Viele Konzerne rechnen mit Rekordgewinnen – das ist eine Illusion
Trotz Krieg und Krisen hoffen viele Unternehmen auf ein Rekordgewinnjahr. Doch nun werden nach den Anlegern auch Experten skeptischer. Das sind die Gründe.
Düsseldorf. Der Krieg in der Ukraine, die teure Energie und fehlende Halbleiter drohen die Konjunktur abzuwürgen. Ebenso die steigenden Zinsen und harte Corona-Beschränkungen in China. Dennoch rechnen in- und ausländische Analysten damit, dass Unternehmen in Europa und den USA in diesem Jahr so viel verdienen werden wie noch nie.
Ein Widerspruch, der für Nervosität bei den Investoren an den weltweiten Börsen sorgt und der mitverantwortlich ist für die heftigen Kursausschläge der vergangenen Wochen. Die Gewinnprognosen der Analysten haben entscheidenden Einfluss auf die Bewertungen der Aktien. Sie gehen zum Beispiel in das Kurs-Gewinn-Verhältnis ein, eine der zentralen Kennziffern, um zu bestimmen, wie hoch oder wie niedrig eine Aktie im Vergleich zur Konkurrenz oder zum Gesamtmarkt bewertet ist.
Allein für die 40 Dax-Konzerne prognostizieren Analysten im Durchschnitt einen Nettogewinn von zusammengerechnet 132 Milliarden Euro – eine Milliarde Euro mehr als 2021, dem besten Jahr in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. In den USA werden sogar um 20 Prozent höhere Gewinne prognostiziert als im vergangenen Rekordjahr.
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Hauptgrund für die Zuversicht ist, dass es vielen großen börsennotierten Konzernen dank der weltweit hohen Nachfrage bei gleichzeitig knappen Materialien gelingt, höhere Preise durchzusetzen. Dennoch wächst bei Experten die Skepsis. „Zwar haben sich die Gewinnerwartungen vieler Unternehmen bislang bestätigt, sie werden aber unter Druck geraten, wenn sich die Konjunktur weiter abschwächt“, sagt Craig Burelle, Makroanalyst beim US-Vermögensverwalter Loomis Sayles.
Nach Ansicht des Commerzbank-Strategen Andreas Hürkamp sind die Unternehmensanalysten „viel zu optimistisch“. Er rechnet für das laufende Geschäftsjahr mit Gewinnrückgängen von durchschnittlich fünf Prozent und „für das Jahr 2023 ist sogar ein zweistelliger Rückgang wahrscheinlich“. Ein Blick auf frühere Konjunkturzyklen zeige, dass in Rezessionsphasen die Unternehmensgewinne „20 bis 40 Prozent unter den ursprünglichen Erwartungen der Analysten liegen“.
Dass es nicht schon 2022 ein großes Minus geben wird, hat einen einfachen Grund: Im Auftaktquartal erzielten die Firmen Rekordgewinne und in der jetzt startenden Berichtssaison zum zweiten Quartal zeichnen sich keine Einbrüche ab. Diese drohen frühestens im zweiten Halbjahr – und 2023.
Börse reagiert schneller als Analysten
Angesichts der vielen Risiken wären sinkende Gewinnerwartungen wahrscheinlich. Genau darauf stellen sich Anlegerinnen und Anleger ein: Seit Januar fallen die Aktienkurse.
„Der Aktienmarkt preist Rückgänge bei Unternehmensgewinnen bis über 20 Prozent ein“, sagt Sven Streibel von der DZ Bank.
Mit derart hohen Rückgängen rechnen die Börsen in konjunktursensiblen Branchen, wie etwa der Chemieindustrie. Sie leidet besonders darunter, wenn die Gaspreise steigen – oder es womöglich gar keine Energie mehr gibt.
Die kräftigen Rücksetzer am Aktienmarkt in den vergangenen Wochen dürften eine Vorwegnahme der erst noch bevorstehenden Negativrevisionen bei den Unternehmensgewinnen sein.
Berechnungen der DZ Bank zufolge lässt die jüngste Kurskorrektur an den Börsen darauf schließen, dass Anleger von durchschnittlich elf Prozent geringeren Dax-Gewinnen im Jahr 2022 ausgehen, als dies die derzeit veröffentlichten Analystenschätzungen ausweisen. „Diese vom Aktienmarkt erwarteten beziehungsweise gehandelten Negativrevisionen erscheinen uns keinesfalls übertrieben“, meint Streibel.
