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Shared Value und Purpose: Wie Gewinn und Sinn zusammengehen

Nachhaltiges Wirtschaften bedeutet auch, um die Balance aus Wirtschaftlichkeit und den eigenen Werten zu ringen. Eine Harvard-Studie zeigt, welche ­Kompromisse Sie eingehen sollten und welche Sie besser vermeiden.

Von Ranjay Gulati

Die Erfolgsgeschichte von ­Gotham Greens ist beeindruckend: Mit moderner, pestizidfreier Hydrokultur baut das New Yorker Start-up nachhaltige Lebensmittel an, die es inzwischen in über 40 US-Bundesstaaten vertreibt. Seit seiner Gründung 2009 hat das Unternehmen über 450.000 Quadratmeter ungenutzter Gewerbeflächen und Industriebrachen in urbane Gewächshäuser verwandelt, die 95 Prozent weniger Wasser und 97 Prozent weniger Fläche benötigen als konventionelle Landwirtschaft. Bereits im ersten Geschäftsjahr schrieb Gotham Greens Gewinne – und wurde vom „Business Insider“ zu einem der „50 coolsten Jungunternehmen in den USA“ gekürt. Ende 2020 hatte der grüne Pionier 130 Millionen US-Dollar Investitionskapital angezogen.

Gotham Greens beschreitet neue Wege in der lokalen Lebensmittelproduktion, haucht Kommunen neues Leben ein und entwickelt Innovationen für eine nachhaltigere Zukunft. Es steht außer Frage: Das Unternehmen leistet einen wichtigen gesellschaftlichen und ökologischen Beitrag. Darüber hinaus generiert es Arbeitsplätze und sorgt bei Investorinnen und Investoren für Gewinne.

Gotham Greens verfolgt ein Konzept, das Michael Porter, der wie ich an der Harvard Business School lehrt, und Mark Kramer, der Mitbegründer des Non-Profit-Beratungsunternehmens FSG, Shared Value nennen und das John Mackey, der die Supermarktkette Whole Foods Market mitgegründet hat, als nachhaltigen Kapitalismus bezeichnet.

Doch selbst einem Unternehmen wie Gotham Greens gelingt es nicht immer, seine Ideale hundertprozentig zu verwirklichen. So wird etwa das Obst und Gemüse des Unternehmens noch immer in umweltschädlichen Einwegplastikverpackungen angeboten. Wie passt das zu dem Geschäftsmodell, das sich doch einer nachhaltigen, abfallarmen Produktion verschrieben hat? CEO Viraj Puri zufolge sei die Entscheidung nicht einfach, aber wohlbegründet gewesen. In anderen Worten: Sie war eine Kompromisslösung, wie sie selbst die anständigsten Unternehmen eingehen müssen, wenn sie langfristig am Markt bestehen wollen.

In den vergangenen Jahren habe ich umfangreiche Studien zu der Frage ­betrieben, was gemeinwohlorientierte Unternehmen – junge wie etablierte – erfolgreich macht. Diejenigen unter ihnen, denen es gelingt, ihren Werten zu folgen und gleichzeitig Gewinn zu erzielen, betrachten beide Ziele als gleichwertig – und als Hebel, mit denen sie wirklich alle Bereiche ihres Unternehmens verbessern können. So kann ein Produktionsbetrieb beispielsweise auf erneuerbare Energien setzen, weil er die Umweltverschmutzung reduzieren und nebenbei natürlich auch Kosten sparen will. Genau wie eine Bank sich diverser aufstellen kann, weil sie in der eigenen Kommune mit gutem Beispiel vorangehen möchte, aber eben auch, weil es ihr dabei helfen kann, die eigene immer vielfältiger werdende Kundschaft besser zu erreichen und innovativer zu werden.

Lange waren Unternehmenslenkerinnen und -lenker überzeugt, dass Dinge wie Gemeinwohl und Gewinn nicht wirklich zusammengehen und sich, schlimmer noch, sogar eher gegenseitig schaden. Eine Win-win-Lösung aus Werten und Umsätzen galt als unvorstellbar. Diese Sichtweise stellte Führungskräfte vor eine Zerreißprobe, mussten sie doch im Ernstfall entscheiden, für welche Seite ihr Herz wirklich schlug.

Und in der Tat kehren noch viele Unternehmen zu einer Profit-first-Strategie ­zurück, wenn es hart auf hart kommt. ­Andere, die sich ihrer Mission stärker ­verpflichtet fühlen, halten dagegen an ihren Werten fest, was im schlimmsten Fall in die Insolvenz führt. Wollen Sie jedoch langfristig Gewinne erzielen und parallel einen positiven Beitrag in der Welt leisten, ist keine der oben genannten Strategien wirklich tragfähig.

