Chinas Plattform Temu revolutioniert den Onlinehandel mit Billigware. - Bild: imago images
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Temu und Shein: Millionen Päckchen setzen den Zoll Schachmatt

Hilflose Szenen im Finanzausschuss: Das Bundesfinanzministerium weiß nicht, wie es der Warenflut aus China Herr werden kann. Dabei geht es auch um Steuerhinterziehung in Milliardenhöhe.

Im Bundestag tritt der Finanzausschuss wie üblich um neun Uhr in seinem kreisrunden Sitzungssaal zusammen. Acht Punkte stehen an einem Mittwoch auf der Tagesordnung, die ersten sieben sind so langweilig, dass auf der Empore mehrere Zuhörer wegsacken. Unten im Parterre schläft ein grüner Abgeordneter vor sich hin, auch einige Mitarbeiter der SPD- und der Unionsfraktion haben Mühe, die Augen aufzuhalten. Als Finanzstaatssekretärin Louise Hölscher zum Tagesordnungspunkt „Zoll- und Steuerbetrug chinesischer Onlineplattformen“ zu referieren beginnt, scheint die Luft im Saal völlig zu entweichen. „Ein monotoner Vortrag, man könnte es auch desinteressiert nennen“, erzählt später ein Abgeordneter aus der nicht-öffentlichen Sitzung.

Hölscher zählt dem Vernehmen nach alles auf, was beim Kampf gegen kriminelle Machenschaften beim Onlinehandel nicht möglich sei. Zu viele Päckchen, zu wenig Zollpersonal, Schwierigkeiten bei der digitalen Kommunikation zwischen den Behörden, ein langwieriger Beratungs- und Abstimmungsprozess in Brüssel, da ja die EU in Handels- und Zollfragen zuständig sei.

Deutschland scheint den Millionen Päckchen und Paketen aus China wehrlos ausgesetzt – so vernehmen es die Mitglieder des Finanzausschusses im Deutschen Bundestag. Über die Onlineplattformen Temu und Shein, um diese beiden chinesischen Internetunternehmen geht es genaugenommen, rollt eine Welle von teilweise gesundheitsgefährdenden und extrem billigen Produkten über Deutschland hinweg, die niemand aufhalten könne.

Temu: Steuer- und Zollschäden in Milliardenhöhe

Plötzlich ist es mit der schläfrigen Atmosphäre im Finanzausschuss dahin. Die hinhaltende Haltung des Finanzministeriums sei unbefriedigend, kritisiert der SPD-Abgeordnete Jens Zimmermann angesichts der Steuer- und Zollschäden in Milliardenhöhe. Eine „völlige Hilflosigkeit“ attestiert der CDU-Steuerexperte Fritz Güntzler der Bundesregierung und spricht von einer „Kapitulation“ gegenüber den chinesischen Problemplattformen Temu und Shein.

Güntzler hat das Thema auf die Tagesordnung im Finanzausschuss setzen lassen, nachdem sich einige heimische Händler und Handelsverbände an ihn gewandt hatten – quasi als Notruf, da die Bundesregierung seit Monaten nicht auf das Drängen der Branche reagiert. Das war Mitte April. Seither hat sich nichts weiter getan im politischen Berlin.

Mit erschreckendem Gleichmut bügelt das zuständige Bundesfinanzministerium seit Monaten alle Anfragen, Bitten und Forderungen zur neuartigen Wareninvasion aus China ab. Kamen bisher die Waren vor allem per Container nach Europa, so sind es nun Millionen Kleinsendungen pro Tag. Das erfordert einen viel größeren Kontrollaufwand als bisher. Doch die personell knappen Zollbehörden sind angesichts der immensen Flut überfordert.

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Zoll-Chef: „Bedingt einsatzbereit“

„Der Dienstbetrieb beim Zoll ist akut gefährdet“, warnt der Bundesvorsitzende der Deutschen Zoll- und Finanzgewerkschaft BDZ, Thomas Liebel. Der Zoll stehe vor mehreren riesigen Herausforderungen gleichzeitig: Massenhaft Pakete mit Billigware von Online-Anbietern aus Fernost, Kokainschwemme an den Seehäfen, volkswirtschaftliche Milliardenschäden durch Geldwäsche und Schwarzarbeit. Liebel: „Aktuell sind wir nur bedingt einsatzbereit.“

Und was tut die Bundesregierung? Sie verweist auf die EU. Tatsächlich ist Brüssel zuständig in Handels- und Zollfragen am europäischen Binnenmarkt. Doch auch die EU-Kommission wirkt lethargisch, rat- und hilflos. Anders als etwa im Streit um chinesische E-Autos, die derzeit zu Spottpreisen überall auf der Welt in die Märkte gedrückt werden. Dieser Tage verhängten die USA Strafzölle von 100 Prozent. Nun spielt auch die EU-Kommission mit der Strafzolloption. Aber nur bei E-Autos, nicht bei den vielen Millionen Sandalen, Adaptern oder Rucksäcken, die für ein paar Euro auf Temu angeboten werden.

Zwar warnen Verbraucherverbände vor Mängeln bei Produktsicherheit und Qualität. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer sieht „Wettbewerbsverzerrungen“, da sich die chinesischen Händler mit ihren direkten Warensendungen oft nicht an geltende Standards und Gesetze halten. Doch die EU-Kommission scheint hier nur mit den Schultern zu zucken.

„Die Europäische Kommission hat punktuellen Handlungsbedarf in diesem Bereich identifiziert“, heißt es in einem Schreiben des Bundesfinanzministeriums an den früheren Finanzstaatssekretär und CDU-Abgeordneten Michael Meister. Ob denn die von der EU-Kommission ab 2028 geplante Abschaffung der Zollbefreiung für Waren bis zu einem Wert von 150 Euro nicht vorgezogen werden müsste, will Meister daraufhin wissen. Antwort: Das wäre kompliziert, andere Länder hätten vielleicht kein Interesse an einem Vorziehen, es gäbe viel zusätzlichen Aufwand für den Zoll.

Dabei könnte die Abschaffung der Zollfreigrenze für kommerzielle Importe von derzeit 150 Euro pro Ware dazu führen, dass es gegenüber hiesigen Händlern und Herstellern zu einer Gleichbehandlung käme. Weil viele chinesische Händler zudem ihre Warenlieferungen schamlos unterfakturieren, wird hier zu wenig Einfuhrumsatzsteuer gezahlt. Auch das verschafft ihnen unlautere Wettbewerbsvorteile.

Florian Köbler, Vorsitzender der Deutschen Steuer-Gewerkschaft und zudem Präsident der Union der Finanzbehörden Europas, ist entsetzt: „Wir reden hier über einen mutmaßlichen Steuerbetrug durch asiatische Plattformen, der europäische Steuerzahler um Milliarden Euro schädigt.“ Umso erschreckender mutet es an, wie wenig die zuständigen Behörden und Politiker bisher dagegen unternehmen.

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