„Viele Blüten, aber wenig Früchte“
Faxe vom Gesundheitsamt ans RKI, eine anfangs nur auf neuen Smartphone-Modellen zu installierende Corona-Warn-App, Brüche und wenig Bereitschaft bei der Einspeisung positiver Befunde durch Nutzer und Warnung von Kontaktpersonen, aufwendige analoge Anamnese vor der Covid-19-Impfung etc. Wir stellen uns die Frage: Hätte die Pandemie in Deutschland im zurückliegenden Jahr effektiver bewältigt werden können, trotz des niedrigen Digitalisierungsgrads des Gesundheitswesens? Welche Abläufe hätten optimiert werden können? Und: Was kann man jetzt noch besser machen? Healthcarefuturist Dr. Tobias Gantner wirft einen sachlichen Blick zurück und einen mutigen nach vorne.
>> Starten wir mit einem Gedankenspiel, Herr Dr. Gantner: Hätten smarte Konzepte den Umgang mit der Krise erleichtern können, trotz des niedrigen Digitalisierungsgrads des Gesundheitswesens, dessen Steigerung sich grundsätzlich ja nicht von heute auf morgen umsetzen lässt? An welchen Stellen?
Kritik aus dem Lehnstuhl zu üben, wenn man in einer Zukunft angekommen ist, die keiner vorhersehen konnte, ist leicht und nicht besonders innovativ. Deshalb ist es mir wichtig, da gar nicht erst einzustimmen, sondern konstruktiv und kreativ zu sein und über Dinge zu sprechen, die ich selbst verantworten und überblicken kann und auch nach einem Jahr immer noch für richtig halte. Meines Erachtens gibt es drei Wege aus der Krise, das heißt einer bezeichneten Notfallsituation:
• Absolute Machtausübung, z. B. durch Lockdown,
• Absolutes Vertrauen, z. B. in wissenschaftliche Erkenntnisse, in eine Impfung und
• Absolute Transparenz, z. B. durch das Erheben und Teilen von Daten.
Da die Krise dieses Umfangs zustande kam, weil wir moderne Technologien (Fernreisen etc.) nutzen, hätte man auch mehr auf moderne Technologien setzen können, um diese Krise zu bekämpfen.
An was denken Sie da genau?
Ich denke dabei insbesondere an das Thema der altruistischen Datenspende. Wir haben seit Februar 2020 die Seite www.fasterthancorona.org als multinationales privat organisiertes pro Bono Projekt online, die plattformunabhängig und international Datenspenden zu Covid-19 Verläufen entgegennimmt. Diese Daten werden mithilfe von KI-Algorithmen ausgewertet mit dem Ziel, Muster in Daten zu erkennen und im Nachgang mit naturwissenschaftlichen Methoden daran zu gehen, herauszufinden, welche biologischen Substrate ihnen zugrunde liegen. Hinter Daten liegt also Biologie. Daher sprechen wir von computergenerierten Biomarkern.
Was hätte das in der Krisensituation bedeutet? Was hätte man damit machen können?
Anstatt über Datenschutz zu lamentieren, hätte man das Momentum auch nutzen und die Datenspende als ein weiteres Instrument im Werkzeugkasten der Epidemiologie erproben können. Es ist jetzt nicht die Zeit, sich auf linear weiter gedachten Lösungen auszuruhen. Wir sollten weiter an der Zukunft entwickeln und auch weniger ausgetretene Pfade nutzen. Natürlich kann noch niemand wissen, welcher Weg sich als der am besten geeignete erwiesen haben wird. Bedeutet das, dass wir ihn deshalb nicht suchen und dann gehen sollten? Am Ende freuen wir uns dann darüber, dass irgendwer anders es gewagt hat. Dinge sind bekanntlich nur so lange unmöglich, bis sie jemand macht, der davon nichts wusste. Mich ärgert, dass wir so etwas auch selbst könnten und es uns nicht zutrauen. Nachsicht mit sich selbst ist ein Wesenszug, den nimmt, wer den Beginn der Zukunft verpasst hat.
Was passiert denn mit den gespendeten Daten?
Bei www.fasterthancorona.org stellen wir im Wege der Transparenz die anonymen gesammelten Daten auch interessierten Personen, die sich an unsere Governance-Strukturen halten und eine Forschungsfrage, die unser Ethik-Gremium zuerst bewertet, zur Verfügung. Das vermisse ich beispielsweise bei der RKI-App. Es wäre doch wichtig, dass diese Daten zugänglich sind und daraus Lehren gezogen werden können.
Interessanterweise hat sich am 22.11.2020 die EU dieses Themas angenommen und stellt gerade Weichen zum Bereich Datenspenden und Datensammeln. Auch die UNESCO interessiert sich für diesen Ansatz des Citizen Science und bürgerschaftlichen Engagements. Was wurde denn eigentlich aus all den Initiativen der ersten Monate, die stark darauf basierten und in Hackathons an Lösungen bastelten?
Es ist ja nicht alles schlecht: Das eRezept, die elektronische Patientenakte stehen in den Startlöchern. Wird das der Durchbruch?
Schlecht ist ja relativ zu dem, womit man sich vergleicht. Wir sind alle diesbezüglich bisher ganz gut durch die Pandemie gekommen. Klar könnte es besser gegangen sein, aber eben auch viel schlechter. Meines Erachtens geht es hier gar nicht so sehr um Technologie, es geht um ein Verständnis des Zusammenlebens und wie wir das gestalten möchten. Das eRezept könnte technologisch schon seit Jahren verwendbar sein und die Patientenakte existiert in der einen oder anderen Form ja auch schon lange. Die Frage ist doch immer: Wie gehen wir damit um und womit befüllen wir diese Datenbanken? Es geht um den Willen der handelnden Akteure, es geht um Abgrenzung, um Angst und um Umbruch. Es geht um Anreizsysteme und Selbstbilder und es geht um viel Geld. Das ist menschlich gut verstehbar, dass es ruckelt, aber es ist schade, dass es einer Krise bedarf, um das Offensichtliche zum Öffentlichen zu machen – und ich bin gespannt, was am Ende bleiben wird. Welche Teile der Arzt-Patienten-Beziehung lassen sich auch durch Telemedizin bei einer großen Bevölkerungsgruppe dauerhaft befriedigend abbilden? Ein Durchbruch ist ja nicht immer und für jeden nur gut. Fragen Sie mal einen Patienten mit Blinddarmentzündung ...