In meinen Studien habe ich private und staatliche Großunternehmen untersucht und bin dabei auf einen besseren Ansatz gestoßen, bei dem der „Purpose“ einer Organisation wie ein Leitstern fungiert: Er kann Unternehmen dabei helfen, sich der eigenen Prioritäten bewusst zu werden und damit auch dann Orientierung bieten, wenn ein Kompromiss erforderlich ist.

Ein guter Kompromiss erfordert von den Verantwortlichen dreierlei: Er muss zum einen alle wichtigen Beteiligten miteinbeziehen und dafür sorgen, dass diese sich austauschen. Er sollte zudem nicht kurzfristigen Win-win-Lösungen dienen und stattdessen für Lösungen sorgen, die zwar kurzfristig Abhilfe leisten, aber vor allem langfristig für Mehrwert sorgen. Und er sollte kommunikativ so begleitet werden, dass die Überlegungen hinter den sicherlich schwierigen Entscheidungen wirksam kommuniziert werden, damit die Unterstützung der Stakeholder gesichert ist.

Klingt nach einer Mammutaufgabe. Doch inzwischen beweisen Dutzende ­Beispiele – darunter Gotham Greens, die Gesundheitsplattform Livongo, der Onlinemarktplatz Etsy, die japanische Unternehmensgruppe Recruit, die indische Unternehmensgruppe Mahindra sowie das Technikunternehmen Bühler –, dass ein guter Kompromiss funktionieren kann.

Bevor wir uns dem schwierigen, aber notwendigen Prozess der Kompromissfindung widmen, will ich kurz erklären, was ich unter einem Deep-Purpose-Unternehmen verstehe.

Im Zuge meiner Recherchen und Beratungsarbeit habe ich in den vergangenen Jahrzehnten Hunderte von Purpose- und Mission-Statements untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass die überzeugendsten und wirksamsten von ihnen zwei grundlegende und miteinander ­zusammenhängende Eigenschaften aufwiesen: Erstens beschreiben sie ein ehrgeiziges und langfristiges Unternehmensziel. Zweitens verbinden sie es mit einem größeren gesellschaftlichen Zweck und benennen die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme, an deren Lösung sich das Unternehmen im Sinne aller Stakeholder beteiligen will.

Deep-Purpose-Unternehmen verankern den Purpose in ihrer Strategie, ihren Prozessen, ihrer Kommunikation, ihrer Personalpolitik, ihrer operativen Entscheidungsfindung und sogar in ihrer ­Kultur. Leider ist die Zahl solcher Unternehmen noch eher begrenzt. Die meisten Unternehmen verfolgen einen, wie ich es nenne, „Wohlfühl-Purpose“: Sie sprechen zwar von Werteorientierung, handeln aber nur oberflächlich danach.

Viele Unternehmen sprechen von Purpose. Die meisten handeln nur oberflächlich danach.

Manche setzen sich hohe Ziele und ­dienen der Gesellschaft, verkaufen aber gleichzeitig Produkte und Dienstleis­tungen, die Schaden anrichten. Je nachdem, wo Sie die moralische Messlatte ­anlegen, zählen bestimmte Unternehmen aus den Branchen fossile Brennstoffe, ­Tabak, Alkohol, Junkfood, Waffen und auch traditionelle Medien- sowie Social-Media-Unternehmen dazu. Ihr Enga­gement für das Gute geht nicht so weit, dass sie sich von lukrativen aber frag­würdigen Geschäften verabschieden ­würden. Hier fungiert der Purpose als ­Tarnung. Im Extremfall gehen Unternehmen sogar so weit, begrüßenswerte Ziele zu missbrauchen, um eigenes Fehlver­halten zu vertuschen. Ein Beispiel ist das Gesundheits-Start-up Theranos, das mit der Idee schnell durchführbarer privater Bluttests gegründet wurde. Dem Unternehmen wurde jedoch vorgeworfen, die Öffentlichkeit über die Wirksamkeit ­seiner Methode getäuscht zu haben. Oder Purdue Pharma, das den Verkauf seines bahnbrechenden Schmerzmittels Oxycontin extrem forciert hat und so die ­verheerende Opioidkrise in den Vereinigten Staaten maßgeblich mit ausgelöst ­haben soll.

