Spezialisten im Denken: Wie sie uns helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen
Was geht in unserem Inneren vor, wenn wir Situationen beurteilen, die Vor- und Nachteile verschiedener Handlungsoptionen abwägen, auf der Basis mehr oder minder sicherer Informationen vor die Wahl gestellt sind? Weshalb ist die Sehnsucht nach Experten, die scheinbar, aber nicht wirklich Sicherheit bieten, tief in der menschlichen Psyche verwurzelt? Wie erzeugt das Gehirn Sinn? Wie fügt es die von den Sinnesorganen aufgenommenen Bruchstücke zu einem stimmigen Bild der Realität zusammen? Lange galt das Paradigma vom Menschen als Nutzenmaximierer, der Entscheidungen stets auf der Grundlage streng rationaler Kriterien trifft. Vor einigen Jahren kamen allerdings immer mehr Zweifel an dieser Theorie auf.
In seinem Buch „Aus der Welt. Grenzen der Entscheidung oder Eine Freundschaft, die unser Denken verändert hat“ (der Originaltitel: „The Undoing Project: A Friendship that Changed Our Minds“ erschien 2016) stellt der amerikanische Autor Michael Lewis die enge und produktive Zusammenarbeit der Psychologen und Begründer der Verhaltensökonomie Daniel Kahneman und Amos Tversky in den Mittelpunkt: Kahneman, introvertiert und sanft wie seine Sprache, mit suchendem Selbstzweifel als Quelle seiner Ideen, und Tversky, brillant, rübelhaft, selbstbewusst, gern gesehener Partygast. Beide haben bisherige Annahmen über Entscheidungsprozesse auf den Kopf gestellt und nachgewiesen, dass Menschen systematische Fehler machen, wenn sie in unsicheren Situationen Entscheidungen treffen müssen. Jahrelang ergründeten sie in intensivem Austausch die Grenzen menschlicher Intuition. Beide sind nicht zuletzt für den mächtigen Trend verantwortlich, dem Instinkt zu misstrauen und auf Algorithmen zu setzen.
In einem gemeinsamen Artikel in „Science“ wiesen die beiden darauf hin, dass Statistikkenntnisse zwar nützlich zur Fehlervermeidung seien, dass aber selbst die klügsten Menschen nicht gegen Fehler gefeit seien: „Bei komplexeren und weniger leicht durchschaubaren Problemen krankt ihr intuitives Urteil an denselben Schwächen.“ In Michael Lewis‘ Buch finden sich viele weitere Beispiele aus den Bereichen Sport, Wirtschaft, Medizin und dem Wissenschaftsbetrieb. Dabei sei auch auf das Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ (Originaltitel: Thinking, Fast and Slow) von Daniel Kahneman verwiesen, das seine häufig gemeinsam mit Amos Tversky durchgeführten Forschungen zusammenfasst. Nach seinen Einschätzungen werden 95 Prozent aller Entscheidungen überwiegend vom intuitiven System gefällt und laufen somit unbewusst ab. Je komplexer die Entscheidungen, desto mehr setzen wir auf unser Bauchgefühl. Unterschieden wird zwischen dem schnellen, instinktiven und emotionalen Denken und dem langsameren Durchdenken.
Aus Sicht des Führungskräftetrainers Rolf Mohr „unterstützt nicht das eine das andere, sondern ist beides eins.“ Alle Entscheidungen hat er aus dem Bauch heraus getroffen, aber immer flankiert bzw. begleitet vom „langsamen Denken“: „Ich schalte den Kopf nicht ab, wenn ich dem Bauch lausche und vice versa. Ich höre prinzipiell in Kopf und Bauch hinein. Und wenn der Bauch euphorisch ist, zugleich der Kopf nicht ein Signal der Vorsicht hören lässt, dann kann ich schwelgen.“ Bauchgefühl („schnelles Denken“) ist für ihn „das nahezu blitzartige, synthetische Erfassen von Komplexität, wie etwa im Zwischenmenschlichen: Vertrauen, Sympathie und Liebe. Lebenslang optimiert sich die Begabung, Komplexität synthetisch angemessen zu erfassen durch die parallele differenzierende und analytische Begleitung durch den Kopf.“ Jeder Mensch arbeitet mit beiden Systemen „interagierend und lebenslang diese Systeme in ihrer Zusammenwirkung entwickelnd - allerdings entwickeln einige schneller, andere langsamer, einige besser, andere schlechter.“ Die rein begriffliche Verstiegenheit, ausschließlich „rational“ zu agieren, zeugt für ihn nur von Irrationalität, von der mangelnden Einsicht in eigene Vorgehens-Algorithmen. „Bei Anlass zu Argwohn oder der Spur einer 'reservatio mentalis' kriegt der Kopf die erste Priorität (zur Klärung im Nebel); bei ungeteiltem Wohlgefallen: Priorität Bauch und Schwelgen.“
2002 erhielt Kahneman für die „Prospect Theory“, die er gemeinsam mit dem leider bereits einige Jahre zuvor verstorbenen Tversky entwickelte, den Wirtschaftsnobelpreis. Schon immer hatte er sich immer für einen frühreifen Bücherwurm gehalten. Zu seinem Körper fehlte ihm der Bezug: Im Sportunterricht nannten ihn seine Mitschüler „die lebende Leiche“. Aber sein Gehirn war beweglicher als das der anderen, und er ging schon als junger Mann davon aus, dass er später ein Intellektueller sein würde. In seinen Arbeiten untersuchte er unter anderem, welchen Einfluss unsere Erinnerung auf unsere Entscheidungen hat. Er ging davon aus, dass die Vergangenheit kaum einen Einfluss darauf gehabt habe, „wie er die Welt oder wie die Welt ihn sah“. So erzählte er Menschen, denen er Vertrauen schenkte, nichts von seinen Erfahrungen während des Holocaust. Erst nachdem er den Nobelpreis erhielt und Journalisten ihn baten, Einzelheiten aus seiner Biografie preiszugeben, erfuhren seine Freunde davon aus der Zeitung.
