Von 56.000 Euro auf 100.000 Euro in zwei Jahren: Warum Deutschlands Unternehmen eine Gehaltsblase droht
In Deutschland sind die Gehälter von Fachspezialisten in der Krise gestiegen, zeigt eine Auswertung. Fachkräftemangel und Inflation befeuern den Trend.
Akuter Personalmangel, häufige Jobwechsel und rapide wachsende Inflationsraten nähren in Deutschland eine Gehaltsblase unter Fachkräften. Das zeigt eine Studie der Unternehmensberatung Willis Towers Watson (WTW), die dem Handelsblatt exklusiv vorliegt. Im Zentrum der Analyse standen Jobs, für die besonderes Spezialwissen erforderlich ist.
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Danach stiegen seit Ausbruch der Coronakrise die Gehälter von IT-Systemarchitekten und -architektinnen im Schnitt um fast ein Viertel. Auch Vertriebler im Großkundenbereich verdienen seit der Pandemie durchschnittlich 15 Prozent mehr. Ähnlich sieht es im Controlling, Marketing und der Finanzanalyse aus.
Sie alle erzielten über die vergangenen zwei Jahre Gehaltssteigerungen von durchschnittlich zehn Prozent oder mehr. Insgesamt hat WTW Zugriff auf mehr als 400.000 Gehaltsdaten aus 870 Unternehmen.
Fachkräfte-Mangel und Inflation befeuern Löhne und Gehälter
Wegen des demografischen Wandels befindet sich der Arbeitsmarkt ohnehin im Umbruch. Hinzu kommen nachhaltig steigende Inflationsraten, die Ängste vor eine Lohn-Preis-Spirale schüren. Die Verbraucherpreise waren im März um 7,3 Prozent gestiegen, die höchste Steigerung seit über 40 Jahren. In der Euro-Zone waren es sogar 7,5 Prozent.
„Der Ukrainekrieg verstärkt stagflationäre Tendenzen, die schon vorher vorhanden waren“, warnt Ifo-Chef Clemens Fuest. IW-Direktor Michael Hüther fürchtet, dass dieses „Stagflationsszenario“ aus hohen Inflations- und niedrigen Wachstumsraten „bis zum Ende des Jahrzehnts andauern könnte“.
Gehaltsblase in Deutschland? Angst vor Lohn-Preis-Spirale wächst
Steigen insbesondere die Inflationserwartungen, führt das tendenziell zu höheren Lohnforderungen. „Gerade für kleine und mittelständische Unternehmen wird es immer schwieriger, bei diesen Gehaltssteigerungen mitzuhalten“, sagt Florian Frank, Vergütungsexperte von WTW.
Aus ökonomischer Sicht ist es das Szenario, das es unbedingt zu verhindern gilt: eine Stagflation in Verbindung mit einer Lohn-Preis-Spirale. Seit Längerem warnen Ökonomen vor einer nachhaltigen Rückkehr der Inflation – nach fast zwei Dekaden extrem niedriger Kapitalmarktzinsen und Inflationsraten.
Hohe Inflationsraten ziehen steigende Lohnforderungen nach sich, das wiederum treibt die Preise. Es ist genau das Szenario, das die Weltwirtschaft nach dem Energiepreisschock in den 1970er-Jahren in eine tiefe Krise getrieben hatte.
Die Alarmsignale jedenfalls nehmen zu: Laut einer Yougov-Umfrage für das Jobportal Indeed rechnet die Hälfte aller Personalverantwortlichen in diesem Jahr mit Gehaltssteigerungen. Jeder fünfte Betrieb wäre bereit, mehr als zehn Prozent beim Gehalt draufzulegen, um gute Mitarbeiter zu halten.
Was die Löhne in Deutschland vor allem treibt, ist die Personalknappheit. 2021 hätte es in jeder fünften Jobgattung zu wenig Personal gegeben, sagt Michael Hüther, Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln. Auch „abseits der üblichen Verdächtigen“ wie IT, Pflege und Handwerk.
„Die Inflation wird unweigerlich auf Löhne und Gehälter durchschlagen“, warnt Jürgen Stark, ehemaliger Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank (EZB), in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt. Er erwartet, dass die Gewerkschaften angesichts der aktuellen und erwarteten Preisentwicklung und der zurückhaltenden Geldpolitik der EZB ihre Mitglieder nicht mit dem Argument beruhigen können, die Preissteigerungen seien ein vorübergehendes Phänomen.
Zuletzt waren die Löhne in Deutschland im Schnitt um 3,1 Prozent gestiegen. Für dieses Jahr gehen laut einer Umfrage des Münchener Ifo-Instituts 80 Prozent der Personalchefs von Lohnsteigerungen um durchschnittlich 4,7 Prozent aus. Am höchsten fällt der voraussichtliche Lohnanstieg mit 5,8 Prozent im Dienstleistungsbereich aus. Ein Treiber auch bei ungelernten Beschäftigten in diesem Jahr ist der Mindestlohn. Er steigt ab 1. Oktober auf zwölf Euro pro Stunde.
Ein Blick auf die Spezialistengehälter zeigt, wie breit bereits in der Krise die Löhne gestiegen sind. Insgesamt hat WTW in der Auswertung für das Handelsblatt 230 Jobdisziplinen analysiert, in 70 bis 80 Prozent waren Gehaltssprünge während der Coronazeit zu sehen. In zehn Jobs stiegen die Löhne im Mittel sogar um mehr als zehn Prozent binnen zwei Jahren.
