Aus: Peter Lindbergh. Untold Stories. TASCHEN Verlag, Köln 2020. - Peter Lindbergh/TASCHEN

Untold Stories: Das Vermächtnis von Peter Lindbergh

Die Ausstellung Untold Stories, die vom 5. Februar bis 1. Juni 2020 im Kunstpalast Düsseldorf gezeigt wird, ist die erste von Peter Lindbergh (1944-2019) selbst kuratierte Werkschau, an der er zwei Jahre gearbeitet hat. Zu Beginn des Projekts war er sich selbst nicht bewusst, in welche Richtung es gehen würde: „Es kommt vor, dass Gefühle, Charakterzüge, Emotionen aus unbekannten Ebenen aufsteigen und ans Licht kommen und sich manifestieren.“ Schließlich hat er seine Entscheidungen „nach reinem Instinkt, mit dem Bauch“, gefällt. Er gab ihm wie so oft das Gefühl, das Richtige zu tun, sagt er im Gespräch mit Felix Krämer, der seit 2017 Generaldirektor des Kunstpalastes in Düsseldorf ist.

Der Blick auf seine Bilder hat sich während der Vorbereitungen immer wieder verändert, und es traten stets neue Zusammenhänge zutage. Die größte Herausforderung war, dass das jeweils ausgewählte Foto sämtlichen Gedanken und Fragen standhalten musste: Was ist wichtiger: der Inhalt oder die Fotografie? Welche Rolle spielt die Wahrheit? Wo kann man sich selbst und die eigene Identität finden? Bei jeder Entscheidung für oder gegen ein Foto beschäftigten ihn diese Fragen. Irgendwann stellte er fest, dass er niemals über alle Inhalte die Kontrolle haben kann und den Mut aufbringen muss, einfach den Ereignissen zu folgen: „Es ist in diesem Moment, in dem die magischen Kräfte erscheinen, indem man der Magie die Kontrolle überlässt.“

Vor allem die Vielschichtigkeit seines Werkes zu zeigen, war ihm ein zentrales Anliegen, wie auch aus dem von ihm gewählten Titel, Untold Stories, ersichtlich wird.

Präsentiert werden über 150 Aufnahmen – die meisten im Schwarz-Weiß gehalten - aus den frühen 1980er Jahren bis in die Gegenwart. Damals erweiterte Peter Lindbergh die Bildsprache der Modefotografie. Er bestand sogar immer auf der Definition „Modefotografie“, weil für ihn dieser Begriff nicht bedeutete, dass Mode abgebildet werden muss – denn „die Fotografie ist viel größer als die Mode selbst, sie ist Bestandteil der Gegenwartskultur wie die Musik.“ Lindbergh wollte sich immer seine Freiheit im Denken und Tun bewahren und sich nicht von der Mode vereinnahmen lassen. „Modefotografie ist nicht in erster Linie dafür da, um Mode zu zeigen. Sondern Modefotografie ist ein eigener Kulturbeitrag, wie die Mode auch.“

Beeinflusst wurde er von der amerikanischen Reportagefotografie der 1930er und 1940er, von Fotografen wie Dorothea Lange und Walker Evans. Sein besonderer Blick auf Mode wurde inspiriert vom französischen Bildhauer Aristide Maillol, dem Regisseur Fritz Lang sowie Choreografin und Freundin Pina Bausch aus Wuppertal. Auch Duisburg und die Ruhrregion waren in ihm tief verwurzelt: Nach seiner Ausbildung an der Werkkunstschule in Krefeld lebte er von 1971 bis 1978 in Düsseldorf, wo er eine Ausbildung beim Werbefotografen Hans Lux gemacht hat und 1973 sein eigenes Atelier gründete. Fünf Jahre fotografierte er hier nur Werbung – alles, wofür er Aufträge erhielt. „Jeder hat in seinem Leben eine Welt gesehen und diese bei sich abgespeichert. Von dort müssen die Impulse kommen. Schließlich reagiert man auf alles, was man wahrgenommen und erlebt hat, als ganz eigene Persönlichkeit.“

Es gab in seinem Leben Momente, die sich für ihn anfühlten, als würde er kaum vorankommen.

