Stress im Job: „Nicht selten kriselt es spätestens dann in der Beziehung“
Chefärztin Doris Klinger behandelt ausgebrannte Leistungsträger. Die seien oft blind dafür, was sie krank mache – und müssten lernen, ihr Verhalten zu ändern. Tipps gegen den Burn-out. Ein Artikel aus dem Handelsblatt.
Auf dem Schreibtisch von Doris Klinger steht ein weißer Teebecher, filigran verziert mit Royalblau und Gold. Fällt ihr Blick im hektischen Klinikalltag auf das englische Porzellan oder nimmt sie einen Schluck daraus, empfinde sie Freude und gönne sich so bewusst einen Moment Entspannung, sagt die neue Chefärztin der Psychosomatik der Max-Grundig-Klinik.
Zur Bühlerhöhe im Schwarzwald kommt die Wirtschaftselite wegen Check-ups, aber auch wegen akuter gesundheitlicher Probleme, von denen die Öffentlichkeit möglichst nichts erfahren soll.
Die Schönheit von Gedichten ist eine weitere von Klingers persönlichen Kraftquellen, die sie auch anderen empfiehlt. Gerade beschäftigt die Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie das Werk „Der Panther“ von Rainer Maria Rilke sehr.
Das Tier im Käfig sei ein Sinnbild für ihre Klienten, die sich zunehmend im Stress gefangen sähen. Im Interview mit dem Handelsblatt spricht die erfahrene Stressmedizinerin darüber, was zu tun ist, wenn Burn-out droht.
Lesen Sie hier das Interview mit Doris Klinger:
Frau Klinger, Sie fühlen Managern in Deutschland buchstäblich den Puls. Welche Entwicklung bereitet Ihnen als Stressmedizinerin am meisten Sorgen?
Ich beobachte, dass sich bei Managern, aber auch Unternehmern, die Grenze der Exzessivität verschiebt. Es zeigt sich verstärkt eine gefährliche Augen-zu-und-durch-Mentalität.
Was genau verschlimmert sich da beim Spitzenpersonal der Wirtschaft?
Top-Führungskräfte haben zwar immer ein vergleichsweise großes Arbeitspensum und schonen sich wenig. Nun aber ignorieren sie noch stärker als bisher Signale, die vor einem Burn-out warnen.
Welche Anzeichen sind das?
Hinweise, dass das innere Gleichgewicht gestört ist, können andauernde Kopf-, Magen- oder Rückenschmerzen sein, die flankiert werden von Schlaf-, Appetit- und Antriebslosigkeit sowie Konzentrationsstörungen. Etliche Burn-out-Kandidaten nehmen aber auch handfeste Erschöpfungssymptome sowie Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen und Panikattacken nicht ernst.
Solche körperlichen Probleme können Ausdruck von Stress sein?
Wenn, wie häufig, eine krankhafte Ursache ausgeschlossen werden kann, ja.
Arbeiten bis zum Umfallen: Warum riskieren so viele Führungskräfte ihre Gesundheit?
Das passiert nicht unbedingt bewusst. Es kann sein, dass jemand gar nicht merkt, wie es innerlich um ihn steht – und körperliche Signale dann permanent übergeht oder denkt, darum kümmere ich mich später.
Wie aber kann das sein bei klugen Menschen, die gewohnt sind, über Millionensummen und das Wohl und Wehe von Tausenden von Mitarbeitern zu entscheiden?
Das liegt zum einen an der Multikrisensituation. Ukrainekrieg, Rezession, Energiewende, Digitalisierung der Geschäftsmodelle, Fachkräftemangel. Diese geballten äußeren Umstände verlangen überdurchschnittlich viel Einsatz. Mit 60-Stunden-Wochen ist es da nicht getan.
Diese herausfordernden Rahmenbedingungen gelten ja für alle. Nicht jeder entwickelt deshalb offenbar gesundheitsschädliche Stresssyndrome.
Richtig. Entscheidend ist dafür die persönliche Prägung des Stresssystems.
Was heißt das?
