sind. Dann können Sie gezielt und sogar wissenschaftlich untermauert dagegen angehen.
Im Arbeitskontext sind elf Denkfallen besonders häufig vertreten – und bei jeder können Sie auf die eine oder andere Art die Reißleine ziehen. Viele der genannten Beispiele stammen aus David Burns’ Klassikern „Feeling Good: The New Mood Therapy“ und „The Feeling Good Handbook“. Ich habe sie allerdings um einige weitere Beispiele, die ängstliche Leistungsträger besonders betreffen, ergänzt.
Falle 1: Alles-oder-nichts-Denken. Psychiater Burns beschreibt dies als die Tendenz, die Dinge entweder schwarz oder weiß zu sehen. Wenn eine Situation in Ihren Augen nicht perfekt gelaufen ist, könnten Sie sie natürlich als totalen Misserfolg ansehen. Gängiges Beispiel ist ein Vorstellungsgespräch. Alles-oder-nichts-Denker gehen aus so einem Termin meist mit dem Gedanken an einen einzigen Patzer oder die eine Sache, die sie noch hätten sagen wollen. Sie kommen dann zu dem Schluss, das Ganze sei ein totaler Reinfall gewesen. Weit gesünder ist es, das Gespräch insgesamt zu betrachten: Sicher, Sie hätten ein paar Dinge anders machen können, aber im Großen und Ganzen ist es doch gut gelaufen. Eine der besten Methoden, dem Alles-oder-nichts-Denken zu begegnen, besteht darin, das Wort „oder“ durch „und“ zu ersetzen. Das Gespräch hatte positive und negative Momente. Es war eine Mischung aus gut und mies gelaufen.
Wenn Sie den Eindruck haben, etwas sei eine einzige Katastrophe, sollten Sie sich an einen vertrauten Menschen wenden. Bei mir sind das in der Regel mein Mann oder mein ehemaliger Geschäftspartner. Beide kennen mich gut und haben ein Händchen dafür, mir zu helfen, auch Graustufen zu sehen.
Falle 2: Labeling. Laut Burns ist Labeling oder Etikettieren eine extreme Form des Alles-oder-nichts-Denkens: Statt einfach nur zu sagen: „Ich habe einen Fehler gemacht“, verpasst man sich selbst ein negatives Etikett: „Ich bin ein Versager.“ Wir alle haben unsere Lieblingslabel, wenn es darum geht, uns selbst zu kritisieren: Versager, Loser oder inkompetent, unqualifiziert, unverdient und vieles andere mehr.
Der Denkfehler besteht darin, die Ursache eines Problems auf den Charakter einer Person zurückzuführen und nicht etwa auf ihr Denken oder Verhalten. Das suggeriert, dass die Situation nicht verbessert werden kann. Wenn Sie dazu neigen, sich selbst schnell als von Natur aus unfähig zu sehen („Ich bin ein Versager“) anstatt als normaler Mensch, der nun mal Fehler macht und auch mal eine schlechte Entscheidung trifft („Ich mache gelegentlich Fehler“), haben Sie sich im Grunde schon aufgegeben. Das Gleiche passiert, wenn Sie andere abstempeln. „Wenn man jemanden für durch und durch schlecht hält“, schreibt Burns, „wird man feindselig gestimmt und ... es bleibt wenig Raum für konstruktive Kommunikation.“
Diese Gedankenfalle (und andere) bekämpft man am besten durch Ausgleichsdenken. Hinterfragen und prüfen Sie die Argumente, die für und gegen Ihre vorschnellen Schlüsse sprechen. Nehmen wir an, Sie fällen eine schlechte Entscheidung und automatisch kommt der Gedanke: „Was bin ich doch für ein Idiot!“ Welche Beweise gibt es dafür, dass Sie ein Idiot sind? In diesem speziellen Fall haben Sie eine falsche Entscheidung getroffen. Beschreiben Sie den Fehler. Und überlegen Sie dann: Ist eine einzige Fehlentscheidung wirklich der Beweis dafür, dass Sie ein Idiot sind? Natürlich nicht.