Michael Lewis ist Wirtschaftsjournalist und Autor zahlreicher erfolgreicher Sachbücher. Er lebt Berkeley (Kalifornien) und hat Abschlüsse von der Princeton University und der London School of Economics. Die Erfahrungen seiner Zeit als Investmentbanker verarbeitete er 1989 in seinem ersten Buch „Liar’s Poker“. 2003 erschien „Moneyball“, ein Buch über ein Baseballteam, das seine Spieler nach mathematischen Regeln beurteilt. Es wurde ebenfalls ein Bestseller und 2011 mit Brad Pitt in der Hauptrolle verfilmt. Es folgten u. a. „The Big Short“ und „Flash Boys“. Mit seinem Buch „Aus der Welt. Grenzen der Entscheidung oder Eine Freundschaft, die unser Denken verändert hat“ legte er ein Kompendium des Denkens vor, das uns einlädt, darüber mehr nachzudenken. Am Beispiel von Daniel Kahnemann wird nachgewiesen, dass das Denken eines Erwachsenen oft allzu leicht der Selbsttäuschung erliegt - anders das Denken von Kindern. Eines Tages hat Amos einfach gesagt: „Mit der Urteilsfindung sind wir fertig. Beschäftigen wir uns jetzt einmal mit der Entscheidungsfindung.“ Das ist im Komplexitätszeitalter besonders wichtig, denn es müssen heute richtige Entscheidungen in möglichst kurzer Zeit getroffen werden. Dazu braucht es Bewusstheit und klares Denken.
Die Schauspielerin Valerie Niehaus schrieb im Vorwort zur 1. Auflage des Buches „CSR und Digitalisierung“, dass ihr Denken ihr ermöglicht, sich immer wieder zu positionieren und sich ihrer Entscheidungen zu versichern. „Ich nehme hier Verantwortung wahr, indem ich Haltungen als Angelpunkte festlege. Dabei dürfen die Schrauben nicht zu fest gezogen werden, denn das Werden und Vergehen der Welt muss sich in unserem beweglichen Geist widerspiegeln.“ Die krisenbewegte Welt erscheint ihr weniger bedrohlich, seit sie ihrem Denken mit „Klarheit und Wert“ begegnet. In der ZDF-Serie „Die Spezialisten“, die sich der Arbeit der interdisziplinären Ermittlungskommission IEK widmete, spielte sie eine Rechtsmedizinerin, die mit ihrem Team an der Aufklärung ungelöster Mordfälle aus der Vergangenheit arbeitet. Es ging darum, die Wahrheit ans Licht zu bringen, Schuldige zu finden und den Hinterbliebenen Antworten zu geben, damit sie mit ihrer Vergangenheit abschließen können.
Die „Spezialisten“ der Serie waren auch Spezialisten des Denkens, weil sie beobachteten, benannten und erkannten. Alles scheint miteinander verbunden zu sein – bis zum Buch von Michael Lewis und Beitrag von Valerie Niehaus, in dem sie beschreibt, wie sie Unordnungen, Hindernissen, Unsicherheiten folgt und Täuschungen, Ängsten und Urteilen nachspürt: „Ich begleite wissenschaftliche Errungenschaften und erfreue mich am Erstaunlichen. Ich stelle zur Debatte, halte für möglich und addiere mein Bewusstsein über meine Filter.“ Was in der Wissenschaft häufig abstrakt anmutet, wird plötzlich lebendig, wenn eine Schauspielerin wie sie über das Denken schreibt: „In meinem Denken kann ich meine Festplatte bestücken – selbstverantwortlich, individuell das verankern, was ich brauche, um in meinem Leben zu bestehen und der Gesellschaft ein sinnhafter Beitrag zu sein.“
Vom Konflikt zur Kooperation: Interview mit dem Führungskräftetrainer Rolf Mohr
Daniel Kahneman: Schnelles Denken, Langsames Denken. Aus dem amerikanischen Englisch von Thorsten Schmidt. Siedler Verlag, München 2012.
Michael Lewis: Aus der Welt. Grenzen der Entscheidung oder Eine Freundschaft, die unser Denken verändert hat. Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2017.
Rolf Mohr: Die Kunst des Miteinanders – Verführung zu friedfertig konstruktiver Zwischenmenschlichkeit. Mit Illustrationen von Lutz Backes.Springer-Verlag, Wiesbaden, 2021.
CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler, Berlin Heidelberg 2021.
Bauchgefühl im Management. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler, Berlin Heidelberg 2021 (erscheint im Oktober).