Städte und Kommunen als Orte der Bewältigung gegenwärtiger multipler Krisen
Städte und Kommunen sind nicht nur Begegnungsräume, sondern auch ein Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen. Interdisziplinäre Stadtforschung ist deshalb heute wichtiger denn je.
Zu den derzeitigen Herausforderungen gehören ökologische Krisen, ökonomische Verschiebungen, Wohnraumknappheit, Mietsteigerungen in boomenden Großstädten sowie gesellschaftliche Dynamiken angesichts der Flüchtlingskrise (Willkommens- und Ablehnungskultur). Interdisziplinäre Stadtforschung als heterogenes Forschungsfeld versammelt unterschiedliche Perspektiven auf Stadt und Raum. Zu den Treiber des Themas gehören unter anderem die urbane Nachhaltigkeitstransformation und die Folgen des Klimawandels, die Mobilitäts- und Energiewende, Innovationsschübe, der wirtschaftliche, soziale und politische Wandel, globale Urbanisierungsprozesse sowie starker Veränderungsdruck in den meisten Stadtregionen bezüglich Siedlung, Freiraum und Infrastruktur.
Die Beiträge des Buches „Interdisziplinäre Stadtforschung. Themen und Perspektiven“ bieten einen Überblick zu unterschiedlichen disziplinären Perspektiven auf Stadt und Raum und zeigen, wie interdisziplinäre Stadtforschung verhandelt werden kann. Herausgeber sind Raphaela Kogler Alexander Hamedinger: Kogler ist Soziologin und Bildungswissenschaftlerin am Institut für Soziologie der Universität Wien und am Forschungsbereich Soziologie der Technischen Universität Wien. Gemeinsam mit Alexander Hamedinger, Dozent am Forschungsbereich Soziologie des Instituts für Raumplanung an der Technischen Universität Wien, leitet sie die Sektion Stadtforschung der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie.
Der Band widmet sich u.a. folgenden Fragen:
Was macht städtisches Alltagsleben aus? Mit welchen Alltagspraktiken im Quartier gelingt es, Mensch-Umwelt-Beziehungen als Gegenstand der Geographie in urbanen Kontexten zu adressieren?
Was macht eine nachhaltige stadtregionale Entwicklung aus?
Wie können Freiräume als „Grüne Infrastruktur der Stadtregionen“ geschützt und entwickelt und wie nachhaltige Einzelhandelsstruktureng geschaffen werden?
Wie transformieren die jeweiligen Vorstellungen eines guten Lebens den städtischen Raum?
Wie kann der öffentliche Gestaltungsanspruch deutlich gemacht werden?
Welche zukunftsweisenden Formen stadtregionaler Kooperation gibt es?
Welche Bedeutung hat die Raumplanung für die Gestaltung nachhaltiger Stadtregionen? Was macht eine gute Raumplanung aus?
Wodurch zeichnen sich nachhaltige Siedlungsstrukturen aus?
Welche Bedeutung haben Raum und Stadt für die Soziale Arbeit aus disziplinärer Perspektive, und welche Konsequenzen ergeben sich aus dem Spatial Turn für die Soziale Arbeit?
Wie kann das reibungslose Funktionieren der Stadtregionen gesichert werden?
Wie erleben Menschen ihr städtisches Umfeld und gestalten es?
Was ist Urbanität?
Was sind Zielkonflikte zwischen Stadtplanung und Quartiersalltag?
Im Fokus stehen aber auch die wichtigsten Handlungsfelder der Nachhaltigkeit für die Stadt- und Raumplanung. Dazu gehören:
Daseinsvorsorge und das Ziel der gleichwertigen Lebensverhältnisse
Erarbeitung einer Entwicklungsstrategie für eine Stadtregion
nachhaltiges Flächenmanagement zur Reduzierung der Neuinanspruchnahme von Siedlungs- und Verkehrsflächen
inklusive und zugängliche Grünflächen
nachhaltige bauliche und infrastrukturelle Gestaltung von Städten und Stadtquartieren
partizipatorische, integrierte und nachhaltige Siedlungsplanung
inklusivere und nachhaltigere Gestaltung der Verstädterung
nachhaltige Verkehrssysteme
gerechtere Wohnraumversorgung.
Die im Jahr 2015 auf dem Weltgipfel der Vereinigten Nationen verabschiedeten 17 Sustainable Development Goals (SDGs) geben in SDG 11 unter anderem ebenfalls das Ziel vor, Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig zu gestalten.
