Vertrieb: Sollen Topmanager in Verhandlungen dabei sein?
Immer wieder greifen CEOs und andere Topmanager in Verkaufsverhandlungen ein. Das kann dem Deal den entscheidenden Schub verpassen – oder ihn plötzlich abwürgen. Finden Sie heraus, in welcher Rolle Sie Ihrem Unternehmen am meisten nützen.
Von Noel Capon und Christoph Senn
Vor einigen Jahren beschloss ein Topmanager eines Chemieunternehmens – nennen wir ihn Robert –, sich mit einem Großkunden zu treffen. Robert war neu im Unternehmen. Er kannte sich weder mit den Projekten der eigenen Firma noch mit den Problemen des Kunden aus. Im Gespräch hinterließ er einen schlechten Eindruck. Damit nicht genug: Er sicherte dem Kunden auch zu, die Produktionskapazitäten bei Bedarfsspitzen ohne Einschränkungen zu erhöhen – ein Versprechen, das sein Unternehmen nicht halten konnte. Die zuständige Accountmanagerin erfuhr erst später von dem Treffen und der Zusage des Topmanagers – über den Kunden selbst. Und sosehr sie und ihr Team sich auch um Schadensbegrenzung bemühten: Die Beziehung zum Kunden blieb nachhaltig belastet.
Etwa zur gleichen Zeit beschloss der Pharmariese Merck, seine Datenverarbeitung auszulagern. Die zuständigen Manager prüften verschiedene Angebote und entschieden einstimmig, Accenture zu beauftragen. Doch kurz vor der Vertragsunterzeichnung erhielt der CEO von Merck Besuch von IBM-Chef Sam Palmisano. Dieser war im Vertrieb des IT-Konzerns aufgestiegen und hatte das Integrated Accounts Program eingeführt – ein Programm, das strategisch wichtige Kunden in den Blick nimmt. Palmisano verstand also bestens, welche Vorteile es hat, Beziehungen zu Topmanagern von Kundenunternehmen zu pflegen und zu nutzen. Sein Besuch bei Merck zeigte Wirkung: Am Ende ging der Auftrag an IBM.
Viele Topmanagerinnen und -manager sehen die Pflege von Kundenbeziehungen als Teil ihres Jobs, gibt sie ihnen doch die Möglichkeit, Markttrends frühzeitig zu erkennen. Durch ihren Kontakt zu wichtigen Kunden können Topmanager von B2B-Unternehmen die Umsätze, den Gewinn, das Wachstum, den Shareholder- Value und sogar das Überleben ihres Unternehmens entscheidend beeinflussen. Sie agieren häufig als Executive Sponsors sowie als Fürsprecher für IT-Initiativen und andere interne Großprojekte. Doch wie die genannten Beispiele zeigen – und wie wir aus unseren Studien und der Beratung globaler Vertriebsorganisationen wissen –, hat es nicht nur Vorteile, wenn Topmanager im Vertrieb mitmischen. Es kann ihren Unternehmen sogar erhebliche Nachteile bringen.
Um genauer zu untersuchen, welchen Einfluss CEOs und andere Vertreter der Führungsebene auf den Vertrieb haben, sprachen wir mit Topmanagern von B2B-Unternehmen und befragten sie zu ihren Beziehungen zu wichtigen Kunden. Die große Mehrheit sagte, sie pflege einen engen Kundenkontakt, und das sei von Vorteil. Als wir aber mit den zuständigen Accountmanagern sprachen, ergab sich ein anderes Bild: Wir stellten fest, dass die Führungskräfte sich in den Interviews übertrieben positiv dargestellt hatten. Also änderten wir unseren Ansatz. Von 2012 bis 2018 führten wir 30 Führungskräfteworkshops mit 515 strategischen und globalen Accountmanagern in New York, Rotterdam, St. Gallen und Singapur durch. Dadurch konnten wir fünf Rollen identifizieren, die Topmanager und -managerinnen im Umgang mit strategischen Kunden typischerweise einnehmen.
Die fünf Rollen
Im Umgang mit Kunden verfolgen Unternehmenslenker zwei wesentliche Ziele: den Umsatz steigern und stabile, langfristige Beziehungen aufbauen. Je nach Rolle erreichen sie diese Ziele mal mehr, mal weniger gut (siehe dazu die Grafik "Topmanager auf Tuchfühlung").