Es kann auch helfen, die entgegengesetzte Position zu betrachten. Gibt es irgendwelche Beweise dafür, dass Sie kein Idiot sind? Ich bin sicher, Sie werden viele Dinge finden, die Ihre Kompetenz und Ihr Können belegen. Wenn dieses Ausgleichsdenken auf Bereiche hinweist, in denen Sie sich verbessern könnten – diejenigen, die Sie beunruhigen –, nehmen Sie es einfach als Zeichen, künftig noch besser aufzupassen und sich womöglich mehr anzustrengen.
Falle 3: Voreiliges Schlussfolgern. Diese bekannte Denkfalle tritt in zweierlei Gestalt auf. Die eine Form ist das Gedankenlesen, das heißt der willkürliche Schluss, jemand reagiere negativ auf Sie. Ein Beispiel: „Er ist der Meinung, dass ich keine Beförderung verdiene. Ich bin sicher, sie hasst mich.“ Die andere Form ist die Wahrsagerei: Sie versuchen zu antizipieren, dass sich die Dinge schlecht entwickeln werden, selbst wenn objektiv nichts darauf hinweist. Dies kann zu Passivität führen („Warum sollte man es überhaupt versuchen?“).
Einmal war ich der Auffassung, eine Kollegin sei sauer auf mich, weil sie nicht gelächelt hatte, als wir uns im Flur begegneten. Es stellte sich heraus, dass sie sich nur Sorgen machte, weil ihre Kinder krank waren. Ich bin auch schon mit der festen Überzeugung in Meetings gegangen, dass ich meine Präsentation ganz gewiss vermasseln würde – was natürlich die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass genau das passiert. Egal wie man sie äußert: Voreilige Schlüsse können Selbstwertgefühl, Produktivität, Beziehungen und gute Entscheidungsfindung beeinträchtigen.
Gegen diese Gedankenfalle hilft die nackte Wahrheit. Fragen Sie sich: „Habe ich Zugang zu den Gedanken eines anderen Menschen? Kann ich wirklich wissen, was in der Zukunft passieren wird?“ Rufen Sie sich auch frühere voreilige Schlüsse ins Gedächtnis, die sich als falsch erwiesen haben.
Falle 4: Katastrophisieren. Bei dieser Gedankenfalle neigt man dazu, auf Grundlage von wenigen oder gar keinen Beweisen die schlimmstmöglichen Folgen anzunehmen. Zum Beispiel: Dieser winzige Fleck kann nur ein Melanom sein. Ein Streit mit der Partnerin oder dem Partner bedeutet das Ende der Beziehung. Eine nicht ideale Leistungsbeurteilung heißt, dass Sie demnächst gefeuert werden. Wer zum Katastophisieren neigt, rechnet immer mit dem Schlimmsten. Egal worum es geht.
Auch diese Art des Denkens untergräbt die Performance. Angenommen, eine Cashflow-Analyse Ihres Unternehmens fällt weniger positiv aus als erwartet. Plötzlich kommt die Befürchtung hoch, dass das Unternehmen auf dem absteigenden Ast ist und Sie Ihren Job verlieren werden. Obwohl Ihr rationales Gehirn weiß, dass dies höchst unwahrscheinlich ist, erscheint Ihnen in dieser Gedankenfalle selbst das abwegigste Szenario plausibel. An diesem Punkt sollten Sie den Rat der mehrfach ausgezeichneten Autorin Ashley C. Ford beherzigen: Angst ist ein schlechter Ratgeber, der „Sie anlügt und Ihnen sagt, dass alles immerzu schiefgehen wird“. Sie empfiehlt, sich zu vergegenwärtigen, dass „Gefühle keine Fakten“ sind.
Angst ist ein schlechter Ratgeber, der Sie anlügt und Ihnen sagt, dass alles immerzu schiefgehen wird.
Wenn es Ihnen schwerfällt, aus der Irrationalität herauszufinden, sollten Sie versuchen, die Denkspirale zu stoppen. Konsultieren Sie einen neutralen Beobachter, der Sie auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Oder versuchen Sie, Ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken – weg von der Katastrophe. Schon minimales Umdenken reicht aus, um den Fokus zu verlagern. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf das, was Sie kurzfristig tun können. Nicht auf das, was in drei Monaten oder vielleicht in einem Jahr passieren könnte.
