Vollkommen anders: Warum wir Exzentriker und Regelbrecher brauchen
Kein Song von Queen-Sänger Freddie Mercury klingt gleich - alle wurden durch seine Stimme unverwechselbar, auch seine lasziven Bühnenshows machten ihn zu einem der populärsten Rock-Sänger aller Zeiten. Für ihn, der sich selbst als kompliziert und heikel bezeichnete, galt zeitlebens: „Je größer, desto besser" - und zwar bei allem. Wann immer irgendwo Großes „abging", wollte er dabei sein und im Mittelpunkt stehen. Ihm war stets bewusst: „Wer das Sahnehäubchen will, braucht Selbstvertrauen." Bis er es aufbauen konnte, musste er sich buchstäblich durchbeißen und seine Unsicherheit überwinden: Einer seiner ältesten Schulfreunde war Keith Wilson, der erkannte, dass Freddies Unsicherheit von seinen vorstehenden Vorderzähnen kam, die einige Zeit durch eine schmerzvolle Spange betont wurden. Vier zusätzliche Backenzähne im hinteren Kieferbereich drückten sein Gebiss nach vorn. Das machte ihn angreifbar - ein gut gezielter Schlag genügte, um seine Lippen aufplatzen zu lassen. Später erträumte er sich alles Mögliche - das war die Welt, in der er sich zuhause fühlte. Sie war „sehr extravagant", und so war auch seine Art, Musik zu machen. Worin war dieser Ausnahmekünstler anderen voraus? - Er lief immer voran und niemals mit, ihm lag nicht an einer Verlängerung des Lebens, sondern an seiner Verdichtung: „Ich habe kein Verlangen danach 70 Jahre alt zu werden. Ich will nicht morbide klingen. Ich habe ein volles Leben gelebt, und wenn ich morgen tot bin, ist es mir egal. Ich habe alles getan; das habe ich wirklich." Das sagte er 1987, vier Jahre vor seinem Tod. Sich an ihn zu erinnern ist deshalb so wichtig, weil wir mehr von solchen Exzentrikern in Deutschland brauchen, weil es ohne solche Menschen keine Spitzenleistungen in Wirtschaft und Gesellschaft gibt, weil ohne sie die Welt trist wäre und wir weniger Freude am Leben hätten.
Freddie Mercury starb mit 44, Michael Jackson mit 50 und König Ludwig II. mit 41 Jahren. Der Tod küsst außerhalb der Norm stehende Menschen oft schon gleich nach der Geburt zum ersten Mal und dann immer wieder. In deren Leben wirken auf rätselhafte Weise oft viele dabei mit, dass das Erdendasein dieser Auserwählten relativ früh endet. Danach aber stehen sie wie Phönix aus der Asche auf und ihr Mythos währt ewig. Sie alle sind Genies, Junkies, große Popstars oder auch nur einfach verrückt, weil sie es wagen, sich aus der sogenannten Normalität zu ver-rücken.
60 Jahre nach dem Tod des Märchenkönigs wird Freddie Mercury geboren, charismatischer Rocksänger, der als Frontman der Band Queen in die höchsten Sphären des Musik-Business aufstieg. Extrovertiert und flamboyant tigerte er bei seinen Auftritten in körperbetonten Outfits, Eyelinern und lasziver Mimik über die Bühne und zog das Publikum mit seiner Vier-Oktaven-Stimme in seinen Bann. Abseits der Bühne war er ein scheuer, introvertierter Mensch. Er war schwul, wagte aber lange nicht, zu seiner Sexualität zu stehen, die immer noch verteufelt wurde. Er sagte der Welt nicht, wer er wirklich war und ließ nur in seinem Song „Bohemian Rhapsody“ sein altes Ich sterben, um wenigstens singend sein wahres Selbst zu akzeptieren. Er wurde für seinen dekadenten und ausschweifenden Lebensstil bekannt. Sein Leben auf der Überholspur endete 1991 an Aids. Exzentriker sind glamourös, größenwahnsinnig, egoman und mitunter autistisch. Im Sound von Freddie Mercury, Michael Jackson, Elvis Presley und anderen in ausgeflippten Kostümen rockt immer irgendwie auch der Spirit Ludwigs II. mit und das Vergnügen anders zu sein als die anderen.
Ludwig II., ungeliebt von den Münchnern, des Geldes wegen heuchlerisch umgarnt von Richard Wagner und der Arachne Cosima, von Reichskanzler Bismarck mit Bestechungsgeldern geködert, wie fälschlicherweise immer noch behauptet wird, sein herrliches Bayernland samt Untertanen unter Zwang ans preußisch dominierte Deutsche Reich verhökert, den Intrigen seiner Minister und seines Onkels Luitpold gnadenlos ausgesetzt, dann von dieser Bande schnöde abgesetzt, für geisteskrank erklärt und zu schlechter Letzt auch noch am Pfingstmontag des Jahres 1886 im Starnberger See ertränkt, erwürgt oder erschossen, ersatzweise von Dr. Gudden in den Selbstmord getrieben oder beim Zweikampf mit seinem „Irrenarzt“ von einem Herzinfarkt dahingerafft – so jemand kann einfach nicht sterben, sondern ist verdammt, als Ikone für die Ewigkeit rastlos durch die Welt zu geistern.
Ludwig II. überraschte seine Zeitgenossen nicht nur mit seinen anachronistischen Schlossbauten, pflegte Konversation mit imaginären Tischgästen wie Madame Pompadour, dinierte bei Eis und Schnee im Freien, ließ sich das erste elektrisch beleuchtete Fahrzeug der Welt bauen und wollte in einem Pfauenwagen über den Alpsee fliegen. In seinem Hedonismus glaubte er, ein Anrecht auf Selbstverwirklichung zu haben. Gleichwohl verheimlichte er seine Homosexualität, spaltete und splitterte sich immer weiter auf.
Michel Jackson – zerbrechlich, geheimnisvoll, geschlechtslos, haut-farblos – ein Einsamer, von einem anderen Stern und durch und durch Kunstfigur produzierte mit seinem schrillen Gesang Thriller um Thriller, wusch die schwarze Musik weiß, färbte die weiße Musik schwarz, brachte mit seinem schwerelosen, roboterhafte „Moonwalk“ auf der Stelle tretend die Popgeschichte in rasende Bewegung und wurde zur Projektionsfläche für eine ganze Generation. Wie ein moderner Ludwig II. webte er sich in seine eigene Traumwelt ein. Sein Schloss Neuschwanstein war die Ranch „Neverland“, der Fluchtort eines Genies auf der Flucht vor sich selbst. Auch nach seinem Tod 2009 wurden Verschwörungstheorien laut. Das war auch bei Ludwig II. nicht anders.
Schuld, Mitschuld und Verantwortung: Warum uns der Untergang Ludwigs II. noch heute angeht
Alfons Schweiggert: Der Ludwig-II.-Prozess. Die Schuldigen an der Königskatastrophe. Volk Verlag, München 2022.