1. Der Distanzierte
Unter Topmanagern ist eine "Hände weg"-Haltung gegenüber dem Vertrieb nicht ungewöhnlich. In unserer Studie legten immerhin 28 Prozent der Befragten dieses Verhalten an den Tag. Das überrascht nicht. Schließlich haben Führungskräfte ihre eigenen Verantwortungsbereiche; sie sind zunehmendem Wettbewerbsdruck ausgesetzt und müssen mit immer knapperen Mitteln immer mehr erreichen. "Ich treffe in der Regel keine Kunden", sagte uns der CEO eines großen Fertigungsunternehmens. "Dafür ist der Vertrieb zuständig. Unsere Produkte und Lösungen sind Weltklasse, und wir haben eines der besten Teams für Forschung und Entwicklung in der Branche. Wenn unsere Accountmanager unser Nutzenversprechen nur besser kommunizieren würden!" Es dürfte nicht allzu sehr überraschen, dass dieser CEO heute nicht mehr für das Unternehmen tätig ist – und dass dieses mittlerweile von einem Mitbewerber übernommen wurde.
Das Motto "Dafür ist der Vertrieb zuständig" klingt zunächst einmal einleuchtend. Die Personalabteilung sollte die besten Vertriebsmitarbeiter einstellen, und die Vertriebsleiter sollten ihren Teams die nötigen Tools zur Verfügung stellen und Schulungen anbieten, damit diese ihre Ziele erreichen können. Bleiben sie hinter den Erwartungen zurück, liegt die Lösung auf der Hand: Der Vertrieb muss entsprechende Prozess- und Personaländerungen vornehmen.
"Niemand erwartet von einer Marketing- oder Operations-Leiterin, dass sie sich in die Finanzen einmischt. Warum sollte dann der Leiter einer Fachfunktion oder gar der CEO selbst im Vertrieb mitreden?", bekamen wir von distanzierten Führungskräften häufig zu hören. Dieser Einstellung liegt die Annahme zugrunde, dass auf der obersten Ebene alle Funktionen gleich wichtig sind. Unsere Arbeit mit Unternehmen überall auf der Welt legt jedoch nahe, dass der Vertrieb gleicher ist als andere Abteilungen. Er erfüllt eine Schnittstellenfunktion und ist der entscheidende Kontaktpunkt zwischen B2B-Unternehmen und Kunde.
Diese Schnittstellenfunktion ist mit Stress verbunden. Oft kommt es zu Unstimmigkeiten und Konflikten über Aufgabenverteilung, Arbeitspensum, Kundenbedürfnisse und ethische Fragen. Es überrascht nicht, dass Topmanager gern die Hände davon lassen. Zudem glauben viele von ihnen, dass sie sowieso wenig zum Geschäftsabschluss beitragen können, und betrachten den Mehraufwand, den der Kundenkontakt für sie bedeuten würde, als Zeitverschwendung. Doch wie das Beispiel von Sam Palmisano zeigt, können Topmanager das Zünglein an der Waage sein. Den Unternehmen, deren Führungskräfte eine distanzierte Haltung pflegen, könnten so vielversprechende Chancen entgehen. Wenn der Vertrieb seine Quoten nicht erfüllt, bleiben die Umsätze zurück – mit negativen Folgen für die Budgets der übrigen Abteilungen. Kurbeln Topmanager dagegen durch ihren Einsatz den Umsatz an, profitieren alle im Unternehmen.
2. Der Unberechenbare
Topmanagerinnen und -manager, die in diese Kategorie fallen, treffen sich in der Regel mit Schlüsselkunden, ohne sich mit den Accountmanagern abzustimmen. Mitunter wissen diese nicht einmal, dass das Gespräch stattfindet (oder schlimmer: bereits stattgefunden hat). Robert aus unserem Anfangsbeispiel ist so eine tickende Zeitbombe. Er hat das Kundentreffen eigenmächtig geplant und das Unternehmen zu Handlungen verpflichtet, ohne die Besonderheiten der Beziehung zwischen den Vertragspartnern zu kennen. Topmanager, die diese Rolle einnehmen – in unserer Studie waren es 21 Prozent –, erreichen keines der Hauptziele: Ihre Bemühungen tragen nur selten zu einer Umsatzsteigerung bei, und die Beziehung zum Kunden nimmt eher Schaden, als dass sie gestärkt wird.
Ein Accountmanager eines Anbieters für Technologie-Outsourcing erzählte uns: "Ich war seit zwei Jahren mit dem Kunden im Gespräch, gewann immer mehr Vertrauen und machte langsam Fortschritte. Dann war plötzlich alles vorbei. Einer der Konzernchefs hatte sich mit dem Topmanagement des Kunden getroffen, ohne mich in Kenntnis zu setzen oder sich mit mir abzustimmen. Auch über den Ausgang des Gesprächs informierte er mich nicht. Er hatte keine Ahnung, wie die Situation beim Kunden aussah. Das Treffen hat uns um mindestens ein Jahr zurückgeworfen."
