Treibsand: Der Mauerfall als Comic
Überzeichnete Geschichte
Ein Witz kursierte in den letzten Tagen der DDR: „Der Dämliche Rest “. Wer erzählte ihn? „Die, die da bleiben oder die, die abhauen?“ Eine eindeutige Antwort darauf gibt es nicht. Aber es gibt ein Buch, das diese Frage aufnimmt und mit einem Stoff verbindet, der ein offenes Lesen der deutschen Geschichte verlangt: „Treibsand. Eine Graphic Novel aus den letzten Tagen der DDR. Koloriert von Dominique André Kahane.“ Der Wende-Comic von Alexander Lahl und Max Mönch wurde von der Künstlerin Kitty Kahane illustriert, die durch die Illustration von Kinderbüchern, zuletzt einer Kinderbuchreihe mit Geschichten aus dem Alten Testament, bekannt wurde.
Es ist nach ihrer Graphic Novel "17. Juni – Die Geschichte von Adam und Eva" die zweite Erzählung der drei Ost-Berliner, die Untergang und Mauerfall miterlebt haben. Ins Buch ist deshalb auch viel Biografisches eingeflossen. Max Mönch, geboren 1978, studierte Geschichte und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2006 ist er Autor und Regisseur. Alexander Lahl, Jahrgang 1979, studierte Kulturwissenschaften in Berlin, Breslau und Frankfurt (Oder). Er lebt als Autor und Filmemacher in Berlin und ist Mitgründer der Kulturingenieure. Derzeit arbeitet er an einer ARTE-Dokumentation über die Weltmeere.
Die „Buchmacher“ sind auch ausgewiesene Historiker, die Interesse am anderen, tieferen Blick haben. Sie sind sich bewusst, dass Geschichte keine Abbildung der Vergangenheit ist, „sondern eben nur eine Darstellung“. Zwischen ihre Textzeilen passen viele Wimpernschläge – kein Wunder: „Verschleierte Sprache im Sozialismus, bietet unendlich viele Verstecke; überall lauern Doppeldeutigkeiten, Anspielungen“.
Das Buch ist auch ein Beispiel dafür, dass Historie erst dann nicht mehr weh tut, wenn sie überzeichnet ist. Doch ganz ohne Schmerz ist auch der aktuelle „Treibsand“ nicht zu haben: Der Auslandskorrespondent Tom Sandman reist im Spätsommer 1989 von New York nach Berlin, um die Geschichten der Wendezeit im besten Sinne des Wortes aufzulesen. "Der Staat ist auf Treibsand gebaut, Treibsand, der in Bewegung geraten ist", schreibt er in einem seiner Artikel. Das Bedeutendste aber verpasst er. In der Nacht vom 9. auf den 10. November lag er mit einer eitrigen Kieferentzündung im OP der Charité, während Tausende Ost-Berliner die Grenzen stürmten.
Die Weltgeschichte hatte er im Mund: „Als hätte der Schöpfer mein Gebiss mit kleinen Sprengsätzen versehen, die immer dann hochgingen, wenn es in meiner Nähe politisch unruhig wurde.“ Seine Zahnschmerzen wurden für ihn zum inneren Zeichen. Äußerlich stehen die Zähne für Potenz (lat. mächtig, kräftig, wirksam), in der Psychoanalyse für Impotenz, wenn sie im Traum ausfallen. Und in gewisser Weise war die DDR, der „schnarchende“ Staat, am Ende ja auch impotent, denn die Macht bröckelte. „Die politische Struktur ist starr und deshalb zerbrechlich“, heißt es im Buch.
Sandman ist eine wundersame, tragikomische Figur. Angetrieben von seinem antikommunistischen Chef, stolpert er wie ein moderner Schlemihl durch die Weltgeschichte und begegnet dabei einer geheimnisvollen Frau: Ingrid versuchte als Profischwimmerin über die Ostsee zu fliehen, wurde gefasst, eingesperrt und nach zwei Jahren vom Westen freigekauft. Ihr Vater war Funktionär und ihr Bruder Grenzsoldat. Die Karrieren der beiden endeten durch ihren Fluchtversuch. Ingrid wird am Ende MIT der Wahrheit schwerer leben als OHNE sie.
Warum sich die Ereignisse bis zur Kenntlichkeit entstellen: Interview mit Max Mönch und Alexander Lahl
Wann entstand die Idee zum Buch?
Max Mönch: Die Idee entstand unter anderem in einem Gespräch mit Christoph Links. Das Gespräch dauerte exakt drei Bier. Christoph erzählte uns von der anderen Seite, davon, was eigentlich die Funktionäre am 9. November trieben (was die Mitursache für den Mauerfall war). Weiterentwickelt wurde sie beim Joggen und auf der Couch. Alexander und Max machen zusammen TV-Dokus.
Alexander Lahl: Wir wollten eine Geschichte über den Mauerfall, aber diese wiederum auch als Untergang der DDR erzählen. Und es sollte eine Geschichte sein, die nicht schon tausendfach erzählt wurde. Und wir wollten sie mit Kitty erzählen, erstens weil sie ja auch aus der DDR stammt und weil ihr Stil zu der Geschichte so macht bzw. diese ausmacht.