Von individuellen genetischen Voraussetzungen abgesehen, erlernen wir von Geburt an, wie wir mit den vier grundlegenden psychischen Bedürfnissen umgehen: dem Wunsch nach Bindung, Kontrolle, Selbstwert und Freude.
Klingt abstrakt. Was bedeutet das konkret mit Blick auf Ihre Patienten von der Chefetage?
Sie müssen sich bewusst machen, was sie von wichtigen Bezugspersonen wie den Eltern gelernt haben: Wofür gab es Anerkennung und Zuneigung? Wie schafften sie es, Entwicklungen vorherzusehen und zu beeinflussen? Wie ließen sich angenehme Zustände verstärken, aber auch unangenehme abschwächen?
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Aus komplexen kindlichen Erfahrungen leitet jeder Mensch unbewusst individuelle Motivationsmuster für sein Verhalten ab. Was sie persönlich antreibt, darüber müssen sich unsere Klienten klar werden.
Aber was hat denn der Kontrollverlust über die Schaufel im Sandkasten mit dem Burn-out-Risiko des Managers zu tun?
Mehr, als die meisten vermuten – wenn es immer wieder zu solchen ähnlichen, prägenden Erlebnissen kam.
Das müssen Sie uns erklären.
Gern. Betrachten wir ein gängiges Bindungsmuster aus Führungskreisen, das sich gesundheitlich negativ auswirken kann.
Welches wäre das?
Überdurchschnittlich intelligente Kinder haben zwar vermutlich von Eltern und Lehrern für ihre Leistung Anerkennung bekommen, wurden aber vielleicht in der Schule immer wieder als Streber gehänselt. Haben sie daraus gelernt, möglichst wenig die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, wirkt dieses Muster beim Erwachsenen nach – egal, ob derjenige inzwischen CEO ist oder nicht.
Verstanden. Wie aber wirkt sich ein solches Muster auf das Stressempfinden in der Führungsposition aus?
Aufgrund früher Erfahrungen kann zum Beispiel der persönliche Wunsch nach Sicherheit und danach, jede Situation kontrollieren zu wollen, sehr ausgeprägt sein. Kommt dann noch ein Hang zu Perfektionismus dazu, kann das einen Leistungsträger in der aktuellen Multikrise plötzlich in eine Abwärtsspirale bringen – bis buchstäblich nichts mehr geht.
Wieso?
Aus solchen Prägungen können dysfunktionale Muster wie zum Beispiel eine geringe Ungewissheitstoleranz und ein Hang zu Kontrolle und Überperfektionismus resultieren, was den Manager zusätzlich stresst und ihn noch mehr Zeit kostet.
Mit welchen Folgen?
Ein solcherart geprägter Vorstandschef eines Autokonzerns etwa muss nun nicht nur wie seine Branchenkollegen die Transformation des Geschäfts in einer allgemein unsicheren Weltwirtschaftslage bewältigen. Seine persönliche Prägung zwingt ihn außerdem dazu, permanent zu kontrollieren, ob er alles richtig gemacht hat und ob das auch bei den Mitarbeitenden, bei den Investoren und der Öffentlichkeit so ankommt. Um so zunächst noch ein Gefühl von Pseudosicherheit zu erlangen. Eine enorme Zusatzbelastung.
Und wann wird diese „Augen-zu-und-durch“-Haltung zum Problem?
Immer dann, wenn die Zeit fehlt, sich schönen Dingen als Ausgleich zu widmen.
Was Freude macht, geht also verloren?
Ja, oft verselbstständigt sich das bis zur kompletten Freudlosigkeit. Erst wird kein Sport mehr getrieben, das Musikinstrument bleibt in der Ecke, oder es bleibt keine Zeit mehr für Freunde. Dann kümmert man sich auch nicht mehr um die Familie. Nicht selten kriselt es spätestens dann in der Beziehung. Beim Essen, das nur noch runtergeschlungen wird, werden nebenbei noch Mails beantwortet und Telefonate geführt. An erholsamen Schlaf ist überhaupt nicht mehr zu denken.