Accountmanager beschreiben diese Führungskräfte häufig als "Möwen": Sie kommen angeflogen, machen jede Menge Geschrei und Unordnung und sind dann wieder weg. Ob sie dabei an ihren Ausgangspunkt zurückkehren, ist völlig ungewiss. Der Vertriebsleiter eines kanadischen Finanzinstituts sagte dazu einmal: "Bei uns gibt es nicht bloß einzelne Möwen, sondern einen ganzen Schwarm!"
Wenn diese Art des Kundenkontakts so schädlich ist, warum gibt es sie dann so oft? In unseren Workshops haben wir festgestellt, wie Unberechenbare denken: Sie glauben, sie erwiesen ihrem Unternehmen einen Dienst, und verstehen sich als Türöffner, die dem Vertrieb Kontakte in die Vorstandsetage des Kunden ermöglichen. Das stimmt grundsätzlich auch. Um aber wirklich von Nutzen zu sein, müssen sie eng mit den Accountmanagern zusammenarbeiten und sie in die Vorbereitung der Kundengespräche einbeziehen.
Die gute Nachricht: Die Mehrheit der Unternehmen in unserer Studie, die von unberechenbarem Verhalten in ihrer Führungsetage berichtete, hat Prozesse eingerichtet, um dieses Verhalten zu unterbinden – mit Erfolg. Zu den vielversprechendsten Ansätzen gehören: ein strategisches Kundenmanagement, bei dem sich geschulte Führungskräfte um Schlüsselkunden kümmern; eine klare Verteilung von Aufgaben und Verantwortung sowie ein Prozess, bei dem sich Accountmanager und Führungskräfte vor und nach Kundengesprächen austauschen; sowie ein Executive-Sponsor-Programm für Topmanager, die Kontakte zu wichtigen Kunden pflegen.
Das Chemieunternehmen unseres Topmanagers Robert hat aus seinem unglücklichen Kundenbesuch gelernt. Heute dürfen sich die Topmanagerinnen und -manager (mit wenigen Ausnahmen) nicht mehr allein mit den Kunden treffen und müssen sich vor und nach dem Gespräch mit den zuständigen Accountmanagern abstimmen. Das Unternehmen hat zudem ein Trackingsystem eingeführt. Es stellt sicher, dass Topmanager nur dann Kundenbesuche machen, wenn sie vorher Alternativen erwogen haben, und es erfasst die Ergebnisse der Gespräche für künftige Kundenbesuche.
3. Der Gesellige
Topmanagerinnen und -manager, die diese Rolle einnehmen (19 Prozent der Befragten), wollen in erster Linie die persönliche Beziehung zum Kunden pflegen. Es geht ihnen weniger darum, gleich neues Geschäft an Land zu ziehen. Sie möchten dem Gegenüber zeigen, wie wichtig es dem Unternehmen ist, und Vertrauen aufbauen. Sie bevorzugen ungezwungene Treffen – Schulungen beim Kunden, Cocktailpartys auf Messen oder Sportveranstaltungen. Der Gesellige ist ein guter Unterhalter; über substanziell Geschäftliches spricht er aber eher selten. Häufig wird er von der Partnerin oder dem Partner zu den Veranstaltungen begleitet.
Auch wenn gesellige Führungskräfte weniger schädlich fürs Geschäft sind als Unberechenbare, bergen sie Risiken, und ihr Einfluss kann von leicht positiv bis leicht negativ reichen. Kunden freuen sich oft auf die geselligen Veranstaltungen und verlassen sie in guter Stimmung, sodass die Treffen tatsächlich die Beziehung stärken. Aber Vorsicht: Wenn Kunden den Eindruck gewinnen, die Führungskraft sei nur zum Plaudern gekommen oder um bei einer Vertragsunterzeichnung für ein Foto zu posieren, könnte sie der fehlende Tiefgang der Beziehung stören – vor allem wenn sie von anderen Auftraggebern mehr Aufmerksamkeit und Interesse gewohnt sind.