Anderen Unternehmen dient der Purpose als Fassade. Sie betreiben ein erfolgreiches Kerngeschäft, initiieren außerdem CSR-Projekte, verknüpfen die beiden Bereiche aber nicht miteinander. Sie stiften sicher einen gewissen gesellschaftlichen Nutzen und belohnen auch zweifelsohne ihre Stakeholder. Doch macht sie das nicht zu Unternehmen, die ökologisch nachhaltig wirtschaften, das Wohlbefinden der Beschäftigten fördern und die Kommunen vor Ort unterstützen.

Dann gibt es wiederum Unternehmen, die Purpose als Win-win betrachten. Sie suchen nach genau dem Sweet Spot, an dem sich gesellschaftlicher und eigener Nutzen treffen. Dieses Ideal lässt sich jedoch seltener erreichen, als man denkt, weshalb diese Unternehmen häufig entweder an ihren wirtschaftlichen oder an ihren gesellschaftlichen Ansprüchen scheitern – meistens an letzteren. Dem Journalisten und Kommentator Anand Giridharadas zufolge ist das „Versprechen der Schmerzfreiheit“ (promise of painlessness) – also der Gedanke, Anlegerinnen und Topmanager müssten keine ­Opfer für den guten Zweck erbringen – äußerst naiv.

Deep-Purpose-Unternehmen sind anders. Wie der Name sagt, sehen sie sich sowohl ihren sozialen als auch ihren wirtschaftlichen Werten tief verpflichtet und lassen sich auch in kleinen Entscheidungen, Handlungen und Prozessen von ihnen leiten. Verantwortliche in diesen Unternehmen zeichnen sich durch praktischen Idealismus aus: Das bedeutet, sie akzeptieren Kompromisse nicht einfach, sondern tauchen regelrecht in sie hinein. Sie sind fest entschlossen, ihren Purpose zu realisieren, verstehen aber, dass sie ­innerhalb des Korsetts unseres kapitalistischen Systems handeln müssen.

Sehen wir uns einmal die Grafik „Gewinn und Gemeinwohl gegeneinander ­abwägen“ an (links): Jedes wert- und gewinnorientierte Unternehmen würde von sich behaupten, nach dem Zustand „Gewinn und Gemeinwohl“ zu streben. Deep-Purpose-Unternehmen mit ihrem praktischen Idealismus erreichen diesen Quadranten häufiger als andere. Nicht nur, weil sie sich dem Ziel „Gewinn und Gemeinwohl“ wirklich verpflichtet fühlen, sondern auch, weil sie bereit sind, eine Zeit lang im Quadranten „Profit first“ oder „Guter Samariter“ zu verweilen, wenn sie die Chance sehen, das Win-win-Ideal ­später zu erreichen. Dafür verzichten sie mitunter auf Entscheidungen, die lediglich wirtschaftlichen, aber keinen ge­sellschaftlichen Mehrwert versprechen. Wenn eine Option allerdings zu einer Gewinnsteigerung führt, die langfristig größeren gesellschaftlichen Nutzen stiftet, verfolgen sie diese vielleicht und setzen im weiteren Verlauf alles daran, dass sie letztlich allen Stakeholdern zugutekommt. Oder auch andersherum: Wenn sie eine Gute-Samariter-Idee haben, von der sie glauben, dass sie eines Tages Gewinne einspielen wird, verfolgen sie diese eventuell weiter – immer unter der Prämisse, dass sie sich am Ende auch finanziell auszahlt.

Verantwortliche dieser Unternehmen wissen: Es gibt keine perfekte Lösung, von der alle Beteiligten zu jeder Zeit gleichermaßen profitieren. Deshalb suchen sie nach Kompromissen, die kurzfristig oder von manchen Akteuren Opfer erfordern, die aber auf lange Sicht Mehrwert für alle schaffen.

Sehen wir uns an, wie unterschiedliche Unternehmen mit diesen Kompromissen umgehen.

Den Purpose fest im Blick. Laut Viraj Puri, dem CEO von Gotham Greens, gehört der Wille, eine ökologische Vorreiterrolle einzunehmen (und gleichzeitig wirtschaftliches Wachstum zu erzielen), fest zur DNA des Unternehmens. Er ist der Ausgangspunkt für alle Entscheidungen, bei strategischen genau wie bei taktischen Fragen.

Als Beispiel kann das bereits erwähnte Verpackungsdilemma dienen. Nach Prüfung verschiedener umweltfreundlicher Optionen entschied sich Gotham Greens zunächst für vielversprechende Behälter aus kompostierbaren Fasern. Sie waren erschwinglich und umweltfreundlich – eigentlich perfekt. Als der Salat jedoch geerntet und verpackt wurde, stellten die Verantwortlichen fest: Die Blätter verwelkten nach wenigen Tagen. In der Plastikverpackung blieben sie dagegen mindestens zwei Wochen lang frisch.