Die hier genannte regionale Entwicklungsplanung ist eine umfassende und interdisziplinäre Aufgabe. Deshalb braucht es eine holistischere Betrachtungsweise. "Wenn wir etwas verändern wollen, nach Lösungsansätzen für unsere Probleme suchen und Krisen stabilisieren wollen, reicht es nicht aus, nur in der jeweiligen Branche mit den herkömmlichen Methoden nach Strategien zu suchen. Oftmals führen diese dazu, dass die Probleme nur weiter verwaltet und nicht wirklich gelöst werden. Wenn wir nachhaltige Lösungen suchen und uns weiterentwickeln möchten, müssen wir Kompetenzen vernetzen und Herausforderungen ganzheitlich denken", sagt Christine Bergmair, die viele Ansätze des Buches im Sinne von SDG 11 in ihrer Arbeit vereint: Als Gründerin des Gesundhaus i-Tüpferl in Steindorf setzt sie sich für die Umsetzung sozialer Nachhaltigkeit und Teilhabe vor Ort ein. Dazu gehört auch seniorengerechtes Quartiersmanagement und die Gestaltung lokaler Inklusionsarbeit. Im Jahr 2006 wurde die UN-Behindertenrechtskonvention verabschiedet und 2008 von der deutschen Bundesregierung übernommen: Die Verantwortung für die Inklusion sollte künftig nicht mehr bei den Menschen mit Behinderungen liegen, „die sich so anpassen müssen, dass sie zum Beispiel in der Schule oder Arbeitswelt integriert werden können, sondern die Schule bzw. Arbeitswelt muss so gestaltet sein, dass Menschen unabhängig von ihren körperlichen, geistigen, sinnlichen oder psychischen Voraussetzungen daran teilhaben können“. Der Herausgeberband zeigt, inwieweit dieser Wandel in unserer Gesellschaft angekommen ist bzw. was es noch braucht, um eine inklusive Gesellschaft zu werden.
Zu einer holistischen Betrachtung des Themas trägt auch die Stadtsoziologie bei: Sie ist ein heterogenes und dynamisches akademisches Feld, in dem neben der Anwendung soziologischer Konzepte auf die Analyse von Städten und städtischen Phänomenen immer wieder auch Perspektiven anderer Disziplinen Berücksichtigung finden. Im Herausgeberband von Raphaela Kogler und Alexander Hamedinge wird in diesem Kontext auch auf die Werke von Richard Sennett verwiesen, die seit Jahrzehnten "als wichtige Referenzpunkte in der Stadtsoziologie" gelten. In seinem Entwurf zu einer "Ethik für die Stadt" entwickelt er ein dialektisches Stadtkonzept, in dem die Begriffe "ville« und "cité" eine wichtige Rolle spielen. Er richtet seinen Fokus auch auf Technologien (Smart City) und erkennt hier zwei Varianten der Verbindung zwischen cité und ville: "die vorschreibende smarte Stadt ist geschlossen, die koordinierende ist offen": "Die geschlossene smarte Stadt verdummt uns, die offene macht uns klüger". Auch sei "die vorschreibende smarte Stadt ... zutiefst autoritär, die koordinierende dagegen demokratisch". Sennett plädiert für kooperative und koproduktive Verfahren in der Stadtplanung und umgestaltende als konservierende Ansätze der Stadterneuerung. Seine Ausführungen sind ebenfalls interdisziplinär angelegt, denn die Herausforderungen von heute können nur mit einem breiten Horizont bewältigt bzw. aus dem Zusammenspiel der Disziplinen gelöst werden. Das erfordert neue Methoden und Denkstile sowie neue Formen fachübergreifender Zusammenarbeit.
Das Buch:
Raphaela Kogler / Alexander Hamedinger (Hg.): Interdisziplinäre Stadtforschung. Themen und Perspektiven. Bielefeld 2024.
Weiterführende Informationen:
„Wir sind die Transformation“: Zur Gestaltung von Gegenwart und Zukunft
Keine Frage des Alters: Soziale Nachhaltigkeit und SDG 11 vor Ort richtig umsetzen
Alexandra Hildebrandt und Christine Bergmair: Klimaschutz und Soziale Orte im Kommunalen + Christine Bergmair: Zukunftssicheres Umsetzen von Entwicklung und Gesundheit im Kontext von SDG 11 am Beispielprojekt i-Tüpferl. Beide Beiträge in: Zukunft Stadt: Die globale und lokale Bedeutung von SDG 11. Wie die sozialökologische Transformation in Wirtschaft und Gesellschaft gelingen kann. Handlungsempfehlungen – Chancen – Entwicklungen. Hg. von Alexandra Hildebrandt, Matthias Krieger und Peter Bachmann. SpringerGabler. Berlin, Heidelberg 2025.
Richard Sennett: Die offene Stadt – eine Ethik des Bauens und Bewohnens: Hanser Verlag, München 2018.
Andree Weißert: Ich bin die STADT das KLIMA und die TRANSFORMATION. Durch Selbstwirksamkeit und Verbundenheit zur regenerativen Stadt. Oekom Verlag, München 2023.