Der CEO eines europäischen Industrieunternehmens traf sich häufig mit Kunden auf Messen und gesellschaftlichen Events. Nach einigen dieser Veranstaltungen lud ihn ein Kunde in die US-Zentrale seines Unternehmens ein, was der Topmanager gern annahm – auf den ersten Blick ein sinnvoller Schritt. Doch obwohl er die Accountmanagerin über den geplanten Besuch informierte, reiste er schließlich allein. Der CEO des Kundenunternehmens, der produktive Treffen mit leistungsfähigen Lieferanten gewohnt war, empfing den Unternehmensvertreter mit einer Entourage aus Innovationsleitern, Logistikexperten und Einkaufsmanagern. Als der Gast allein eintraf, fragte der CEO sichtlich überrascht: "Schön, Sie zu sehen, aber wo in aller Welt haben Sie Ihre Accountmanagerin und ihr Team gelassen?" Diesem und vielen anderen CEOs auf Kundenseite, mit denen wir gesprochen haben, reicht eine rein persönliche Beziehung ohne Einbezug der zuständigen Vertriebsexperten schlicht nicht aus.
Wenn Unternehmen nicht aufpassen, können gesellige Führungskräfte unberechenbar werden. Ein Zulieferer aus der Getränkebranche etwa hatte über viele Jahre gute Beziehungen zu einem wichtigen Kunden gepflegt, als plötzlich ein neuer Executive Sponsor mit ins Boot geholt wurde. Daraufhin vereinbarte der Accountmanager einen Kennenlerntermin mit dem Topmanagement des Kunden. Der Executive Sponsor verschob das Meeting jedoch dreimal, stets aus wenig nachvollziehbaren Gründen. Am Ende wandte sich der Kunde an einen Mitbewerber, der ihm mehr Aufmerksamkeit entgegenbrachte, um mit ihm über zukunftsfähiges Verpackungsdesign zu verhandeln. Dem Zulieferer entgingen beträchtliche Umsätze.
4. Der Dealmaker
Topmanagerinnen- und -manager dieser Kategorie sind vor allem am Umsatz interessiert, weniger am Aufbau persönlicher Beziehungen. 18 Prozent der Führungskräfte in unserer Studie gehören zu dieser Gruppe. Sam Palmisano ist ein Extrembeispiel für einen Dealmaker. Sehen wir uns einen typischeren Fall an.
Ein internationaler Hersteller von Beschichtungsanlagen hatte von einem führenden deutschen Automobilunternehmen den Auftrag erhalten, eine umweltfreundliche, kostensparende Produktionstechnik zu liefern. Diese hatte im Labor und im Praxistest gut funktioniert. Doch dem Zulieferer gelang es nicht, das System in die Hauptfertigungslinie des Kunden zu integrieren, und die vertraglich vereinbarte Frist für die Implementierung lief langsam ab. Nachdem der CEO mit dem Accountmanager gesprochen hatte, besuchte er die Firmenzentrale und die Produktionsstätte des Kunden und konnte einen Aufschub aushandeln. Mit diesem Mehr an Zeit gelang es dem Hersteller schließlich, das Problem vor Ort zu beheben. Der Deal war gerettet.
Um ein Geschäft zum Abschluss zu bringen, kann der Dealmaker-Ansatz mitunter notwendig sein. Wenn ein Kunde noch zögert, den Vertrag zu unterzeichnen, ist der Knackpunkt meist nicht das Nutzenversprechen, das der Accountmanager unterbreitet, sondern die Frage, ob das Unternehmen tatsächlich liefern kann, was es verspricht. Da haben die Zusicherungen eines Accountmanagers häufig zu wenig Gewicht. Oft kann nur ein Topmanager oder der CEO selbst die erforderlichen Ressourcen garantieren.
Dasselbe gilt vielfach für die Kaufentscheidungen des Kunden: Das mittlere Management führt zwar die Verhandlungen und spricht Empfehlungen aus; die finale Lieferantenauswahl unternimmt aber das Topmanagement. Erinnern wir uns, wie sich der CEO von Merck über seine Berater hinwegsetzte und den Auftrag an IBM vergab. Wir haben Fälle erlebt, in denen der Topmanager eines Kundenunternehmens sich in den Kaufprozess einmischte, die Entscheidung eines Mittelmanagers rückgängig machte und sogar Strafzahlungen für die vorzeitige Vertragsauflösung in Kauf nahm, um die Zusammenarbeit mit einem unerwünschten Lieferanten zu verhindern.
„Ich wusste nicht, wie ich meinen Chef aufhalten sollte, also habe ich einen Herzinfarkt simuliert.“
Auch der Dealmaker-Ansatz birgt Risiken. Wenn Verhandlungen regelmäßig an die Chefetage eskaliert werden, kann die Delegation von Verantwortung schnell zur Norm werden und dem Unternehmen langfristig schaden. Obwohl das Topmanagement beim Abschluss besonders schwieriger oder wichtiger Geschäfte eine bedeutende Rolle einnimmt, kann es beim Kunden zu Frustration führen, wenn ständig kurzfristige Meetings mit der Topetage angesetzt werden.