Nun hätte das Unternehmen den Weg des guten Samariters wählen und an der umweltfreundlichen Verpackung festhalten können. Doch das hätte schnell den finanziellen Ruin bedeutet, Einzelhändlerinnen und Verbraucher hätten das labbrige Gemüse sicherlich abgelehnt. Gotham Greens hätte sich auch für „Profit first“ entscheiden und bei der Plastikverpackung bleiben können. Stattdessen ließen sich die Verantwortlichen von ihrer Mission leiten und investierten weitere Monate in die Forschung.

Eine weitere Alternative bestand darin, das Obst und Gemüse unverpackt an­zubieten. Doch davon nahmen Verbraucherinnen und Verbraucher Abstand, ihnen erschienen verpackte Lebensmittel sauberer, hochwertiger und sicherer. Der Einzelhandel signalisierte zwar, er wolle auch weiterhin Produkte von Gotham Greens beziehen, jedoch in wesentlich geringeren Mengen als bisher. Kein gangbarer Weg für das Unternehmen, das sich auf die Fahnen geschrieben hatte, den Lebensmittelanbau zu revolutionieren.

Im nächsten Schritt überprüften Puri und seine Mitstreitenden verschiedene Kunststoffsorten – immer unter der Prämisse der Nachhaltigkeit. Wiederverwertbare und recycelte Kunststoffe waren ­attraktiv, aber zu teuer. Am vielver­sprechendsten schienen kompostierbare Kunststoffe, doch schnell zeigte sich, dass diese nicht so grün waren wie angepriesen: Für die Herstellung wurde subventionierter, genetisch veränderter Mais verwendet, und das Material konnte nur von Verbraucherinnen und Verbrauchern kompostiert werden, die in der Nähe geeigneter Aufbereitungsanlagen wohnten. Der Großteil würde auf Deponien oder – noch schlimmer – in der Recyclingtonne landen, wo er nicht hingehörte.

Zu guter Letzt entschied sich Gotham Greens für hochwertige PET-Kunststoffe, die flächendeckend von Recyclinganlagen angenommen werden. Zehn Jahre später sind diese Behälter immer noch im Einsatz. Gleichzeitig hat das Unternehmen ein Team damit beauftragt, technolo­gische Entwicklungen zu verfolgen und nach nachhaltigeren Lösungen zu suchen. Der Purpose diente dem Unternehmen in diesem Fall nicht nur als Ausgangspunkt für die Entscheidung, sondern sorgte auch im weiteren Verlauf für Klarheit und Orientierung. Er half den Verantwortlichen, mit schwierigen Kompromissen umzugehen und die damit verbundenen Entscheidungen sorgfältig und bewusst zu treffen.

Auch Livongo lässt sich bei schwierigen Entscheidungen von seinem Purpose ­leiten. 2014 gründete Glen Tullman das Unternehmen mit einer einfachen, aber revolutionären Mission: Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes, die ihren Blutzuckerspiegel regelmäßig überprüfen müssen, ein gesundes Leben zu ermöglichen ohne die stetig wiederkehrenden ärztlichen Routineuntersuchungen. Für Tullman, der bereits andere Unternehmen im Gesundheitssektor auf den Weg gebracht hatte, war das ein persönliches Anliegen: Zehn Jahre zuvor war bei seinem damals achtjährigen Sohn Sam Typ-1-Diabetes diagnostiziert worden.

Livongo – kurz für „Live Life on the Go“ – versorgt seine Patientinnen und Patienten mit Geräten, die sie unmittelbar nach Einführen eines Blutzuckerteststreifens über ihren Gesundheitszustand informieren. Anschließend werden die Daten in eine Cloud hochgeladen, wo sie regelmäßig überwacht und ausgewertet werden. Die Mitglieder erhalten Empfehlungen und werden benachrichtigt, sobald Unregelmäßigkeiten in den Daten auf­tauchen. Mit dem klaren Ziel vor Augen, Patientinnen und Patienten das Leben zu erleichtern, sind Tullman und sein Team frühzeitig einige unkonventionelle Kompromisse eingegangen.