Falle 5: Gedankliches Filtern. Burns beschreibt die mentale Filterung folgendermaßen: „Man wählt ein einziges negatives Detail aus und beschäftigt sich ausschließlich damit. Folge ist, dass sich Ihre Sicht auf die Realität verdunkelt wie ein Tintentropfen, der ein Glas Wasser verfärbt.“ Als Beispiel führt er eine Rednerin an, die viel positives Feedback zu ihrem Vortrag erhält, dieses aber ignoriert und sich stattdessen ausschließlich mit dem einzigen kritischen Kommentar eines Kollegen befasst.
Natürlich gibt es auch den umgekehrten Fall – man konzentriert sich auf das, was gut gelaufen ist, und übersieht das, was weniger gelungen ist. Allerdings neigen angstbesetzte Menschen eher dazu, sich auf das Negative zu stürzen und all die Dinge, die sie gut machen, nicht zu erkennen und zu nutzen. Das führt dazu, dass man sich entmutigt oder gar hoffnungslos fühlt.
Eine probate Möglichkeit, dieser Falle zu entkommen, besteht darin, über Meriten und erhaltenes Lob Buch zu führen. Notieren Sie, wenn Sie ein Ziel erreicht haben oder einen Sieg für Ihr Team oder Ihr Unternehmen verbuchen konnten. Und speichern Sie alle E-Mails, Tweets oder Nachrichten, die positives Feedback enthalten. Sie sind der objektive Beweis dafür, dass Sie gute Arbeit leisten. Wann immer Sie sich überfordert fühlen oder an sich zweifeln – schauen Sie in diesen Ordner. Der zusätzliche Vorteil: Ein solches Protokoll macht Selbsteinschätzungen und Leistungsüberprüfungen zu einem Kinderspiel.
Falle 6: Das Positive außer Acht lassen. Diese Falle ist dem gedanklichen Filtern sehr ähnlich, aber sie verdient einen eigenen Namen, weil sie bei Spitzenkräften so häufig auftritt. Wie oft habe ich gehört, dass Führungskräfte Erfolge abtaten, indem sie darauf beharrten, es sei Zufall gewesen, auf Glück oder gutes Timing zurückzuführen oder dass es jeder hätte erreichen können.
Das mag bescheiden und daher weniger schädlich als einige der anderen Denkfallen erscheinen, kann aber große Probleme verursachen, wenn es Sie etwa davon abhält, einen Erfolg zu wiederholen oder etwas Neues auszuprobieren. Eine frühere Kollegin von mir hat etwa Angst vor öffentlichen Auftritten. Obwohl ihre Präsentationen stets auf positive Resonanz stießen, bleibt sie dabei, das sei jedes Mal ein Glücksfall gewesen. Folglich lässt sie viele Gelegenheiten, bei denen sie etwas mehr im Rampenlicht stehen müsste, ungenutzt verstreichen. Wie schade!
Falle 7: Sollte-Sätze. „Ich sollte in meiner Karriere schon weiter sein. Es sollte nicht so schwer sein, in diesem Unternehmen voranzukommen. Ich sollte es besser wissen.“ Es gibt unzählige Beispiele für diese weit verbreitete Denkfalle, der wir gern erliegen, wenn die Realität nicht unseren hochgesteckten Hoffnungen oder Erwartungen entspricht. Sätze, die das Wort „sollte“ oder dessen nahen Verwandten „müsste“ enthalten, können der Stimmung und Motivation schaden. Wie Burns schreibt, hinterlassen sie eher ein Gefühl von Frustration und Trotz, als dass sie uns in die Lage versetzen, Veränderungen in Angriff zu nehmen und unsere Ziele zu erreichen.
Wenn Sie sich bei einem Sollte-Satz ertappen, versuchen Sie, ihn sanfter, weniger fordernd zu formulieren. Statt: „Ich sollte in meiner Karriere schon weiter sein“, etwa „Ich möchte in meiner Karriere schon weiter sein.“ Überlegen Sie dann, ob es etwas gibt, was Sie konkret tun können, um das Thema konstruktiv anzupacken. Falls ja, probieren Sie es aus. Falls nein, prüfen Sie, ob Ihre Aussage nicht vielleicht unrealistisch ist. „Ich sollte immer in der Lage sein, die Wünsche meines Chefs vorherzusehen“ ist ein unmöglicher Anspruch.
