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Foto: Getty Images, Illustration: Marcel Reyle
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Überrascht? Ja. Überfordert? Nein

Die Zölle sind für Manager der nächste Stresstest. Solche Ereignisse genau vorherzusagen, ist unmöglich. Damit umzugehen, nicht. Sechs Managementlehren.

GerdGerd Gigerenzer ist ein Mann der Unsicherheit. Einer, der versucht, sich allen möglichen Szenarien anzunähern, ohne für sich in Anspruch zu nehmen, die Zukunft vorhersehen zu können. Diese Herangehensweise versucht der Psychologe Managern, Bankerinnen, Vorstandsvorsitzenden, immer wieder einzubläuen: Strebt nicht nach Allwissenheit, nach perfekter Planung. Sondern nach Offenheit fürs Ungewisse – und einem größtmöglichen Repertoire an Reaktionen, wenn etwas geschieht, womit keiner gerechnet hat. So wie jetzt Donald Trumps Zölle.

Gigerenzer, Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz und Vize-Präsident des Europäischen Forschungsrats, empfiehlt Managerinnen und Managern eine seriöse Risikokalkulation und eine Priorisierung von Wahrscheinlichkeiten. „Nehmen Sie Putin“, sagte Gigerenzer schon vor eineinhalb Jahren im Gespräch mit der WirtschaftsWoche: Der russische Staatschef werde ziemlich sicher versuchen, seinen Krieg gegen die Ukraine in die Länge zu ziehen, weil er mit der Kriegsmüdigkeit des Westens rechne und hoffe, dass Donald Trump abermals US-Präsident werde: „Dann dürfte die Unterstützung für die Ukraine zurückgehen.“ So kam es.

Aber Gigerenzer geht es nicht darum, Recht zu haben. Entscheidend sei, so eine Möglichkeit im Vorhinein überhaupt zu besprechen. „Das Risiko, auf ein solches Szenario nicht vorbereitet gewesen zu sein, ist allemal höher als das Risiko, sich darauf einzustellen.“

Wenn einzelne Männer wie Wladimir Putin oder Donald Trump einsame und erratische Entscheidungen treffen, sieht man sie womöglich noch weniger kommen. Aber Unternehmen können sich auf diese Art der Unsicherheit durchaus vorbereiten.

1. Unsicherheiten sind nur bedingt berechenbar

Die ganze Wahrheit gibt es nur in sehr kleinen Welten, sagt Gerd Gigerenzer. Roulette zum Beispiel: Das Risiko und die Wahrscheinlichkeiten sind berechenbar. Oder Schach: ein Brettspiel voller Möglichkeiten in einem stabilen, regelbasierten Rahmen – klar, dass datensatte Maschinen und Algorithmen hier Erfolge feiern können. Die wirkliche Welt sei allerdings anders, sagt Gigerenzer, ungewiss, menschlich.

Deswegen seien mathematische Modelle im Bankenwesen auf Grundlage der Vergangenheit ungeeignet, die Risiken der Zukunft zu berechnen, betont Gigerenzer: „Die Dame könnte sauer auf den König sein, die Türme anzünden, mit dem Bauern das Spielfeld verlassen.“ Auf diese Szenarien und Eventualitäten gilt es, eine Antwort zu haben.

Führungskräfte aus Dax–Unternehmen berichteten ihm, dass sie jede zweite Entscheidung am Ende – wenn die Daten keine klare Schlussfolgerung erlauben – aus dem Bauch heraus treffen, sagt Gigerenzer. Das würden sie aber nie öffentlich zugeben. Dabei sei genau das, eine Bauchentscheidung auf Grundlage von Erfahrung und herangezogenen Daten, nur logisch und müsse nicht versteckt werden.

Als würde einem eine gute Leber helfen, wenn das Herz versagt
GERD GIGERENZER, Psychologe

2. Planen unter Vorbehalt

Das heißt nicht, dass Unternehmen auf konkrete Szenarienplanung verzichten sollten. Manche stellen etwa einen Dreijahresplan für die normale Geschäftsentwicklung auf und einen Fünfjahresplan für größere Investitionen. Die Geschäftsführung gleicht die Vorhaben laufend mit der Realität ab. Heraus kommt dadurch beispielsweise bei The Coating Company in Siegen ein institutionalisiertes Frühwarnsystem. Es besteht aus einer internen Kontrollaufsicht, die vor allem zwei Kennzahlen im Auge hat: die Eigenkapitalquote und den dynamischen Verschuldungsgrad. Sinkt die Eigenkapitalquote unter 40 Prozent oder der dynamische Verschuldungsgrad über zwei, werden die Jahrespläne angepasst – und vorgesehene Investitionen vorerst zurückgehalten.