So verteilte Livongo beispielsweise kostenlose Teststreifen, damit Patientinnen und Patienten sie häufiger einsetzten. Zudem stellte das Unternehmen ein virtuelles Beratungsteam für Notfälle zusammen. Und es bot seinen Service auch jenen Menschen weiterhin an, die nicht mehr bei dem Unternehmen beschäftigt waren, das sie ursprünglich auf der Plattform angemeldet hatte. Große Investitionen für ein kleines Start-up, die damals Guter-Samariter-Entscheidungen darstellten. Doch Livongo wusste, es würde sich langfristig finanziell auszahlen, Kundinnen und Kunden zu binden und Mehrwert für die Investoren zu generieren.

Bereits zwei Jahre nach seiner Gründung verzeichnete das Unternehmen 53.000 aktive Mitglieder bei über 200 Kundenunternehmen, eine überdurchschnittliche Mitarbeiterzufriedenheit und fast 40 Millionen US-Dollar Umsatz. 2019 ging Livongo an die Börse und erzielte einen Marktwert von 3,4 Milliarden Dollar. Im vergangenen Jahr, kurz vor der Fusion mit dem Telemedizinunternehmen Teladoc, lag dieser bereits bei 18,5 Milli­arden Dollar.

Kompromisse bewusst eingehen. Deep-Purpose-Unternehmen haben keine Angst vor schwierigen Entscheidungen. Im Gegenteil: Sie lassen sich ganz bewusst auf Komplexität, Mehrdeutigkeiten und Widersprüche ein. Deshalb hat Gotham Greens monatelang nach der besten Verpackungsmöglichkeit gesucht, sich dann für eine Zwischenlösung mit Schwächen entschieden, um schließlich weiter nach einer besseren Option zu suchen.

Wie Sarah Kaplan, Professorin an der Rotman School, richtig anmerkt, kommen Unternehmen nicht weiter, die „Probleme für unlösbar erklären“. Sie müssten stattdessen lernen, „durchzuhalten, bis sie die Spannungen auflösen können“. Dazu sollten sie sich intensiv mit ihren Stake­holdern austauschen, um deren Sicht kennenzulernen und zu verstehen, welche Auswirkungen eine bestimmte Entscheidung für sie haben könnte und welche Aspekte für sie entscheidend sind. Die Verantwortlichen bei Gotham Greens haben mit Einzelhandelskunden gesprochen, Material- und Recyclingfachleute befragt und eigene Mitarbeitende in die Entscheidungsfindung einbezogen.

Auch die Handelsplattform Etsy ist in den vergangenen Jahren riskante Kompromisse eingegangen. Gegründet wurde der Onlinemarktplatz für Gebrauchtes und Selbstgemachtes im Jahr 2005 von dem Kunsthandwerker Rob Kalin und drei seiner Mitstreiter. Ihr Ziel: eine Angebotsplattform für Herstellerinnen und Hersteller handgefertigter Waren, die es ihnen erlaubte, eigene kleine Unternehmen aufzuziehen. Im Jahr 2012 steckte sich Etsy unter seinem neuen CEO Chad Dickerson ein noch ehrgeizigeres Ziel: „den Handel neu zu erfinden, um eine erfülltere und nachhaltigere Welt zu ermöglichen“. Zudem strebte das Unternehmen an, als „B Corporation“ zertifiziert zu werden, das hohen ökologischen, sozialen und Transparenzstandards folgt. Als der Onlinemarktplatz 2015 an die Börse ging, generierte er jährlich zwei Milliarden US-Dollar Umsatz für seine knapp 1,4 Millionen Verkäuferinnen und Verkäufer und zog aufgrund seiner sozialen Ausrichtung und großzügiger Arbeitsplatzregelungen Toptalente an. Was Etsy jedoch nicht erzielte, war Gewinn. Seit 2012 machte das Unternehmen Verluste, neun Monate nach dem Börsengang verloren die Anlegerinnen und Anleger die Geduld: Der Aktienkurs fiel um 75 Prozent, Dickerson musste gehen, im Jahr 2017 übernahm ein neuer CEO das Ruder.

Josh Silverman, der Neue, musste nun einen Weg finden, wie Etsy zum Wohle aller Stakeholder operieren und immer auf beide Ziele einzahlen konnte: die wirtschaftlichen und die sozialen. Bei der Fehleranalyse stellten Silverman und sein Team fest, dass das Unternehmen das Wohlergehen seiner Beschäftigten und der Gesellschaft über das der Verkäufer und Aktionärinnen gestellt hatte – eine große Gefahr für die langfristige Geschäftstätigkeit.