Zuletzt kam es 2020 zu erheblichen Gewinnrevisionen im zweiten Halbjahr. Damals verfiel die Wirtschaft infolge der Coronapandemie im Frühjahr in eine Schockstarre. Die Nettogewinne der Dax-Konzerne stiegen nicht wie ursprünglich erwartet um gut fünf Prozent gegenüber 2019 – sie fielen stattdessen um 45 Prozent. Im Frühjahr 2020 brach der Dax um rund 35 Prozent ein und sackte auf den tiefsten Stand seit 2013.
Das wohl prägnanteste Gewinnschock-Jahr war 2008: Noch im Sommer, als die Immobilienkrise längst heraufgezogen war, rechneten Analysten damit, dass die Gewinne steigen würden – und die Unternehmen nährten diesen Optimismus. Auch damals kam es zu massiven Kursverlusten beim Dax von fast 50 Prozent.
Jürgen Hambrecht, damaliger BASF-Chef, meinte noch im September 2008, dass von einer Rezession keine Rede sein könne. Er ging sogar davon aus, den Gewinn gegenüber dem Boomjahr 2007 steigern zu können. Zu diesem Zeitpunkt liefen die Geschäfte auch noch gut.
Wer lügt: Analysten oder Ökonomen?
Doch nur drei Monate später reagierte BASF auf die plötzliche Krise mit Kurzarbeit und legte große Anlagen vorübergehend still. Hambrecht hatte zuvor die Realität keineswegs geschönt, um gute Stimmung zu verbreiten. Er konnte einfach nicht ahnen, dass die Kunden mit einem Mal in einen Käuferstreik treten würden.
Ähnlich erscheint die Situation auch jetzt. Das Forschungsinstitut Prognos geht in einer Berechnung davon aus, dass Deutschlands Bruttoinlandsprodukt um 12,7 Prozent im zweiten Halbjahr einbricht, sollte Russland ab Ende Juli kein Gas mehr liefern, was Experten nach Abschluss der Wartungsarbeiten an der Pipeline Nord Stream nicht für ausgeschlossen halten. 2008 war die Wirtschaft halb so stark eingebrochen und die Dax-Konzerngewinne sanken damals um mehr als 50 Prozent.
Fakt ist: Die bislang robusten Gewinnerwartungen der Analysten stehen in krassem Widerspruch zur Skepsis unter Anlegern und Ökonomen. „Doch wer lügt nun, die Analysten oder die Ökonomen?“, fragt die DZ Bank in einer Finanzmarktstudie.
„Keiner“, lautet ihre Antwort, denn die Diskrepanz entstehe durch die verschiedenen Betrachtungsweisen. Zunächst einmal gilt es, zwischen den „nominalen Gewinnschätzungen“ der Analysten – diese rechnen in Nettogewinn pro Anteilsschein – und den „realen Wachstumsprognosen“ der Ökonomen zu unterscheiden. Bei den Volkswirten geht es um Güter- und Dienstleistungseinheiten oder Transaktionen.
Robuste und immer noch steigende Analystenerwartungen für die diesjährigen Unternehmensgewinne können einerseits durch die hohe Preissetzungskraft vieler großer Konzerne erklärt werden, die steigende Kosten bislang überwiegend erfolgreich an ihre Kunden weitergeben.
Davon berichteten zuletzt etwa die Autobauer. Mercedes verkaufte im ersten Quartal zehn Prozent weniger Autos als im Jahr davor. Doch angesichts hoher Nachfrage bei knappen Materialien setzte der Konzern höhere Preise durch, verzichtete auf Rabatte, konzentrierte sich auf teure Luxuslimousinen und erhöhte so seinen Betriebsgewinn um knapp 20 Prozent.
Darüber hinaus wirkt wie schon im ersten auch im zweiten Quartal der schwache Euro. Dieser kostete zwischen April und Juni im Schnitt zwölf Cent weniger als im Vorjahr. Davon profitieren alle Unternehmen, sobald sie ihre im Dollar-Raum erzielten Erträge in Euro umrechnen. Bei den Dax-Konzernen wirkt sich der schwache Euro im laufenden Geschäftsjahr mit einem Zusatzgewinn vor Steuern, Zinsen und Abschreibungen von zehn bis 30 Milliarden Euro aus – das sind drei bis zehn Prozent.
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Noch geht es den Unternehmen bestens
Schließlich lassen sich Gewinneinbrüche schwer prognostizieren, wenn es sie noch nicht gibt. BASF veröffentlichte bereits Eckdaten für das zweite Quartal. Europas größter Chemiehersteller ist an der Börse besonders unter Druck, weil möglicherweise die im Winter ausbleibende Gasversorgung die Produktion lahmlegen könnte.