Warum wurde "Treibsand" als Graphic Novel umgesetzt?
Alexander Lahl: Comics bieten alternative Erzählmöglichkeiten und Darstellungsräume, ihr Kniff liegt in der Überspitzung: sie können den Inhalt auf das Eigentliche reduzieren. Intellektueller ausgedrückt: durch groteske Zuspitzung entstellen sie die Vergangenheit zur Kenntlichkeit.
Ist das Genre der Graphic Novel dem Film sehr ähnlich?
Max Mönch: Ja, dramaturgisch und sowieso strukturell. Besonders faszinierend ist die emotionale Wirkung von visuellen Erfahrungen (also Bildern) gegenüber reinem Text. Auch dahingehend sind Film und Comic recht nah beieinander.
Welche Bezüge hat das Buch zu Eurer eigenen Geschichte?
Alexander Lahl: 1.) Der 9. November hat unser Leben auf den Kopf gestellt, er ist sozusagen auch der persönliche Schicksalstag in unserem Leben, weil er es durch den nachfolgenden Systemumbruch so stark veränderte. 2.) Ich habe mich oft gefragt, was aus mir in der DDR geworden wäre. In Ingrid und Jens, den zwei Hauptfiguren im Buch, sind zwei paradigmatische Lebenswege geschildert. Beide wären auch bei mir möglich gewesen, und ich werde es nie erfahren, das ist doch irre. 3.) Die Beschäftigung mit der DDR hörte auch nach dem Mauerfall nicht auf, die eigentlichen Wunden kamen oft erst später, viele Freunde und Familien in meinem persönlichen Umfeld beschäftigt das bis heute, wie bei Ingrid in „Treibsand“
Warum wird die Geschichte aus Sicht eines US-Korrespondenten und nicht aus der Innensicht erzählt?
Max Mönch: Wir wollten den Blick von außen, um nichts erzählen zu müssen, aber alles erzählen zu können. Außerdem gefällt uns, dass unser Protagonist ein Journalist ist. Denn am Ende waren es auch Journalisten, die qua Berichterstattung die Mauer zu Fall brachten - indem sie behaupteten, die Grenzen wären offen, obwohl sie es eigentlich gar nicht waren und so die Bevölkerung überhaupt erst mobilisiert wurde. Und dass unser Journalist aber überhaupt nichts berichtete, sondern wie der Staat der DDR an diesem Tag in Ohnmacht fiel.
Das Zahnmotiv hat durch „Treibsand“ welthistorische Bedeutung erlangt ...
Alexander Lahl: Man kann natürlich noch mehr reininterpretieren, wenn man möchte: die parallele Symbolik der Zahnschmerzen und der Mauer, die wie eine ewige Karies im deutschen Gebiss ihr Unwesen treibt, bis sie (um im Bilde zu bleiben) aufgebohrt und entfernt werden muss. Zudem ist es ja der Rahmen der Geschichte: in Tom Sandmans Zähnen steckt die ganze Erinnerung, hat sich gewissermaßen ganz körperlich eingeschrieben. In dem Moment, wo der Zahnarzt das Provisorium aufbohrt, es öffnet, kommt alles wieder hoch.
Was ist die Kernbotschaft des Buches?
Alexander Lahl: DIE „Aussage“ gibt es glaube ich nicht. Aber der Riss quer durch die Familien, das Weiterwirken der persönlichen Verwerfungen bis weit nach der Wende, davon erzählt das Buch.
Max Mönch: Die Geschichte der Familie Bärwolf, die wir erzählen, endet dramatisch, mit Spaltung und endgültiger Trennung. Am Anfang und am Ende steht eine Frage: Sollte man lieber vergessen bzw. sich nicht erinnern, wenn die Wahrheit zu schmerzhaft ist? Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist in Deutschland zur Staatsraison geworden, dennoch stellt sich die Frage für jeden einzelnen.
Was gibt es für Geschichten um das Buch herum? (Ausstellungen, Projekte etc.)
Max Mönch: Kaum hat Kitty angefangen, das Buch zu zeichnen, schon hatte sie Zahnschmerzen… Die Entdeckung der Glatze-Haar Theorie der sowjetischen bzw. russischen Herrscher hat uns kurze Zeit das Gefühl gegeben, eine weltbewegende Wahrheit entdeckt zu haben. Dazu finden sich einige Passagen in Toms Notizbuch.
Was gibt es für Geschichten um das Buch herum? (Ausstellungen, Projekte etc.)
Alexander Lahl: In der „Comicbox“ wird der Comic auf die Straße gebracht in Form einer alten Telefonzelle. Wir haben zeitgleich noch einen speziellen Animationsfilm (aus Knete) über eine andere und sehr tragische persönliche Geschichte zur Mauer gemacht. Eine wahre Geschichte, eine junge Frau wie Ingrid aus „Treibsand“ - ihre Flucht endet hingegen tragisch.
Das Interview fand 2014 statt.
Weiterführende Literatur:
Max Mönch, Alexander Lahl und Kitty Kahane: Treibsand. Eine Graphic Novel aus den letzten Tagen der DDR. Koloriert von Dominique André Kahane. Metrolit Verlag, Berlin 2014.