3. Blickwinkeltraining

Je globaler ein Unternehmen aufgestellt ist, desto wichtiger ist es, ferne Standorte ins Frühwarnsystem einzubetten. Fragt man unterschiedliche Mitarbeiter und Kunden in unterschiedlichen Märkten regelmäßig, was bei ihnen gerade so los ist und ob sich da womöglich etwas zusammenbraut, bekommt man potenzielle Störfaktoren früher mit als andere – und kann sich wappnen. Ob im Ausland oder am Unternehmenssitz in Hintertupfingen: Eine lebendige Kultur im Unternehmen, in der manchmal ganz bewusst ein anderer Blickwinkel eingenommen wird, um gewohnte Pfade zu hinterfragen, ist ein Booster für seine Anpassungsfähigkeit, ist der Schlüssel für seine Resilienz.

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4. Robustes Risikomanagement

Gerd Gigerenzer ist Ende 70. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich damit, welche Risiken welche Menschen aus welchen Gründen unter welchen Annahmen eingehen. Sein Ziel: „Systeme entwickeln, die robust sind, nicht optimal.“

Mit der Bank of England und der Europäischen Zentralbankentwickelten er und seine Kollegen „einfache Entscheidungsbäume“. Sie beinhalten Fragen, die sich nur mit Ja oder Nein beantworten lassen, etwa ob der Verschuldungsgrad einer Bank größer als vier Prozent ist. Wird eine der Fragen negativ beantwortet, hissen Aufseher die rote Flagge. „Hätte man das früher eingeführt, wäre die UBS schon vor der Finanzkrise durchgefallen.“ Aber viele Banken arbeiteten damals mit kompensatorischen Modellen. Heißt: Ein guter Wert wog einen schlechten auf. Risikostreuung statt Risikomanagement. „Als würde einem eine gute Leber helfen, wenn das Herz versagt“, sagt Gigerenzer.

5. Agile Taskforces

Manche Firmen haben Taskforces für akute Krisen, andere auch für solche, die noch gar nicht genau zu erkennen sind. Also lange bevor etwa Donald Trump zweistellige Importzölle verhängt. Die Gruppen sind dazu da, akut Lösungen zu finden oder aber Zeit und einen geschützten Diskussionsraum zu haben, in dem unbequeme Meinungen zur Geschäftsentwicklung zur Sprache kommen. In dem Menschen aus verschiedenen Abteilungen, nicht hierarchisch zusammengesetzt, sondern nach Eignung und Lust am Hinterfragen, Szenarien aushecken. Was kann weg? Reports, die niemand liest. Besprechungen, die niemand braucht. Was könnte passieren? Donald Trump kündigt den freien Handel auf. Eine Bundesregierung in spe die Schuldenbremse.

Die Interimsmanagerin Susanne Möcks rät Chefs sogar, ein Drittel ihrer Zeit damit zu verbringen, „die Köpfe zusammenzustecken, sich Input zu holen und aus dem Fenster zu schauen“. Strategie statt Hamsterrad. Möcks ermahnt dann schon mal langjährige Geschäftsführer: „Es geht nicht darum, dass Sie hier jede Nachkommastelle überprüfen. Sie müssen wissen, was in der Welt abgeht. Wenn Sie bisher immer zum CDU-Wirtschaftsrat gegangen sind – gehen Sie doch mal zu den Grünen!“

6. Resilienz ist Flexibilität

Geistige Flexibilität ist das eine. Für weltweit tätige Unternehmen ist es wichtig, dass die eigene Produktion nicht zu sehr an einem Land oder einer Region hängt. Das hat die Coronapandemie eindrucksvoll gezeigt und unterstreicht der neuerliche Handelskonflikt zwischen Trump und dem Rest der Welt einmal mehr. Auch wenn es in diesem Fall angesichts der Importzölle hilft, gerade im Land des Auslösers vertreten zu sein, also in den USA.

Der Industriekonzern Siemens verkündete 2023, eine neue Hightechfabrik in Singapur zu bauen – obwohl Siemens ganz in der Nähe, in China, stark vertreten ist und Singapur viel teurer ist. Aber die Konzernleitung sah darin einen notwendigen Schritt zur Diversifizierung. Der neue Standort minimiert Risiken, und „aus unternehmerischer Sicht kommt es auf die Gesamtkosten an“, sagte ein Siemens-Verantwortlicher. Kaufmannslogik sticht nicht mehr Prävention. Eher ist es umgekehrt: Prävention ist die neue Kaufmannslogik. Und Singapur seit vielen Jahrzehnten einer der (rechts-)sichersten Häfen der Welt.

Nicht nur wo produziert wird, spielt für die Widerstandsfähigkeit eine Rolle, sondern auch: was. Das zeigt das Beispiel Biontech: Das Unternehmen forschte an Krebszellen, als das Coronavirus ausbrach – und konzentrierte kurzerhand all seine Kraft auf die Entwicklung eines Impfstoffs.

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