Doch bislang lassen sich keine Schwächen erkennen: Der Nettogewinn stieg gegenüber dem Vorjahr um 450 Millionen Euro auf 2,1 Milliarden Euro. Die Prognose für das Gesamtjahr, wonach der Betriebsgewinn nach 7,76 Milliarden Euro im Vorjahr zwischen 6,6 und 7,2 Milliarden Euro landen soll, blieb „vorerst unverändert“.
Das Beispiel des größten europäischen Chemieherstellers zeigt, warum Analysten aufgrund vieler neuer und nie da gewesener Unsicherheiten so zögerlich bei der Anpassung ihrer Gewinnschätzungen sind. Sie wissen einfach nicht, ob, wann und vor allem wie stark sich der Krieg, die damit verbundene Unsicherheit, der Materialmangel und die steigenden Energiepreise auswirken werden.
Deshalb warten sie ab. Sobald aber die Berichtssaison beginnt, sind „negative Anpassungen der Gewinnerwartungen“ nach Ansicht der DZ Bank „wahrscheinlich“.
Ähnlich argumentiert Marc Decker, stellvertretender Aktienchef bei Quintet Private Bank, der Muttergesellschaft von Merck Finck: „Wir gehen zwar davon aus, dass die Gewinne im zweiten Quartal sinken werden – aber nur im Einklang mit dem sich verlangsamenden Wachstum.“
Doch bislang ist davon in den Gewinnschätzungen nichts zu erkennen. Für Europas Konzerne rechnen Analysten damit, dass die Nettogewinne 2022 um mehr als zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr steigen. Für die US-Konzerne werden sogar um gut 20 Prozent höhere Gewinne prognostiziert.
Die Hiobsbotschaften mehren sich
Nur wenige Analysten sehen schon jetzt Veränderungsbedarf. Nicholas Green vom US-Analysehaus Bernstein passte seine Bewertung für gleich sechs europäische Investitionsgüterkonzerne an das Szenario einer „moderaten Konjunkturschwäche“ an.
Im Schnitt senkte er die Gewinnprognosen um sechs Prozent und bezeichnete die allgemeinen Markterwartungen als „unrealisierbar hoch“. Konzerne, die am wenigsten auf eine Rezession vorbereitet seien, sind für ihn unter anderem Siemens Energy und Siemens selbst.
Die Sorgen um den Münchener Elektronikkonzern haben ihren Grund. Siemens kündigte an, aufgrund starker Kursverluste bei seiner 35-Prozent-Beteiligung an Siemens Energy, die Schwierigkeiten mit ihrer Windkrafttochter Gamesa hat, 2,8 Milliarden Euro abzuschreiben.
Damit könnte Siemens im laufenden Quartal sogar in die roten Zahlen rutschen und gezwungen sein, die Jahresprognose zurückzunehmen. Zwar ist die Abschreibung nicht zahlungswirksam, schmälert aber den Nettogewinn und das Eigenkapital.
Mit Blick auf das zweite Halbjahr zeichnen sich weitere Hiobsbotschaften ab. Das Dax-Schwergewicht Airbus droht sein Ziel, im laufenden Jahr 720 zivile Flugzeuge auszuliefern, drastisch zu verfehlen. Im ersten Halbjahr dürften allenfalls 300 Maschinen geliefert worden sein. Aufschluss wird der Quartalsbericht am 27. Juli geben.
Dem Flugzeugbauer fehlen Triebwerke der Zulieferer, wodurch sich die Montage verzögert. „Wir haben wieder begonnen, Flugzeuge ohne Triebwerke zu bauen, wie schon 2018“, sagte Vorstandschef Guillaume Faury auf einer Luftfahrttagung. „Das ist wirklich kein gutes Signal.“
Besserung ist nicht in Sicht. Nach einer Umfrage des Münchener Ifo-Instituts dürfte der Materialmangel in der deutschen Industrie noch mindestens zehn Monate andauern.
Fast drei von vier Unternehmen klagten über Engpässe und Probleme in der Beschaffung von Vorprodukten und Rohstoffen. In Schlüsselbranchen wie der Elektroindustrie, dem Maschinenbau und in der Autobranche berichteten rund 90 Prozent der Unternehmen, dass sie nicht alle Materialien und Vorprodukte bekommen.
Auch deshalb genießt die in der neuen Woche auch in Deutschland startende Quartalssaison – und noch mehr die Ausblicke auf das zweite Halbjahr – besonders große Aufmerksamkeit. Und das nicht nur bei den bislang optimistischen Analysten, sondern auch der skeptischen Finanzwelt.
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