Überlebenskünstler: Warum Menschen nicht zugrunde gehen
Überlebenskünstler begreifen sich als innerlich unabhängige Geister. Freiheit ist für sie nicht nur ein Recht, sondern auch eine Fertigkeit, die sie sich erwerben mussten. Sie erkennen, was ihr wahrer Wille (ihre Bestimmung) ist und handeln danach. (Über-)Lebenskunst ist mit Können eng verbunden, denn als Handwerker ihres eigenen Lebens gehen sie ans Werk. Die schöpferische Dimension des Begriffs ist auch im altgriechischen „ergon" (Werk) verborgen - darin steckt „energeia" (Verwirklichung, Vollendung). Das 20. Jahrhundert war eine Blütezeit von Schriftstellern, die die harten Schläge der Existenz und zeitgeschichtlichen Ereignisse im „Zeitalter der Gewalt“ überlebt haben (bei vielen, die umkamen, sind die Ursachen meistens bekannt). Aber wie stand es mit den anderen, wie haben sie die Zeit überstanden? Waren es bestimmte Strategien oder Glücksfälle, durch die sie dem Gefängnis, dem Lager und dem Tod entronnen sind? Waren jene Menschen zu standfest, um vor der Macht zu kapitulieren? Waren sie intelligenter als andere, agierten sie taktischer?
Ihnen widmet Hans Magnus Enzensberger seine "99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert", die 2018 unter dem Titel "Überlebenskünstler" erschienen sind. Eine Vignette bezeichnet im Französischen eine Rebsorte, später wurde das gesamte Etikett der Weinflasche so benannt. Zuletzt meinte dieses Wort Randverzierungen in der Drucktechnik. Als Vignette wird auch eine Variante der besonders im 19. Jahrhundert beliebten Porträtmalerei bezeichnet. Es war damals Mode, geliebte Personen auf ovalen Miniaturgemälden abzubilden, die häufig um den Hals getragen wurden. Zu Enzensbergers "Überlebenskünstlern" gehören u. a. Ernst Jünger, Maxim Gorki, Ilja Ehrenburg, Pablo Neruda, Carl Zuckmayer, Gottfried Benn, Rudolf Borchardt, Erich Kästner, Peter Weiss, Ezra Pound und Gabriele D’Annunzio, Alfred Döblin, Marcel Reich-Ranicki, Robert Musil und Jean Cocteau, Nelly Sachs, Michail Bulgakow, Konstantin Paustowski, Julian Tuwim, Bertolt Brecht, Hans Sahl, Georg Glaser, Albrecht Fabri, Veijo Meri, Danilo Kiš. Viele von ihnen kannte Enzenberger persönlich. Sie haben ihn angeregt, bei der Suche nach dem, was ein gelingendes Leben ausmachen kann. Es wie ein Kunstwerk zu gestalten bedeutet nicht Perfektion – vielmehr muss es authentisch und inhaltsvoll sein. Mit feinen Antennen sucht er nach dem, was ihn persönlich berührt und fasziniert. Für die Moderne hatte Rudolf Borchardt beispielsweise nie viel übrig: „Er zog es vor, sich an den Ewigen Vorrat deutscher Poesie zu halten.“
Enzensberger geht es nicht um die Frage nach dem, wer er ist (und wenn ja, wie viele), sondern um andere Menschen und das, was (von ihnen) bleibt. Er grast ihre Gehirnwiesen ab – manchmal streift er sie nur oberflächlich (wie bei Anna Seghers), dann wieder geht er in die Tiefe, ohne moralische Urteile zu fällen. Es ist ein Merkbüchlein mit wertvollen Lesefrüchten, Zitaten und Anekdoten, von denen sich auch für die Gegenwart noch lernen lässt. „Es kommen härtere Tage“, kündigte Ingeborg Bachmann 1958 mit ihrem Gedicht „Die gestundete Zeit“ an. Sollte sie Recht behalten, „könnte ein Training in der Kunst des Überlebens von Nutzen sein.“ Im Sinne eines bewusst geführten Lebens ist sie ein ständiger Lernprozess und keine vollendete Meisterschaft. Überlebenskunst kann dazu beitragen, mit den persönlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen besser zurechtzukommen.
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler. 99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert. Suhrkamp Verlag Berlin 2018.
Alexandra Hildebrandt: Das Leben als Aufgabe. In: Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2020.