Falle 8: Sozialer Vergleich. Sich mit anderen zu vergleichen ist besonders verhängnisvoll, vor allem wenn es zu fatalistischen Selbsteinschätzungen führt: „Er wird immer mehr Umsatz machen als ich. Sie wird immer mehr Geld verdienen.“ Am Arbeitsplatz resultiert dies in ungesundem Wettbewerb und erhöhter Angst, was die Zusammenarbeit und die kollektive Performance beeinträchtigt.
Drücken Sie den mentalen Resetknopf. Stellen Sie keine Vergleiche an, sondern seien Sie einfach neugierig. Chhaya zum Beispiel sagt, er habe sich antrainiert zu denken: „Oh wow, das ist eine interessante Sache, die die da machen. Warum probiere ich das nicht auch mal aus?“ Oder: „Okay, das hat bei denen funktioniert, aber für mich ist das nicht das Richtige.“ Das Erfolgsrezept besteht darin, sich voll darauf zu konzentrieren, wer Sie sind und was Sie erreichen wollen, statt sich von Erfolgen anderer frustrieren und ablenken zu lassen.
Falle 9: Personalisieren und Beschuldigen. Dies sind entgegengesetzte Ausprägungen desselben Denkfehlers. Personalisierung liegt vor, wenn Sie sich selbst für Umstände und Prozesse verantwortlich machen, auf die Sie keinen Einfluss haben. Hat beispielsweise einer Ihrer direkten Mitarbeiter Probleme, seine Arbeit zu bewältigen, schließen Sie daraus, dass Sie eine schlechte Vorgesetzte sind. Psychologen zufolge tappen wir in diese Gedankenfalle, weil wir uns damit die Illusion von Kontrolle erhalten, Konflikte vermeiden wollen oder eine in der Kindheit erlernte Unterwürfigkeit replizieren.
Beim Beschuldigen hingegen wird das Problem ausschließlich anderen zugeschrieben: Es ist die Schuld Ihres Mitarbeiters, dass er sein Arbeitspensum nicht schafft. Sie können nicht nachvollziehen, dass er nicht die gleichen hohen Standards hat wie Sie.
Gesünder ist die Erkenntnis, dass die Wahrheit wahrscheinlich irgendwo in der Mitte liegt – oder zumindest nähere Nachforschungen erfordert. In einem Fall wie dem oben genannten könnten Sie sich beispielsweise mit Ihrem direkten Vorgesetzten zusammensetzen, ihn fragen, wo er die Ursache des Problems sieht, und dann gemeinsam mögliche Lösungsstrategien erarbeiten.
Falle 10: Ständiges Grübeln. Hierbei handelt es sich um zwanghafte Gedanken über negative Ereignisse in der Vergangenheit, über Probleme in der Gegenwart oder über zukünftige Schwierigkeiten. Gedankenkreisen ist ein ziemlich großer Angstverstärker und leider weitverbreitet. Wer hat nicht schon einmal eine unbedachte Äußerung, eine schlechte Entscheidung, eine schmerzliche Begebenheit oder ein misslungenes Comeback immer wieder mental durchgespielt? Wer hat sich noch nie so sehr auf eine Herausforderung fixiert, dass alles andere unwichtig erschien?
Was Grübeln von hilfreicher Verarbeitung unterscheidet, ist das Fehlen von neuen Wegen des Denkens, des Verhaltens oder der Problemlösung. Es dreht sich immer um dasselbe und hält uns in einer negativen Denkschleife gefangen. Zukunftsorientiertes Grübeln mag sich gut anfühlen: Wer sich Gedanken über eine schwierige Aufgabe macht, wird sich mehr anstrengen; wer sich über ein schlechtes Ergebnis ärgert, wird alles tun, um Wiederholungen zu vermeiden. Das funktioniert allerdings nicht wirklich. Fast immer führt Grübeln dazu, dass man in einem Muster der Untätigkeit verharrt.
Um aus dem Gedankenkarussell auszusteigen, kann es hilfreich sein, die unguten Gedanken aufzuschreiben. So lässt sich leichter erkennen, ob sie irrational oder unlogisch sind. Und das motiviert dazu, in Bewegung zu bleiben.
