Steuern und Abgaben: Deutschland ist Vize-Weltmeister
Nur in einem Industrieland müssen Erwerbstätige mehr von ihrem Einkommen abgeben als in Deutschland, zeigt ein OECD-Ranking. Doch die Studie lässt einen wichtigen Faktor außer Acht.
Berlin. Deutschland ist bei der Belastung von Arbeitseinkommen durch Steuern und Sozialabgaben Vizeweltmeister. Nur in Belgien muss ein Durchschnittsverdiener noch höhere Steuern und Abgaben zahlen als hierzulande. Dies geht aus einer Studie der Industrieländerorganisation OECD hervor, die jährlich die Steuer- und Abgabenlast unter ihren Mitgliedstaaten vergleicht.
Ein Single mit Durchschnittsverdienst musste demnach im Vorjahr 48,1 Prozent seines Gehalts in Form von Steuern und Sozialbeiträgen an den Fiskus abführen. Das ist die zweithöchste Belastung unter allen Ländern. Zum Vergleich: Der OECD-Schnitt lag bei 34,6 Prozent.
„Deutschland ist für Arbeitnehmer wie für Selbstständige in der Tat ein Hochsteuerland“, sagt Stefan Bach, Steuerexperte am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Allerdings zeige die Studie nicht das ganze Bild, so Bach: „Für Vermögende ist Deutschland nach wie vor ein Niedrigsteuerland, insbesondere weil Riesen-Erbschaften nahezu steuerfrei sind.“
Tatsächlich führt die OECD-Studie jedes Jahr zu Kontroversen zwischen Politikern und Ökonomen. Konservative sehen die OECD-Zahlen als Beleg dafür, dass Beschäftigte fast nirgendwo auf der Welt so vom Fiskus „gemolken“ werden wie in Deutschland.
Linke hingegen warnen davor, die Zahlen zu überinterpretieren, da sie schwer miteinander vergleichbar seien. Die Steuer- und Abgabenlast in Deutschland insgesamt sei keineswegs so hoch, wie es die OECD-Studie isoliert behaupten würde. Wer also hat recht?
Jetzt Handelsblatt Premium zum Vorteilspreis sichern - Zum Angebot
Steuern in Deutschland: Der Staat fördert Einverdiener-Familien
Zunächst einmal sprechen die OECD-Zahlen für sich eine klare Sprache. So werden nicht nur Singles in Deutschland stark belastet, auch bei Familien mit zwei Kindern greift der Staat ordentlich zu – zumindest, wenn beide Ehepartner arbeiten.
40,9 Prozent muss eine solche Familie von ihrem Einkommen in Form von Steuern und Abgaben an den Fiskus abtreten, auch hier ist nur für belgische Familien die Belastung höher. Einzig Einverdiener-Familien kommen hierzulande vergleichsweise glimpflich davon. Für sie betrug die Steuer- und Abgabenlast im Vorjahr 32,7 Prozent, was lediglich der zehnthöchste Wert im OECD-Vergleich war.
Dass die Belastung für Einverdiener-Haushalte nicht höher ausfällt, liegt an einer deutschen Besonderheit: dem Ehegattensplitting. Das bietet Familien, in denen der eine Ehepartner viel und der andere wenig oder gar nichts verdient, steuerliche Vorteile.
Seit vielen Jahren ist das Splitting ein Streitthema. SPD und Grüne würden den Steuervorteil für Einverdiener-Familien am liebsten abschaffen, weil dies aus ihrer Sicht Frauen vom Arbeitsleben fernhält und somit bestehende Rollenbilder zementiert. FDP und Union wollen dagegen das Splitting beibehalten, weil es die Eigenverantwortlichkeit von Familien schütze und eine Abschaffung eine reine Steuererhöhung wäre.
EU kritisiert: Das deutsche Steuersystem wirkt leistungsfeindlich
Insgesamt ist die Steuer- und Abgabenlast 2021 in Deutschland durch die Abschaffung des Solidaritätszuschlags für 90 Prozent der Steuerzahler zu Beginn des vorigen Jahres spürbar gesunken. Dies wird international durchaus anerkannt, etwa von der EU-Kommission in ihren am Montag veröffentlichen jährlichen „länderspezifischen Empfehlungen“, in denen Brüssel die Wirtschaftspolitik Deutschlands genauer unter die Lupe nahm.
