Sind die Deutschen viel fleißiger als gedacht?
Nur in zwei EU-Ländern arbeiten die Menschen weniger pro Woche. Aber Moment mal: Dafür dauert ein Arbeitsleben hier länger. Wie faul sind wir denn nun?
Viele Deutsche meinen: „Die Deutschen leisten zu wenig!“ Und meinen dabei vor allem die anderen. Kaum ein Thema wühlt die Menschen im Land mehr auf. Jene Menschen, die einst als besonders emsige Arbeiter galten. Wer sich mit politischen Forderungen nach mehr Arbeit hervortut, kann sich schon mal eine Reaktion auf den Shitstorm ausdenken.
„Wir alle müssen aufpassen, dass wir vor lauter Work-Life-Balance nicht die Arbeit aus dem Blick verlieren“, ist Kanzleramtsminister Thorsten Frei überzeugt. Und sein Chef, Bundeskanzler Friedrich Merz, meint, es müsse „wieder mehr und vor allem effizienter“ gearbeitet werden. Für das Wohl des Wirtschaftsstandorts.
Wer einzig auf die Statistiken zur wöchentlichen Arbeitszeit blickt, könnte schnell meinen: „Recht haben sie, die Politiker!“
Fakt ist nämlich: Erwerbstätige ab 15 Jahren haben 2024 in Deutschland durchschnittlich 34,3 Wochenstunden Lohnarbeit verrichtet – in der EU wird dieser Wert nur noch von Dänen und Niederländern unterboten. Besonders viel arbeiten demnach die Menschen in Griechenland und Rumänien, in Bulgarien und Polen. Die großen Unterschiede liegen ganz wesentlich an der hohen Teilzeitquote in Ländern wie Dänemark, den Niederlanden und auch Deutschland. Hierzulande haben im vergangenen Jahr 29 Prozent der Erwerbstätigen in Teilzeit gearbeitet.
Die Vollzeitarbeiter in Deutschland kommen mit durchschnittlich 40,2 Stunden nur auf minimal weniger Arbeitszeit als die Menschen im EU-weiten Schnitt.
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Ein WirtschaftsWoche-Leser weist nun darauf hin, dass diese Betrachtung die Lebensarbeitszeit außer Acht lässt. Und tatsächlich stellt sich die Frage: Sind die Deutschen viel fleißiger als gedacht? Weil sie ihren Jobs mehr Jahre widmen als die Menschen in anderen Ländern?
Die Statistikbehörde Eurostat schätzt, dass ein heute 15-Jähriger in Deutschland 40 Jahre arbeiten wird – beinahe drei Jahre länger als im EU-Schnitt. Nur in fünf anderen EU-Ländern ist das Arbeitsleben länger. Die Niederlande führen die Liste mit 43,8 Jahren an, Dänemark liegt auf dem dritten Rang. Schnell entsteht der Eindruck: Je weniger die Menschen pro Woche arbeiten, desto länger ist ihr Arbeitsleben.
In Rumänien, wo die Erwerbstätigen 40 Stunden pro Woche arbeiten, dauert ein Arbeitsleben im Schnitt nur 32,7 Jahre. Das kurze Arbeitsleben relativiert gewissermaßen die hohe wöchentliche Arbeitszeit.
Trotzdem taugt auch die Lebensarbeitszeit nicht, um die Deutschen als besonders fleißig darzustellen. Wissenschaftler des Roman Herzog Instituts, eines Thinktanks, der von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft und den Metallarbeitgeberverbänden in Bayern finanziert wird, haben vor zwei Jahren mit Daten aus verschiedenen Quellen die lebenslangen Arbeitsstunden geschätzt. Also eine Kombination aus der Dauer des Arbeitslebens und den geleisteten Stunden.
Nach der Schätzung arbeiten Erwerbstätige in Deutschland im Schnitt 52.662 Stunden in ihrem Leben. Nur in Luxemburg waren es weniger. „Kürzere Arbeitszeiten“, so schreiben die Forscher, „lassen sich in bestimmten Ländern durch höhere Produktivität oder stärkere Präferenzen für Freizeit erklären.“ In Estland arbeiten die Menschen mit 71.331 Stunden am meisten. Der EU-Schnitt liegt bei 57.342 Stunden.
Der Vergleich der Lebensarbeitszeit verdeutliche, so die Forscher, in welchen Ländern noch Potenziale für die Ausweitung des Arbeitsvolumens bestehen, um dem demografischen Wandel zu begegnen. „Danach hat Deutschland noch erhebliche Potenziale, das Arbeitsvolumen auszuweiten.“ Gut möglich, dass Bundeskanzler Friedrich Merz diese Analyse teilt.
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