Falle 11: Emotionales Schlussfolgern. Diese Denkfalle lässt sich in dem Satz zusammenfassen: „Ich fühle es, also muss es wahr sein.“ Ein Beispiel: „Ich habe Angst, in ein Flugzeug zu steigen; fliegen ist bestimmt sehr gefährlich.“ Doch jeder Psychologe wird Ihnen sagen, dass Emotionen das Produkt von Gedanken und alten Glaubenssätzen sind. Und wenn unsere Vorstellungen voreingenommen und verzerrt sind, spiegeln die Emotionen, die wir aufgrund dieser Gedanken empfinden, nicht die Realität wider.
Im Arbeitsumfeld kann sich emotionales Schlussfolgern etwa so äußern: „Ich fühle mich von meinem Arbeitspensum überfordert; deshalb bin ich nicht in der Lage, meinen Job zu machen.“ Leider kann dies zu einer ungesunden Reaktion führen beziehungsweise einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Wenn Sie etwa auf das Gefühl von Überforderung mit Vermeiden oder Aufschieben reagieren, machen Sie eine bereits ungute Situation nur noch schlimmer.
Wie bei anderen Gedankenfallen hilft auch hier, den Teufelskreis zu durchbrechen und den Kopf freizubekommen. Sprechen Sie mit einer unbeteiligten Person, und überprüfen Sie Ihre emotionsgeladenen Gedankengänge auf objektiven Wahrheitsgehalt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird sich herausstellen, dass beispielsweise Ihr Gefühl der Unfähigkeit falsch oder zumindest übertrieben ist.
Machen Sie Ihre Angst zu Ihrem Verbündeten. Sind Sie bereit, sich mit diesem komplexen Gefühl auseinanderzusetzen, kann es zu einer nützlichen Informationsquelle und letztlich sogar einem Führungsvorteil werden. Die Voraussetzung ist allerdings, dass man es besser versteht. Stellen Sie sich Fragen wie „Was genau bereitet mir Sorgen? Ist es eine Person, eine Situation oder ein mögliches Ergebnis?“ und „Warum beunruhigt es mich?“.
Wenn Sie die wahre Quelle Ihrer Angst kennen, können Sie aufhören, reflexartig zu reagieren, und stattdessen konzentriert und zielorientiert arbeiten. Chhaya sagt, er habe mit seinem „neurotischen“ Ich Frieden geschlossen: „Ich habe mich mit der Tatsache abgefunden, dass ... dies eine natürliche Tendenz von mir ist, und in gewisser Weise leistet sie mir gute Dienste, weil sie mich dazu bringt, im Voraus über viele Probleme nachzudenken.“
Wenn Sie die wahre Quelle Ihrer Angst kennen, können Sie aufhören, reflexartig zu reagieren.
Üben Sie sich in Selbstempathie. Wie die Psychologieprofessorin Kristin Neff gezeigt hat, kann es Ängste erheblich verringern, wenn man Selbstbeurteilung durch Selbstempathie ersetzt. Wenn Sie sich selbst positiver begegnen, fühlen Sie sich besser, denken klarer – und Sie entrinnen den üblen Gedankenfallen.
Dazu eine Übung: Denken Sie an etwas, was Ihnen vor Kurzem gut gelungen ist. Vielleicht hatten Sie ein Erfolgserlebnis auf der Arbeit, ein wirklich gutes Gespräch mit einer Freundin, oder es ist Ihnen sogar gelungen, eine Stunde Fitness in einen anstrengenden Tag zu quetschen. Klopfen Sie sich jetzt einmal selbst auf die Schulter. Sagen Sie sich: „Das habe ich gut gemacht“, und versuchen Sie, das auch wirklich zu fühlen. Springen Sie nicht gleich zum nächsten negativen Gedanken, sei es eine kritische Bemerkung oder der nächste Punkt auf Ihrer To-do-Liste. Freuen Sie sich an dem, was Sie erreicht haben, und sei es auch nur ein bisschen.
Nehmen Sie es mit Humor. Manche Denkfallen sind echt witzig, wenn man sie bis zu ihrem logischen Ende durchspielt: Wird ein Tippfehler dazu führen, dass Sie gefeuert werden? Kann es tatsächlich allein Ihre Schuld sein, dass Ihr Unternehmen seine Verkaufsziele nicht erreicht hat? Nein, natürlich nicht! Wenn Sie sich diese Absurdität eingestehen und sich darüber amüsieren, können Sie sich aus dem Würgegriff der Gedankenfalle befreien. Nehmen Sie Ihren Ängsten den Schrecken, indem Sie sie ad absurdum führen und lernen, darüber zu lachen.