Doch das grundsätzliche Problem bleibt laut EU-Kommission bestehen: Gering- und Durchschnittsverdiener werden in Deutschland zu stark belastet. Das deutsche Steuersystem wirke leistungsfeindlich, da es sich für Geringverdiener oft gar nicht lohne, mehr zu arbeiten, weil netto wegen höherer Steuern kaum mehr übrig bleibe.
Lesen Sie hier auch: Diese Steuererhöhungen drohen Bürgern durch die kalte Progression
Die EU-Kommission hält deshalb eine „weitreichende“ Steuerreform in Deutschland für geboten, um diese Ungerechtigkeit zu beseitigen und die Beschäftigung weiter zu erhöhen. So müsse der „Mittelstandsbauch“, der Gering- und Durchschnittsverdiener stark belastet, abgeflacht werden, fordert die EU-Kommission in ihren Empfehlungen und stützt sich dabei auch auf die OECD-Studie.
Eher linke Ökonomen wenden dagegen ein: Die OECD-Untersuchung tauge überhaupt nicht, um daraus Forderungen nach Entlastungen abzuleiten. So blieben darin viele steuerliche Abzüge des deutschen Steuersystems außen vor, etwa der Arbeitnehmerpauschbetrag oder steuerliche Grund- und Kinderfreibeträge. Berücksichtige man diese, sehe das Ranking anders aus.
Jetzt Handelsblatt Premium zum Vorteilspreis sichern - Zum Angebot
OECD-Steuer-Ranking lässt entscheidenden Faktor außer Acht
Auch sei der Blick auf die Arbeitseinkommen verkürzt. So sei die Mehrwertsteuer in Deutschland vergleichsweise gering, vor allem aber auch die Vermögensteuern, wie die Grundsteuer auf Immobilienbesitz, die Erbschaftsteuer oder die Steuer auf Kapitalerträge.
Misst man die Staatseinnahmen aus Steuern und Sozialbeiträgen an der Jahreswirtschaftsleistung, lag Deutschland 2019 innerhalb der EU mit einer Belastung von 41,7 Prozent tatsächlich nur auf Platz neun. Diese Rangliste führt dann Frankreich vor Dänemark und Belgien an.
Zudem weisen Länder wie Griechenland, die USA oder Mexiko zwar eine deutlich geringere Belastung auf als Deutschland. Doch die Arbeitnehmer dort müssen sich aufgrund schwächerer Sozialsysteme selbst stärker absichern. Das Ranking spiegelt also nicht wider, was Bürger im Gegenzug für ihre Steuern und Abgaben bekommen.
Lesen Sie hier auch: Tschüss, Deutschland! Sechs Auswanderer erzählen von ihrem neuen Leben in der Schweiz
Allerdings schneiden auch Staaten mit vergleichbaren Sozialleistungen besser ab als Deutschland – darunter alle skandinavischen Länder. Ein wenig Vergleichbarkeit liefert die Studie also schon. Zumal auch andere Indikatoren dafürsprechen, dass die Steuer- und Abgabenlast in Deutschland recht hoch ist – und weiter steigen dürfte.
So klettern die Steuereinnahmen des Staates gemessen an der Wirtschaftsleistung laut jüngster Steuerschätzung bis 2026 immer weiter in Richtung 24 Prozent, den höchsten Wert seit 1980. Zugleich zeichnet sich ab, dass die Sozialbeiträge wieder steigen werden.
Insbesondere in der gesetzlichen Pflege- und Krankenversicherung klaffen derzeit immense Finanzlöcher. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will deshalb die Krankenkassenbeiträge im kommenden Jahr anheben. Auch Renten- und Arbeitslosenbeitrag könnten leicht steigen in den nächsten Jahren.
Auf die Steuerzahler werden damit nach den Erleichterungen durch die Soli-Abschaffung schon bald wieder höhere Belastungen zukommen.
Jetzt Handelsblatt Premium zum Vorteilspreis sichern - Zum Angebot
Jetzt Handelsblatt Premium zum Vorteilspreis sichern - Zum Angebot