Das macht doch jeden und jede mürbe.
Schlimmstenfalls führt der immense Druck dann zu Angstzuständen oder in die Depression. Um funktionsfähig zu bleiben oder sich zu betäuben, greifen vor allem Männer zu Tabletten oder Alkohol.
Passiert das oft?
Wir haben hier immer wieder gestandene Manager, die sich wegen ihrer Panikattacken nicht mehr aus dem Haus oder hinter das Lenkrad trauen, sich nicht mehr konzentrieren können und fürchten: „Ich werde es nie mehr hinbekommen.“
Was sagen Sie denen?
Wir machen natürlich Mut und bieten Unterstützung dabei an, zu erkennen, was im Einzelfall zum Burn-out geführt hat – und wie sich Körper und Seele wieder in Einklang bringen lassen.
Und wie gehen Sie dann vor?
Wer im Ferrari-Modus unterwegs ist und nichts anderes mehr als Arbeit und Pflicht wahrnehmen kann und unter Versagensangst leidet, muss zunächst mal aussteigen und zur Ruhe kommen.
Wie lange dauert das, und wie geht es weiter?
Ein Klinikaufenthalt dauert meistens zwischen vier bis acht Wochen. Wenn wir beginnen, gemeinsam die persönliche Prägung und Motivationslage zu beleuchten, lautet die Schlüsselfrage: Was bringt Ihnen das? Wenn Sie sich zum Beispiel immer noch mehr und noch mehr aufladen? Wenn Sie nonstop für andere erreichbar sind oder sich noch nie eine Auszeit gegönnt haben? So decken wir nach und nach dysfunktionale Muster auf.
Da erlebt so manche Führungskraft vermutlich einen Aha-Effekt.
Was bei den Gesprächen herauskommt, ist oft überraschend. Diese Selbsterkenntnisse auch emotional zu verarbeiten, braucht eine Weile. Wichtig ist, dass die Betroffenen meist schon nach kurzer Zeit beginnen, ihr Verhalten entsprechend zu verändern. Nach dem stationären Aufenthalt bei uns begleiten wir Klienten ambulant, um den Genesungs- und Veränderungsprozess zu fördern.
„Veränderung bedeutet Chancen“ lautet ein Managercredo. Sind dementsprechend Führungskräfte, die sich überfordert fühlen und an ihrer Situation etwas ändern wollen, Weicheier?
Nein, überhaupt nicht, im Gegenteil. Man muss die persönlichen Hintergründe ermitteln und dann entsprechend handeln, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Resultiert der Stress zum Beispiel aus dem Problem, sich anderen gegenüber nicht abgrenzen zu können, wird es im Gegenteil persönliche Stärke bedeuten, in Zukunft selbstbewusst „Nein, dafür stehe ich nicht zur Verfügung“ zu sagen. Oder auch von sich aus Aufgaben oder Verantwortung abzugeben. Gerade bei oft älteren Klienten in Leitungsfunktion stellt sich die Frage, wie viel Arbeit und Verantwortung muss es überhaupt sein?
Darauf eine Antwort zu geben, dürfte vielen Managern und Unternehmern schwerfallen.
Das stimmt. Viele von ihnen definieren ihren Selbstwert bis zu ihrem Zusammenbruch zwangsläufig über ihre verantwortungsvolle Arbeit.
Das heißt, nicht jeder wird nach dem Burn-out auf seine bisherige Position zurückkehren?
Möglicherweise. Aber wer zurückkommt, hat definitiv begriffen, dass „Augen zu und durch“ die falsche Strategie ist, um auf Dauer leistungsfähig zu sein. Oftmals, auch wenn das paradox klingt, werden Führungskräfte danach leistungsfähiger.
Wie kann das sein?
Weil sie bei uns auch gelernt haben, wie sie das menschliche Bedürfnis nach Freude trotz ihres anspruchsvollen Alltags stillen können und welche Kraftquellen ihnen dabei ganz persönlich helfen.
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