In den darauffolgenden Monaten nahm Etsy weitreichende Veränderungen vor: Das Unternehmen entließ 160 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (zusätzlich zu den 80, die im Zuge von Silvermans Amtsantritt hatten gehen müssen), was knapp einem Viertel der Belegschaft entsprach. Lieblingsprojekte der Beschäftigten wurden eingestellt, die bestehende Nachhaltigkeitsgruppe wurde aufgelöst. Etsy verabschiedete sich vorerst von dem Ziel, eine „B Corporation“ zu werden (eine der strengsten Zertifizierungen für nachhaltig wirtschaftende Unternehmen). Dafür hagelte es Kritik. Ein verärgerter Mitarbeiter sprach in diesem Zusammenhang von „einem abschreckenden Kapitalismus-Beispiel“.

Silverman spielte jedoch auf lange Sicht und hatte dabei immer den eigenen Purpose und die Stakeholder im Blick. Nach einigen Jahren war Etsy wieder in der Lage, neue Mitarbeitende einzustellen. Auch seine sozialen Initiativen (die sich nach der Umstrukturierung auf drei Bereiche konzentrierten: den Menschen stärken, ökologische Verantwortung übernehmen und Diversität fördern) begannen, Früchte zu tragen (was sich auch an der Zahl an Updates und der Produktivität des Unternehmens zeigte).

Innerhalb von drei Jahren stiegen die Bruttoverkäufe von Etsy wieder stetig, seit 2017 ist Etsy wieder profitabel. Infolge der Pandemie stiegen die Absätze sogar. 2020 zählte der Onlinemarktplatz über vier Millionen Verkäuferinnen und Verkäufer, die zusammen mehr als 1,7 Milliarden US-Dollar Umsatz generierten. Die Plattform erzielte einen Nettogewinn von 349 Millionen Dollar. Heute beschäftigt Etsy 1400 Mitarbeitende, das sind einige Hundert mehr als vor der Entlassungswelle. Auch gesellschaftlich hat das Unternehmen Beeindruckendes erreicht: Etsy hat sechs Milliarden US-Dollar zur sogenannten Maker-Ökonomie beigetragen und als erste große E-Commerce-Plattform seine Transportemissionen vollständig kompensiert. Zudem hat Etsy die Zahl seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus unterrepräsentierten Gruppen verdoppelt und beschäftigt heute mehr Frauen als Männer – der Aktienkurs ist seither in die Höhe geschossen.

Jedes Problem ist lösbar, wenn man bereit ist, auch ungewöhnliche Kompromisse einzugehen.

Langfristig Shared Value schaffen. Praktischer Idealismus bedeutet, reale, wenn auch unvollständige Lösungen zu verfolgen und den Mut zu haben, zukunftsorientierte Entscheidungen zu treffen, die kurzfristig für manche Beteiligte unangenehm sein könnten. Das hat Etsy zweifelsohne getan. Von den Entscheidungen bei Livongo profitierten Anlegerinnen und Anleger nicht unmittelbar, und die Plastikverpackungen von Gotham Greens schaden der Umwelt.

Doch auch unvollkommene Entscheidungen müssen sorgsam abgewogen werden. Dabei sollten Sie langfristig beides im Blick haben: den sozialen und den wirtschaftlichen Erfolg. Schafft eine Geschäftsidee oder eine Handlungsoption primär sozialen Mehrwert, erkennen Sie an, dass Sie die Chance ergreifen müssen, auch wenn der wirtschaftliche Mehrwert noch nicht vollkommen absehbar ist. Prüfen Sie gleichzeitig aber intensiv weitere Optionen, und setzen Sie sich dafür eine Deadline. Schafft Ihr Vorhaben dagegen in erster Linie finanziellen Wert, sollten Sie alternative Wege prüfen, die auch sozialen Nutzen versprechen. Diese Option sollten Sie jedoch nur dann weiterverfolgen, wenn die Prognosen gut aussehen. Wenn nicht, brechen Sie ab.

Im etablierten Geschäft können Sie ­versuchen, Ihre bestehenden Produkte, Dienstleistungen und Initiativen mit einem höheren Ziel zu verbinden, etwa indem Sie betriebliche Abläufe nachhaltiger und sozial verantwortlicher gestalten oder indem Sie Ihre Produkte sicherer oder gesünder machen. Denkbar ist auch ein Portfolioansatz, bei dem Sie „schädlichere“ Anteile durch solche ausgleichen, die allen Stakeholdern zugutekommen. Auch können Sie Maßnahmen ergreifen und Investitionen tätigen, um Ihren Purpose so schnell wie möglich von der Fassade ins Zentrum zu rücken, um zu einem Deep-Purpose-Unternehmen zu werden.