Bewegen Sie sich. Manchmal ist körperliche Bewegung der beste Weg, den Kopf freizubekommen. Laufen Sie ein paar Treppen hoch. Stehen Sie auf, recken und strecken Sie sich. Legen Sie Musik auf und tanzen Sie. Schon wenn Sie etwas aufschreiben, anstatt nur darüber nachzusinnen, kann das eine gewisse Trennung zwischen Gehirn und Körper bewirken.
Versuchen Sie es mit Meditation. Seit Langem empfehlen Experten Meditation als Mittel zum Angstabbau. Ich habe allerdings festgestellt, dass eine stille Meditation, wenn ich wirklich in einer Gedankenfalle festhänge, schnell in Grübeln übergehen kann – möglicherweise auch in Katastrophisieren, in gedankliches Filtern, in Labeling und all die anderen genannten Fallen. Eine geführte Meditation könnte besser funktionieren, denn dabei spricht jemand und lädt Sie ein, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf Ihre wenig hilfreichen Gedanken. Wenn es Ihnen gelingt, zur Ruhe zu kommen und den inneren Reset-Knopf zu drücken, dann ist das wie Zauberei.
Sagen Sie häufiger Nein. Das mag sehr simpel erscheinen, aber es hat große Wirkung. Sobald Sie in eine Gedankenfalle geraten, unterbrechen Sie sie, indem Sie – wenn möglich laut – „Nein!“, „Stopp!“, „Nein danke!“ oder „Heute nicht!“ sagen. Je öfter Sie dies praktizieren, desto stärker die Wirkung. Ihr Gehirn wird lernen, angstbesetzte Gedanken abzustellen, bevor sie Sie gänzlich gefangen nehmen.
Wenn Sie Ihr Potenzial voll ausschöpfen wollen, dürfen Sie nicht zulassen, dass Denkfallen die Oberhand gewinnen. Goldstein zum Beispiel gelang der Befreiungsschlag, indem er sich eine Zeit lang beurlauben ließ, um Achtsamkeit und Selbstempathie zu lernen. Sein Ehrgeiz und manchmal auch seine Ängste sind nach wie vor da, aber er steigert sich nicht mehr hinein, katastrophisiert nicht mehr und behält eher den Überblick.
Auch Chhaya hat einen Weg gefunden, seine Zweifel und Sorgen zu lindern. Ihm hilft es, objektive Beweise zu suchen: „Ich hatte in den letzten sieben Jahren Erfolg mit meinem Business und habe mehr Aufträge als je zuvor“, erklärt er. „Deshalb traue ich mich jetzt zu sagen, dass es mir auch weiterhin gut gehen wird.“
Was mich betrifft, so bin ich das beste Beispiel dafür, dass man als leistungsorientierter Mensch sein ängstliches Ich gut nutzen und sogar Kapital daraus schlagen kann. Ich hoste einen Podcast zum Thema, habe ein Buch darüber geschrieben und coache andere Menschen, die ähnlich gestrickt sind wie ich.
Meine Botschaft ist einfach: Wenn wir unsere Ängste in den Griff bekommen und ihren Einfluss auf uns mildern, sind wir energiegeladener, kreativer, leisten mehr und fühlen uns besser. Wir werden zu Führungspersönlichkeiten, für die man gern arbeitet und visionäre Risiken eingeht, die für positive Veränderungen nötig sind. Ich verspreche Ihnen: Sie werden denselben, vielleicht sogar größeren beruflichen Erfolg haben – ohne sich ständig gestresst zu fühlen. © HBP 2023
Autorin
Morra Aarons-Meleist Expertin für digitale Kommunikation, Autorin, Rednerin und Podcasterin. Sie gründete die Social-Impact-Agentur Women Online und das Influencerinnen-Netzwerk „The Mission List“. In ihrem Buch „Hiding in the Bathroom. How to Get Out There When You’d Rather Stay Home“ (Dey Street Books 2017) beschreibt sie, wie introvertierte und ängstliche Menschen die Kontrolle über ihr Leben und ihre Karriere zurückgewinnen können.
Dieser Beitrag erschien erstmals in der Mai-Ausgabe 2023 des Harvard Business manager.
