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Twitter: Vom Sinn des Zwitscherns

Als ich mich im Juli 2017 bei Twitter angemeldet habe, wollte ich lediglich die Links aus meinem Blog zusätzlich verbreiten. Kaum online erkannte ich, dass alles, was bislang mein geistiges Leben prägte, hier auf schönste Weise miteinander verbunden ist: Wirtschaft, Gesellschaft, Geisteswissenschaften und dringliche Themen wie Nachhaltigkeit. In meinem Kopf war immer alles eins – aber in Publikationen und auf Internetplattformen musste es immer separiert werden. Das änderte sich mit Twitter.

Dieser thematische „Umschlagplatz“ entspricht meinen vielfältigen Interessen. Das Bloggen ist davon nicht zu trennen. Es bedeutet ebenso für mich, die Welt jetzt zu gestalten, stetig das Denken zu trainieren, die eigene Urteilsfähigkeit zu schärfen, Informationen zu teilen und die digitalen Plattformen als Erweiterung des eigenen Geistes zu nutzen - reflektierend, berichtend, punktuell wissenschaftlich, literarisch – nicht systematisch. Denn Übung macht auch den Meister der Digitalisierung. Auf Twitter sich Gedanken, Zitate, Gedichte, Kommentare, Fragmentarisches festhalten wie in einem Notizbuch (Likes sind mehr als nur etwas gut zu finden). Das Schöne ist, dass es im Netz schon „weiterarbeitet“ und neue Impulse hinzukommen.

Wie Menschen denken und sind, zeigt sich an ihrem Twitter-Account.

Einige langweilen, weil sie nur sich selbst darstellen, aber kein relevantes Thema haben. Andere hinterlegen nur Veranstaltungstermine oder zählen die Tage bis zur WM und wundern sich, warum ihnen kaum jemand folgt. Und dann gibt es die Geistreichen, die sich als Person zurücknehmen, aber aus ihrem Inneren schöpfen, die Zitatenschätze und Lesefrüchte ausbreiten, die den Kopf zum Blühen bringen.

Twitter ist kein Buchersatz, kann aber sehr gehaltvoll sein – eine Brücke zu etwas Größerem. Für mich ist Twitter wie eine „Sinnfabrik“, die mein Leben bereichert und für eine neue und positive Form der Kommunikation sorgt. Auch Jörg Scheller und Wolfgang Ullrich bemerkten in ihrem ZEIT-Artikel „Der Geist zwitschert, wo er will“, dass Twitter nicht nur ein Medium für schwarmdumme Menschen ist, sondern auch eine aufregende Debattenkultur entfaltet. Beliebt sei Twitter vor allem bei Philosophen, Soziologen und Politikwissenschaftlern. Eine Studie der Universität von Indiana ergab, dass 80 Prozent aller Journalisten in den USA Twitter nutzen, um sich über aktuelle Ereignisse zu informieren. 60 Prozent nutzen Twitter direkt als Informationsquelle für ihre Berichte. Wenn in der Vergangenheit über Twitter berichtet wurde, standen vor allem Vergleiche und Zahlen im Vordergrund. Vor diesem Hintergrund sprach mir mit folgende Kernaussagen besonders aus der Seele:

  • Tweets können viel mehr sein als eine „Abfolge von Kurzmitteilungen“: „Tausend Tweets sagen oft mehr als ein größerer Text.“

  • Auf Twitter begegnen sich Protagonisten aus Wissenschaft, Politik und Journalismus direkter und persönlicher als irgendwo sonst.

  • Schon länger betriebene Accounts können von einer intellektuellen Entwicklung zeugen.

  • „Twitter ist auch ein Ort für Bildungsreisende.“

Dass Goethe auf Twitter besonders beliebt ist, mag daran liegen, dass er - wie alle großen Geister - aus der Zeit gefallen ist und immer aktuell bleibt. Halil Topcuk betreibt den größten Goethe-Twitter-Account in Deutschland und macht durchweg positive Erfahrungen damit macht: Reaktionen, wie „OMG! Mir folgt Goethe!“ oder „Mein Tag kann nicht mehr besser werden, mir folgt jetzt Goethe“ bekommt er häufig. Viele Menschen bedanken sich per Direktnachricht bei ihm. Am Anfang war er über die Bemerkungen etwas verwundert, weil er oft mit „Herr Geheimrat“ oder „Lieber Goethe“ angesprochen wurde. Es kam ihm zuweilen so vor, als würden die Menschen denken, dass Goethe persönlich twittert.

Mit diesem Account wurde anscheinend ein Nerv in der Twitter-Welt getroffen: „Es gibt nämlich viele andere Accounts, die Zitate von Nietzsche, Bukowski, Rumi, Kant oder Hegel teilen. Diese sind aber ausschließlich auf Englisch. Ansonsten sieht man bei solchen Accounts, dass Menschen sehr offen für Aphorismen sind. Komprimierte und kondensierte Wahrheiten in einer Zeile, die man auf einem Blick lesen kann, eignen sich besonders gut in Zeiten, in der die Menschen immer weniger Zeit zum Lesen finden“, sagt Halil Topcuk. Goethe war davon überzeugt, dass man nur genau genug hinschauen müsse, damit sich das Wichtige und Wahre zeigt – auch auf Twitter.

Die enorme Bedeutung, die Goethe auch bei der jungen Generation Y hat, belegt beispielsweise die Twitter-Parade #100TageGoethe, ein gemeinsames Projekt der Generationen Y und X. Sie fand vom 15.09.2018 bis 23.12.2019 statt. Daran beteiligt waren neben Halil Topcuk auch Damian Mallepree (der morgens auf Instagram die Goethe-Show #GoetheMoMa, in der er mit Menschen von Sao Paulo bis Tokio live über Goethe spricht), die Fotokünstlerin Nicole Simon und ich. Die Tweets waren die Basis für Interviews und Buchbeiträge, die anschließend in den Herausgeberband „Klimawandel in der Wirtschaft“ eingeflossen sind.

Für die Generation Y spielt der Microblogging-Dienst hier ebenfalls eine wichtige Rolle, weil er „eine unmittelbare Informationsquelle für die Meinungen und Einstellungen der Gesellschaft zu aktuellen Themen darstellt“, schreibt Ann-Sophie Czech in ihrem Beitrag “Generation ‘You can do this’”. Im Rahmen ihrer Bachelorarbeit untersuchte sie mit einer quantitativen Inhaltsanalyse die Erfolgsfaktoren, wie die Anzahl der Likes oder Retweets, die Verwendung von Bildern oder Hashtags, der Botschaften von Meinungsführern über den Klimawandel auf Twitter. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung zeigten auf, dass Hashtags ein wesentlicher Treiber für die Verbreitung von Tweets sind, was Befunden vorangegangener Studien entspricht. Ihre Forschungen in diesem Bereich haben allerdings vor allem verdeutlicht, dass grundsätzlich eine große Forschungslücke im Bereich Klimawandelkommunikation in sozialen Netzwerken besteht.“

Weiterführende Informationen:

  • Jörg Scheller und Wolfgang Ullrich: Der Geist zwitschert, wo er will. In: DIE ZEIT (24.5.2018), S. 37.

  • CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag. Berlin Heidelberg 2017.

  • Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2020.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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