Das japanische Unternehmen Recruit, zu dem Job- und Bewertungsportale wie Indeed und Glassdoor sowie Recruiting­unternehmen und Anbieter von HR-Techno­logien gehören, würde „unter keinen Umständen“ rein gewinnorientierte Projekte finanzieren, teilte mir Shogo Ikeuch mit, der frühere CHRO des Unternehmens. Denn das würde gegen eines der drei Grundprinzipien von Recruit verstoßen: „sozialen Mehrwert in den Mittelpunkt stellen“ (die anderen beiden lauten: „die Welt beeindrucken“ und „auf Leidenschaft setzen“). Andersherum würde das Unternehmen auch keine unrentablen Projekte verfolgen. „Wir streben immer nach einem Gleichgewicht zwischen sozialem und wirtschaftlichem Nutzen“, so Ikeuchi.

Seit vielen Jahren investiert Recruit in Study Sapuri, eine E-Learning-Plattform für japanische Schülerinnen und Schüler, die der Bildungsungerechtigkeit im Land etwas entgegensetzen will, in der Hoffnung, sie möge eines Tages Gewinne abwerfen. Dabei wartet das Unternehmen jedoch nicht einfach ab, dass sich die Investition auszahlt. Stattdessen diskutieren die Verantwortlichen regelmäßig und „intensiv über die Frage, wie man das Geschäft ankurbeln (…) und die Gewinne steigern kann“, so Ikeuchi.

Ein ähnliches Beispiel bietet die Ma­hindra Group. Dort beschlossen die Verantwortlichen des Geschäftsbereichs landwirtschaftliche Geräte, kleinen Betrieben die firmeneigene Farming-as-a-Service-Technologie (FaaS) kostenlos zur Verfügung zu stellen. Das wirkte sich zwar zunächst negativ auf den Gewinn aus, stellte aber eine schnelle und effiziente Möglichkeit dar, das größere Ziel des Unternehmens zu erreichen: „Das Leben unserer Stakeholder und der Kommunen vor Ort zu verbessern“ (intern wurde die Mission kurz „Rise“ genannt). Der direkte Zugang zu hochmodernen Technologien versetzte finanziell schwache Landwirte und -wirtinnen in die Lage, ihre Produktivität und damit ihre Einnahmen zu steigern. Mittelfristig profitierte auch die Mahindra Group: Durch die kostenlose FaaS-Technologie vergrößerte sie ihren Marktanteil und stärkte ihr Geschäft.

Offen kommunizieren. Wenn Sie ­Kompromisse eingehen, ist es wichtig, die Logik dahinter zu erklären, damit Ihre Stakeholder verstehen, wie Ihre Entscheidung auf den Purpose des Unternehmens einzahlt. Klarheit ist wichtig, um Vertrauen und Zusammenhalt zu schaffen. Klare Kommunikation macht es Stakeholdern einfacher, wenn nötig, Opfer zu bringen, und sie stärkt die beiderseitige Verpflichtung, sich langfristig für den Nutzen aller Beteiligten einzusetzen.

Deep-Purpose-Unternehmen machen transparent, warum sie welche ­Entscheidungen treffen.

Die Verantwortlichen bei Etsy legten 2017 große Klarheit an den Tag: Sie erklärten der Belegschaft und den Kundinnen und Kunden, dass sie das Unternehmen umstrukturieren müssten, damit es finanziell wieder auf die Beine kommen und sein Versprechen einhalten könne: den besten Onlinemarktplatz für Handgefertigtes zu schaffen. Silverman und andere Führungskräfte sprachen dabei auch offen über unvollkommene Entscheidungen. Auch Livongo, Recruit und Mahindra haben ihre Purpose-orientierten Entscheidungen nie vor Stakeholdern geheim gehalten (im Falle von Livongo waren dies Risikokapitalgeber, im Falle von Recruit und Mahindra Börsenanlegerinnen und -anleger). Im Gegenteil: Sie verdeutlichten bei jeder Entscheidung, warum sie diese trafen und wie sie langfristig zu besseren Renditen führen würde.

Das Familienunternehmen Bühler, das in der fünften Generation hochwertige Fräs-, Schleif-, Sortier- und Druckgussmaschinen produziert und sich außerdem auf Verfahrenstechnik und Dienstleistungen spezialisiert hat, bemüht sich laufend darum, seine hohen Nachhaltigkeitsstandards gegenüber Kunden und Privateigentümerinnen zu rechtfertigen. Einige unterstützen dies, andere sind skeptisch und befürchten, das Unternehmen könne seinen finanziellen Erfolg dem guten Zweck opfern. Manche kritisieren Bühlers Vertrieblerinnen und Führungskräfte als zu moralisch, sie fühlen sich darüber belehrt, wie sie ihr Unternehmen zu führen hätten. Der Mitarbeiter eines großen Kunden drückte es einmal so aus: „Niemand wird sagen, ,Toll, Bühler ist ein absolut nachhaltiges Unternehmen, also zahlen wir den höheren Preis‘“, obwohl ein vergleichbarer Anbieter günstiger ist.