Damit der Dealmaker-Ansatz Erfolg hat, ist eine interne Abstimmung unerlässlich. Doch weil Dealmaker sich eher auf Umsätze als auf Beziehungspflege konzentrieren, vernachlässigen sie womöglich die Kommunikation mit wichtigen Akteuren im eigenen Unternehmen, was zu kostspieligen Fehlern führen kann. Das passierte auch bei einem global tätigen Hersteller von Materialien für die Lackindustrie. Hier beendete der Dealmaker eines Geschäftsbereichs ein gemeinsames Entwicklungsprojekt mit einem Kunden, weil er den erwarteten Umsatz von 300.000 Euro für zu gering hielt. Dabei übersah er völlig, dass das Projekt einem angegliederten Geschäftsbereich 20 Millionen Euro Umsatz einbringen sollte.
Dealmaker müssen in ständigem Austausch mit den Accountmanagern stehen und deren Rolle im Prozess ernst nehmen. In ihrem Ehrgeiz, ein Geschäft abzuschließen, machen Dealmaker bisweilen zu viele Zugeständnisse. Falls Kunden erfahren, dass aus der Chefetage höhere Rabatte zu erwarten sind, können sie ihren Accountmanager übergehen oder verlangen, dass das Topmanagement an jeder einzelnen Verhandlung teilnimmt.
Accountmanager müssen teilweise zu drastischen Mitteln greifen, um Schaden durch übereifrige Dealmaker abzuwenden. Ein Beispiel: Der Bereichsleiter eines Unternehmens hatte beschlossen, den Accountmanager zu einem Treffen zu begleiten, um einen wichtigen Deal festzuzurren. "Kaum hatte das Meeting begonnen, drängte der Kunde auf erhebliche Preisnachlässe", berichtete der Accountmanager. "Der Bereichsleiter war so darauf fixiert, den Deal zu machen, dass er den Forderungen nachgeben wollte – wodurch dem Unternehmen über zwei Millionen Dollar Gewinn entgangen wären. Ich wusste nicht, wie ich ihn aufhalten sollte, also habe ich einen Herzinfarkt simuliert. Das Meeting wurde beendet, und einige Wochen später konnte ich einen wesentlich besseren Preis aushandeln."
5. Der Wachstumskönig
In dieser Rolle sind Führungskräfte mit Kundenkontakt am produktivsten, denn sie haben sowohl die Beziehung als auch den Umsatz im Blick. Und da sie Wachstumschancen identifizieren, dienen sie anderen im Unternehmen als Vorbild. Leider machen sie in unserer Studie die kleinste Gruppe aus – nur 14 Prozent der Teilnehmer entsprechen diesem Profil.
John Chambers, viele Jahre CEO von Cisco, war solch ein Wachstumskönig. Bevor er das Ruder bei Cisco übernahm, hatte er als Vertriebler bei IBM das Einmaleins des Kundenkontakts gelernt und später als Senior Vice President des Bereichs Global Sales and Operations gearbeitet. Dabei begleitete er Accountmanager häufig zu Kundenbesuchen und holte direkt im Anschluss Feedback bei den Mitarbeitern ein, wie er den Kunden noch mehr Nutzen bieten könnte. Zudem nutzte er die Technologie des Unternehmens und kommunizierte mit Kunden auch virtuell, lange bevor Videokonferenzen in der Pandemie üblich wurden.
Um ihre Rolle erfolgreich auszufüllen, müssen Wachstumsköniginnen und -könige eng mit strategischen Kunden zusammenarbeiten. Sie müssen deren Bedürfnisse kennen und ihre Sichtweise einnehmen und dafür womöglich auch an Strategiesitzungen des Kunden teilnehmen. Wachstumskönige unterstützen interne Prozesse zur Verbesserung der Unternehmensleistung, etwa den Einsatz von Kennzahlen für Kundenprofitabilität oder von Best-Practice-Systemen.
Was noch wichtiger ist: Sie stoßen einen kulturellen Wandel im Unternehmen an. Andere ahmen ihr Verhalten nach und orientieren sich ebenfalls stärker an den Kunden (siehe dazu "Was braucht ein Wachstumskönig?" unten).
