Sind unsere Kinder zu unselbstständig?
Die Kindergeneration von heute wächst wesentlich behüteter auf als vorherige Generationen. Der „Kinderreport Deutschland 2020. Rechte von Kindern in Deutschland: Die Bedeutung des Draußenspielens für Kinder“ vom Deutsches Kinderhilfswerk belegt, dass sich Kinder beispielsweise nur noch rund 500 Meter allein von ihrem Zuhause wegbewegen – in den Sechzigerjahren waren es noch zwei Kilometer. Immer häufiger werden Kinder mit dem Auto zur Schule gefahren, anstatt allein zu laufen. Auch der Anteil der Kinder, die im Haushalt mithelfen, schrumpft stetig. Helikoptereltern, die ständig über dem Dasein ihrer Kinder wachen und kreisen, sind immer in Sorge, dass ihren Kindern etwas zustoßen könnte. Sie strukturieren ihren Tagesablauf, wissen jederzeit, wo sie sich gerade aufhalten, und fühlen sich auch in späteren Jahren als enger Begleiter ihrer Kinder. So übernehmen sie häufig sogar federführend die Berufs- und Studienwahl.
Dabei ist es für Kinder wichtig, im Altersverlauf Schritt für Schritt Selbstständigkeit und Selbstvertrauen zu erlernen und Gefahren einzuschätzen. Und das tun sie vor allem in Situationen, in denen sie auf sich gestellt sind. Wenn Kinder von ihren Eltern immer an die Hand genommen werden, tun sich später sehr schwer, selbst den großen Schritt zu machen – beispielsweise selbst mit dem Fahrrad auf der Straße zu fahren. Keinem Kind ist geholfen, wenn es so lange wie möglich von allen Gefahren ferngehalten wird. Risikokompetenz erwerben Kinder nur, indem sie auch eigene Erfahrungen machen.
Eltern sollten lediglich darauf vertrauen, dass Kinder Gefahren einschätzen können und aus diesen wichtigen Erfahrungen lernen (Schutz vor unkalkulierbaren Risiken). Mit zunehmendem Alter und steigender Selbstständigkeit brauchen Kinder jedoch den nötigen Freiraum. Der Unternehmer und Personalexperte Werner Neumüller plädiert ebenfalls dafür, „dass Kinder rechtzeitig lernen müssen, mit Veränderungen und Niederlagen umzugehen und sich den Herausforderungen zu stellen: in der Schule, in Sportvereinen, auf Turnieren und im Leben. Wenn im Sportverein ein Spiel verloren ist, gilt die Devise: Weiter geht es! Nächstes Spiel, neue Chance! Da wird nicht resigniert, verzweifelt oder endgültig aufgegeben, sondern trainiert, gekämpft und ausprobiert. Kinder sollten nicht unter übertriebenen Schutzschirmen der Eltern aufwachsen. Wir sollten ihnen mehr zutrauen, sie fordern, fördern und belohnen.“ Zudem verweist er darauf, dass aufgrund mangelnder Lebenserfahrung immer mehr junge Menschen in Personal- und Einstellungsgesprächen an der persönlichen Eignung scheitert. Deshalb sei es wichtig, „Eigenverantwortung und eine gewisse Grundhärte zu entwickeln, um auch in der Lage zu sein, Konflikte durchzustehen und Herausforderungen zu meistern.“
Als sie mit ihrer Tochter Rosy eine schwierige Zeit durchlebte, die von Wutanfällen und Machtkämpfen geprägt war, beschloss sie, etwas zu ändern. Zusammen mit ihrer Tochter verbrachte sie einige Monate bei den Mayas, den Hadzas und den Inuits, um herauszufinden, wie die Kindererziehung dort aussieht und was wir von indigenen Völkern lernen können. Über ihre Erlebnisse schrieb sie anschließend einen Ratgeber, in dem sie zeigt, wie auch Kinder natürlich, gelassen und stressfrei begleitet werden können und wie aus kleinen Menschen selbstbewusste und selbstbestimmte große werden. „Kindern mehr zutrauen“ wurde in den USA zum Bestseller und erscheint im September in deutscher Übersetzung.
Generation Helikoptereltern: Darauf müssen sich Unternehmen einstellen
Michaeleen Doucleff: Kindern mehr zutrauen. Übersetzung von Ulrike Kretschmer. Kösel Verlag, München 2021.
Esther Wojcicki: Panda Mama. Ullstein Verlag, Berlin 2019.
Werner Neumüller: Warum Unternehmen einen Kompetenzmix aller Generationen brauchen. In: Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. SpringerGabler Verlag, Berlin, Heidelberg 2020.