Daher müsse das Unternehmen bei der Anbahnung neuer Geschäfte behutsam vorgehen, erklärt mir Dipak Mane, ein früherer Personalchef des Unternehmens. Zu Beginn einer Ausschreibung konzen­trieren sich die Vertrieblerinnen und Vertriebler auf „harte Fakten“ wie Qualität, Langlebigkeit und Preis. Wird der Abschluss wahrscheinlicher, rücken sie den Purpose stärker in den Mittelpunkt, um sich von Wettbewerbern abzuheben, die ähnliche Produkte und Services anbieten. Die Möglichkeit, einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten, hilft Bühlers Kunden, die Zusammenarbeit zu rechtfertigen. Bühler-CEO Stefan Scheiber bringt es folgendermaßen auf den Punkt: „Was ist der Nutzen? Wenn Sie diese Frage nicht beantworten können, ergibt es keinen Sinn.“

Um ihren finanziellen Erfolg zu steigern und die Stakeholder zu inspirieren, müssen sich Unternehmen von dem Gedanken verabschieden, Win-win-Lösungen seien die einzige Option. Natürlich sollten Sie Entscheidungen, die höchstwahrscheinlich zu unterdurchschnittlichen ­Ergebnissen führen (entspricht dem Quadranten „Weder noch“ in der Grafik „Gewinn und Gemeinwohl gegeneinander abwägen“), tunlichst vermeiden. Kurz: Sie sollten sich nicht allein auf die Förderung des Gemeinwohls oder die Gewinnerzielung konzentrieren, sondern immer beide Ziele im Blick haben. Dabei hilft die Erkenntnis, dass Sie es nicht immer allen Beteiligten recht machen können und dass es manchmal richtig ist, kurzfristig Opfer zu bringen, um langfristig Mehrwert für alle Beteiligten zu schaffen.

Am Ende zählen die Klarheit Ihrer Absichten und die Entschlossenheit, mit der Sie Ihre Ziele verfolgen und realisieren. Ihre Stakeholder wissen, dass Sie nicht alle Interessen gleichermaßen berücksichtigen können. Sie unterstützen Ihr Unternehmen und deren Purpose jedoch eher, wenn sie merken, dass Sie sich ­bemühen und Ihre Optionen sorgfältig gegeneinander abwägen.

Durch praktischen Idealismus – und dadurch, dass sie umgekehrt ihre wirtschaftlichen Ziele idealistischer auslegen – generieren Deep-Purpose-Unternehmen am Ende mehr gemeinschaftlichen Wert. Sie zeigen uns allen, was möglich ist, wenn wir uns nicht nur auf das schnelle Erreichen unserer Ideale versteifen, sondern stattdessen versuchen, sie auf wohlüberlegte, praktische und nachhaltige Weise zu verwirklichen. © HBP 2023

Autor

Ranjay Gulatiist Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Harvard Business School in Boston sowie Autor des Buches „Deep Purpose: The Heart and Soul of High-Performance Companies“ (Harper Business 2022).

Kompakt

Das Problem Oft stehen wertorientierte Unternehmen vor einem Dilemma: Sie wollen in Sachen ökologische und soziale Nachhaltigkeit einen positiven Beitrag leisten, müssen aber zuweilen gegen die eigenen Ideale verstoßen, zum Beispiel, um in Krisen wettbewerbsfähig zu bleiben. Was tun? Die eigenen Wertvorstellungen opfern – oder daran festhalten, auf die Gefahr hin unterzugehen?

Die Lösung Der Autor schlägt einen dritten Weg vor, den er „praktischen Idealismus„ nennt. Er beschreibt in dem Artikel, wie es Entscheiderinnen und Entscheidern gelingt, mit Purpose-Maßnahmen flexibel umzugehen und gleichzeitig die Wertorientierung beizubehalten. Dabei kommt es darauf an, das übergeordnete Ziel stets im Blick zu behalten und seine Strategie den Stakeholdern gegenüber klar zu kommunizieren.

Dieser Beitrag erschien erstmals in der Juli-Ausgabe 2023 des Harvard Business managers.

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