Wachstumskönige sind bereit, sich über interne Hürden (manchmal auch über konkrete Regeln) hinwegzusetzen, um Kunden zu langfristigem Erfolg zu verhelfen. Im Zuge eines drastischen Stellenabbaus entließ der IT-Konzern IBM einen erfahrenen Mitarbeiter, der für einen Schlüsselkunden wichtigen technischen Support geleistet hatte. Der Accountmanager wusste, dass der Abgang die Stellung des Unternehmens beim Kunden erheblich schwächen würde, weshalb er sich an seinen "Partnership Executive" (PE) wandte – so nennt IBM seine Executive Sponsors. Der PE konnte die Entlassung zwar nicht rückgängig machen; er engagierte den ehemaligen Mitarbeiter aber als Berater und beschaffte das dafür notwendige Budget. So kam es, dass dieser Experte in seiner neuen Funktion zwölf Jahre lang für IBM arbeitete und dabei den Umsatz mit mehreren wichtigen Kunden erhöhte.
Auch Wachstumskönige haben Schwächen. Sie bevormunden andere gern und sind anfällig für Mikromanagement – besonders wenn sie selbst einmal als Vertriebsleiter oder Accountmanager tätig waren. Ein Topmanager eines japanischen IT-Unternehmens war ganz erpicht darauf, den Accountmanager eines bestimmten Kunden und dessen Team zu unterstützen. Deshalb setzte er wöchentliche Meetings an, um sich über Fortschritte zu informieren und das Wachstum voranzutreiben. Dadurch setzte er den Account-manager jedoch stark unter Druck – und dieser erzählte uns, nur halb im Scherz: "Es ist schon gut, so einen engagierten Topmanager mit im Boot zu haben. Aber ich bin immer froh, wenn er Urlaub hat."
Um solche Missstände zu vermeiden, sollten Unternehmen klare Regeln aufstellen und die Aufgaben und Verantwortlichkeiten von Accountmanagern, Vertriebsteams, Executive Sponsors und Topmanagern festlegen. Zudem sollten Wachstumskönige die Einblicke weitergeben, die sie in ihrer Rolle gewinnen. Ihre Erfahrungen können helfen herauszufinden, ob die Unternehmensstrategie zu den Kundenbedürfnissen passt.
Ein europäisches Pharmaunternehmen setzte sich zum Ziel, die Beziehungen zu seinen Kunden zu stärken, und stieß dafür eine aufwendige Initiative an. Hochrangige Führungskräfte erhielten dabei den Auftrag, strategische Kunden persönlich zu unterstützen. Während einer Management-Review präsentierten die Accountmanager der zehn wichtigsten Kunden des Unternehmens die Einblicke, die sie während der Initiative gewonnen hatten. Das Ergebnis: Die Strategie des Unternehmens hatte nicht viel mit der tatsächlichen Situation der Kunden zu tun. Den CEO veranlasste das zu einer rhetorischen Frage: "Wir haben eben gehört, dass neun von zehn Kunden in Zukunft eine Strategie verfolgen, die wir mit unserem Angebot in keiner Weise bedienen können. Wer muss sich ändern – wir oder sie?" Also überarbeitete das Unternehmen seine eigene Strategie (und seinen Strategiefindungsprozess) und erlebte dadurch einen deutlichen Wachstumsschub.
Wie Sie die richtige Rolle finden
Nachdem wir die fünf Rollen identifiziert hatten, wollten wir wissen, wie jede einzelne den finanziellen Erfolg von Unternehmen beeinflusst. Dazu ermittelten wir die Umsatz- und Gewinnwachstumsraten der betroffenen Firmen über einen Zeitraum von fünf Jahren. Wir nutzten dafür Unterlagen der US-Börsenaufsichtsbehörde SEC und andere öffentlich zugängliche Daten (siehe Grafik "Ein Hoch auf den König!")
Der Stil eines CEOs im Umgang mit Kunden ist natürlich nur eine Variable, die das Ergebnis beeinflusst. Wir haben jedoch festgestellt, dass Unternehmen mit distanzierten oder unberechenbaren Führungskräften ihre Umsätze und Gewinne in der Regel nicht steigern können. Gesellige und Dealmaker dagegen erreichen Wachstumsraten, die im Schnitt zwei- bis dreimal so hoch sind wie die ihrer Kollegen aus den ersten beiden Gruppen. Wachstumskönige wiederum erzielen ein doppelt so hohes Wachstum wie Gesellige und Dealmaker und sind damit die mit Abstand erfolgreichste Gruppe.
Heißt das nun, dass Topmanagerinnen und -manager im Umgang mit Schlüsselkunden stets als Wachstumskönige auftreten sollten? Nicht unbedingt. Wo immer möglich sollten B2B-Unternehmen zwar im Umgang mit strategischen Kunden Wachstumskönige einsetzen. Wenn ein Kunde diese Art der Zusammenarbeit jedoch ablehnt, sollten Führungskräfte stattdessen in die Rolle eines Dealmakers oder Geselligen schlüpfen.