Vieles dauerte Jahre, aber so fing er an, „langsam an zu existieren.“ Wer ernst genommen werden möchte, muss das machen, „was sich für einen selbst richtig anfühlt und nicht anderen gegenüber Rechenschaft ablegen.“ Seine ikonischen Porträts der Supermodels läuteten ein neues Zeitalter von natürlicher Schönheit und selbstbewusster Weiblichkeit ein: „Be yourself!“ Damit wurde sie wieder das, was sie eigentlich sein sollte: natürlich. Im Vordergrund stand bei Lindbergh nicht die Mode, sondern Persönlichkeit und Ausstrahlung der Models. Häufig hatte er den Eindruck, dass sich die Menschen selbst zu den Shootings mitbringen und keine Show veranstalten: „Sie versuchen nicht, jemand zu sein, der sie nicht sind.“

Die Schwarz-Weiß-Fotografie empfand er oft authentischer als Farbe, denn gerade Porträts wirken durch die Reduktion stärker. Seine Augen haben „Millionen Menschen beigebracht, Schönheit nicht nur als ein Produkt der Mode zu sehen, sondern als unseren tiefsten menschlichen Hang zu Freiheit und Freundlichkeit, zu einem Sinn für Identität sowie für das Recht, das Kind in uns am Leben zu erhalten.“ (Wim Wenders)

Die meisten Aufnahmen der Ausstellung wurden noch nie in Ausstellungen gezeigt, einige sind von Zeitschriften wie Vogue, Harper’s Bazaar, Interview, Rolling Stone, W Magazine oder dem Wall Street Journal in Auftrag gegeben und veröffentlicht worden. Sie geben neue und unerwartete Einblicke in das Werk des legendären Fotografen, dessen Bilder die Grenze zwischen Modefotografie und zeitgenössischer Kunst verschoben. „Durch die Ausstellung ergab sich die Möglichkeit, ausführlicher über meine Bilder und in einem anderen als dem Modekontext nachzudenken,“ sagt er. „Im Nachhinein ist es schwierig nachzuvollziehen, wie ich an den abschließenden Punkt gekommen bin, denn aus allen Richtungen kamen Einflüsse. Als er seine Fotos zum ersten Mal an der Wand im Ausstellungsmodell sah, erschrak er zunächst auf positive Weise: „Es war überwältigend, auf diese Art vor Augen geführt zu bekommen, wer ich bin.“

Ein Teil seiner Arbeit blieb ihm immer ein Geheimnis. Vielleicht begegnete er bei diesem Ausstellungsprojekt seinen Fotos deshalb ganz neu.

Die Ausstellung ist in drei Kapitel gegliedert. Am Anfang und Ende stehen zwei großformatige Installationen. Im Hauptteil werden die aus seiner Perspektive wichtigsten Arbeiten präsentiert. Den Abschluss bildet der noch nie gezeigte, schnittlose Film Testament von 2013, in dem er Elmer Carroll, den Insassen einer Todeszelle, aufnahm. Ohne sich zu bewegen, betrachtet er sich 30 Minuten in einem Einwegspiegel. „In Testament wollte ich den Betrachter vollkommen wertfrei mit dem Bild des Gefangenen konfrontieren, ohne Details zu dessen Straftaten zu liefern. Ich habe über 300 Gerichtsprozesse analysiert und mich dabei gefragt, ob sich nicht auf beiden Seiten nur Opfer befinden.

Das Buch zur Ausstellung enthält auch eine Hommage des Regisseurs und Filmemachers Wim Wenders, der auch auf das „Handwerk“ von Lindbergh verweist. Es ist kein Zufall, dass sich die besten ihres Faches, die wahren Meister, als Handwerker sehen, die lediglich ans Werk gehen. Dazu gehörte auch Karl Lagerfeld, der häufig sagte, dass er eigentlich nur ein „guter Handwerker“ sei – das Wort Designer mochte er nicht. Wie Lagerfeld lebte auch Lindbergh im Hier und Jetzt und war voll auf den Moment fokussiert. Entscheidend war nur die reine Gegenwart, die er mit seiner Kamera formte. Er dehnte diese Augenblicke aus, „bis sie zu kleinen Ewigkeiten von Freude“ wurden.

Literatur:

Peter Lindbergh, Felix Krämer, Wim Wenders: Peter Lindbergh. Untold Stories. TASCHEN Verlag, Köln 2020.

Zu Lindbergh und Lagerfeld: Alexandra Hildebrandt und Nicole Simon: KARL. Reflections. Kindle 2020.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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