Topmanager, die nie als Wachstumskönig auftreten wollen, schwächen ihr Unternehmen.
Doch auch der Kontext ist wichtig: Wie verhält sich der Kunde? Wie wichtig ist er für das Unternehmen und umgekehrt? Und wie sieht sein Kaufprozess aus? Wenn ein Kunde nur am Geschäftlichen interessiert ist, kann es Ressourcenverschwendung sein, in eine Wachstumskönig-Beziehung zu investieren. Ein Dealmaker – selbst wenn er nicht aus dem Topmanagement kommt – kann kurzfristig oft ähnlich gute oder sogar bessere Ergebnisse erzielen. Bei manchen Kunden bietet sich dagegen der opportunistischere Ansatz des Geselligen an. Langfristig profitieren B2B-Unternehmen jedoch am meisten, wenn sie ihre Kundenbeziehungen intensivieren. Einige der erfolgreichsten Topmanager in unserer Studie haben als Gesellige oder Dealmaker angefangen und sich allmählich zu Wachstumskönigen entwickelt. Wieder andere nehmen nur im Umgang mit ihren allerwichtigsten Kunden die Rolle eines Wachstumskönigs ein und geben ansonsten eher den Dealmaker oder Geselligen.
Unterm Strich lässt sich sagen: Führungskräfte, die im Umgang mit strategischen Kunden vor der Rolle des Wachstumskönigs zurückschrecken, schwächen ihr Unternehmen. Wenn ein Kunde eine Beziehung jenseits der Dealmaker- oder Geselligen-Ebene anstrebt, das Unternehmen dabei aber nicht mitzieht, wird er sich für künftige Geschäfte vielleicht nach anderen Partnern umsehen.
Wir empfehlen Unternehmen, ihre Beziehungen zu strategischen Kunden einmal im Jahr zu überprüfen. Wachstumskönige sollten sich vor allem um jene Kunden kümmern, die das größte langfristige Geschäftspotenzial aufweisen, und nicht nur um jene mit dem besten aktuellen Kaufverhalten. Topmanagerinnen und -manager müssen ihre Komfortzone verlassen, um ungewohnte Aufgaben zu übernehmen – und anderen Führungskräften im Unternehmen dabei zu helfen, dasselbe zu tun.
Schauen wir uns hierzu das Beispiel des deutschen Konsumgüterherstellers Henkel an, der in hartem Wettbewerb mit Procter & Gamble und Unilever stand. Seine siloartige Markenstrategie hinderte das Unternehmen daran, über das gesamte Produktportfolio hinweg mit Kunden in Kontakt zu treten. Kurz nachdem Kasper Rorsted den Posten des CEOs bei Henkel übernommen hatte, initiierte er deshalb ein "Meet the Customer"-Programm, das sich an die Topführungskräfte aller Marken richtete. Darüber hinaus stieß er einen Wettbewerb unter den Führungskräften an, bei dem es darum ging, wer welche kundenzentrierten Aktivitäten durchführte. Schon bald wurden Berichte über Kundenkontakte ein fester Bestandteil der Managementmeetings, und die Besuche, die Führungskräfte den Kunden abstatteten, wurden deutlich mehr und effektiver.
B2B-Unternehmen sollten zudem ein Executive-Sponsor-Programm etablieren. Dieses kann unterschiedliche Formen annehmen: Einige Programme sind sehr strukturiert und kennzahlenorientiert; andere entsprechen eher einem informellen Arrangement zwischen Topmanagement und Vertriebsorganisation. Die erfolgreichsten Programme haben jedoch bestimmte Gemeinsamkeiten: Sie betrachten Executive Sponsorship als absolutes Muss, nicht als Nice-to-have. Sie sehen vor, dass sich die Führungskräfte für zwei bis drei Jahre als Executive Sponsors verpflichten, um die nötige Einheitlichkeit und Tiefe im Umgang mit dem Kunden sicherzustellen. Und sie machen klar, dass Topmanager in der Kundenbeziehung nicht allein agieren, sondern sich vor und nach den Gesprächen mit den Accountmanagern abstimmen müssen. Executive-Sponsor-Programme sollten nicht in Stein gemeißelt sein, sondern müssen regelmäßig überprüft und angepasst werden, wenn sich die Bedürfnisse der Kunden oder die Prioritäten des Unternehmens ändern. Wenn beispielsweise ein anfangs kleiner Zulieferer zu einem mittelgroßen oder großen Unternehmen heranwächst, kann es notwendig sein, Verwaltung und Koordination eines Sponsorship-Programms zentral zu organisieren, weil das Kundenmanagement problematischer und komplexer wird.
Bei unserer Untersuchung hat sich gezeigt, dass es in Unternehmen mit Executive-Sponsor-Programmen mehr Wachstumskönige (26 Prozent) im Topmanagement gibt als in anderen Unternehmen (4 Prozent). Diese Firmen sind sich zudem eher bewusst, wie wichtig es ist, die Führungsetage in den Kundenkontakt einzubeziehen, und sie analysieren systematisch, welche der fünf Rollen für den jeweiligen Kunden die passendste ist.
Unternehmen sollten bedenken, dass sich nicht jede Führungskraft als Executive Sponsor eignet. Das hat zum Beispiel der Logistikriese DHL erkannt. Accountmanager des Unternehmens können anregen, einen anderen Executive Sponsor zugeteilt zu bekommen, wenn die Zusammenarbeit nicht funktioniert – natürlich vorausgesetzt, sie können einen guten Grund dafür anführen.
Das Topmanagement in den Kundenkontakt einzubeziehen kann sich auszahlen – sowohl für B2B-Unternehmen als auch für ihre Kunden. Einer unserer Workshopteilnehmer brachte es auf den Punkt: "Die Accountmanager und ihre Teams sind für den Geldbeutel des Kunden zuständig. Aufgabe des Topmanagements ist es hingegen, in den Kopf des Kunden vorzudringen." Eine stärkere Kundenorientierung ist daher mehr als nur ein weiterer Punkt auf der To-do-Liste von Führungskräften. Sie ist eine Voraussetzung für Wachstum und ein maßgeblicher Treiber des Erfolgs. © HBP 2021
Die Autoren
Noel Capon ist Professor für internationales Marketing an der Columbia Business School und sitzt im Board of Directors der Strategic Account Management Association.
Christoph Senn ist Honorarprofessor für Marketing und einer der Co-Direktoren der Marketing and Sales Excellence Initiative der französischen Business School Insead.
Kompakt
Die Situation Für CEOs und andere Topmanager in B2B-Unternehmen stellt sich die Frage: Wie stark sollte ich mich in die Beziehungen meiner Accountmanager mit wichtigen Kunden einmischen? Wenn der Chef oder die Chefin beim Kunden vorspricht, kann sich das auf Umsatz, Gewinn, Wachstum, Shareholder-Value und sogar das Überleben des Unternehmens auswirken. Allerdings sind die Ergebnisse sehr unterschiedlich – von hervorragend bis katastrophal.
Die Rollen Führungskräfte nehmen fünf Rollen im Kundenkontakt ein: der Distanzierte, der Unberechenbare, der Gesellige, der Dealmaker und der Wachstumskönig. Sie unterscheiden sich darin, wie stark sie jeweils auf die Beziehung und auf das Geschäftliche achten.
Das Ziel Topmanager sollten bei Kunden als Wachstumskönige auftreten, die Beziehungsebene und Umsatzsteigerung gleichermaßen im Blick haben. Sind sie erfolgreich, profitieren beide Seiten.
Was braucht ein Wachstumskönig?
Wie identifizieren Unternehmen jene Führungskräfte, die Umsatz und Beziehung gleichermaßen im Blick haben und dadurch viel Potenzial entwickeln? Auf Grundlage unserer Studien haben wir sieben typische Eigenschaften herausgearbeitet, die Wachstumskönige auszeichnen.
Anpassungsfähigkeit: Pflegt gute Beziehungen zu den Verantwortlichen des Kundenunternehmens wie zum eigenen Accountmanager.
Erreichbarkeit: Ist jederzeit für die Kunden, den Accountmanager und das Vertriebsteam ansprechbar; bringt keine Ausreden.
Engagement: Zeigt großen Einsatz, nimmt die Sichtweise des Kunden ein und ist bereit, sich über interne Regelungen hinwegzusetzen, um dem Kunden zu langfristigem Erfolg zu verhelfen.
Detailwissen: Ist bestens vertraut mit Strategie und Fähigkeiten des eigenen wie des Kundenunternehmens.
Kommunikationsfähigkeit: Spricht die Sprache der Kundinnen und Kunden, des Vertriebsteams sowie der operativen Experten.
Sozialkompetenz: Legt Wert auf Teamarbeit, coacht andere und hört zu.
Ergebnisorientierung: Erfüllt oder überfüllt die vereinbarten Ziele regelmäßig.
Dieser Artikel erschien in der Juli-Ausgabe 2021 des Harvard Business managers.