Gehälter & Corona: Wo in der Pandemie die Löhne am stärksten stiegen
Die Stellenbeschreibung mit dem höchsten Grundgehalt auf der Liste sind der Finanzanalyse zuzuordnen. Diese Manager und Managerinnen kommen auf ein Mediangehalt von 92.400 Euro im Jahr – Boni ausgeklammert. Das Mediangehalt beschreibt das Einkommen, bei dem es genauso viele Menschen mit einem höheren wie mit einem niedrigeren Gehalt gibt. Somit fallen statistische Ausreißer weniger stark ins Gewicht als beim Bilden eines Durchschnittswerts.
Besonders auffällig: Fünf der zehn Jobs mit den größten Gehaltssprüngen seit Corona sind IT-Stellen. „In der IT orientiert sich mittlerweile ein Großteil der Unternehmen über dem Median“, erklärt Vergütungsexperte Frank. Heißt: In vielen Einzelfällen sind gehaltstechnisch deutliche Abweichungen von den genannten Werten drin.
Am meisten verbessern konnten sich sogenannte IT-Systemarchitekten. Verdienten sie 2019 laut WTW noch 73.700 Euro Bruttobasisgehalt, müssen Arbeitgeber heute mit 91.400 Euro im Jahr rechnen. Ein ähnliches Lohnwachstum konnten IT-Systemadministratoren hinlegen. Hier stieg das Basisgehalt zwischen 2019 und 2021 von 76.400 Euro auf 88.700 Euro.
Laut Branchenverband Bitkom stieg die Zahl der unbesetzten IT-Stellen zuletzt um zwölf Prozent auf 96.000. Die Boston Consulting Group schätzt, dass bis Ende des Jahrzehnts gar 1,1 Millionen IT-Kräfte fehlen werden. Auch Ingenieure, Ärzte, Experten für Automatisierung und Fachkräfte aus dem Bereich Werbung, Marketing und PR werden wegen des demografischen Wandels knapp.
Hüther fordert deshalb, mit gezielter Zuwanderung und Weiterbildung gegenzusteuern. Der scheidende Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, geht davon aus, dass der deutsche Arbeitsmarkt eine Zuwanderung von mindestens 400.000 Menschen pro Jahr aus dem Ausland braucht, um die Folgen von Fachkräftemangel und demografischem Wandel einigermaßen abzufedern.
„Ein Viertel oder selbst ein Drittel mehr Gehalt auf besonders gefragten Positionen überraschen mich angesichts des Fachkräftemangels überhaupt nicht“, sagt Sebastian Pacher, Berater und Vergütungsexperte bei Kienbaum. Solange das Angebot an Fachkräften weiter knapp bleibe, würden die Löhne in Engpassberufen weiter wachsen. „Das ist einfache Marktlogik.“
Fakt ist: Schon jetzt übersteigt das Angebot an Jobs auf Stellenbörsen die Nachfrage durch Bewerber. Auf Stepstone etwa stieg – Stand Februar – die Zahl der Jobausschreibungen seit der Coronapandemie um 103 Prozent, im gleichen Zeitraum kletterte die Zahl der Jobsuchen jedoch lediglich um 36 Prozent.
Gehaltsexpertin: Jobwechsel als größter Hebel für mehr Gehalt
Gleichzeitig sind viele Fachkräfte wechselwillig oder testen derzeit ihre Chancen bei anderen Arbeitgebern, wie Studien immer wieder zeigen. Durch die Pandemie und Homeoffice lassen sich virtuell per Video deutlich mehr Bewerbungsgespräche in kurzer Zeit machen als früher noch. „Dort klopfen Kandidaten dann natürlich auch ihre Gehaltsforderungen ab“, sagt Pacher, der „deutlich selbstbewusstere Forderungen“ auf Kandidatenseite beobachtet.
„Wenn die Leute bei ihrem Arbeitgeber schon einen Fuß aus der Tür gehalten haben, folgt in der Regel schnell der zweite“, weiß auch Gehaltstrainerin Claudia Kimich. Sie sieht gerade Jobwechsel von Top-Qualifizierten als größten Hebel für mehr Gehalt. Kimich berichtet von einer ihrer Klientinnen im Vertriebsbereich, die ihr Gehalt binnen zwei Jahren durch zwei Jobwechsel um 75 Prozent steigern konnte und mittlerweile knapp sechsstellig verdient. „Im ersten Coronasommer lag sie noch bei 56.000 Euro Jahresgehalt.“
Wächst die Gehaltsblase weiter, könnte sich das mittelfristig auch auf die Gesamtwirtschaft auswirken: „Der Überbietungswettbewerb bei den Löhnen verteuert die produzierten Güter und Dienstleistungen“, so Hüther. Die Folge wäre eine sinkende Nachfrage nach deutschen Produkten, gerade im Export.
Entscheidend ist jetzt die Entwicklung der Tarifgehälter. Im Herbst stehen die beiden größten Tarifrunden überhaupt an. In der Metall- und Elektroindustrie und im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen geht es dann um die Gehälter von gut sieben Millionen Beschäftigten. „Die Tarifrunde ist dieses Jahr besonders schwierig, weil die stark gestiegenen Energie- und Rohstoffpreise sowohl die Firmen als auch die Arbeitnehmer belasten und den Wohlstand in Deutschland insgesamt senken, aber auch wegen der hohen Unsicherheit über die weitere Entwicklung“, sagt Fuest.
Erste Gewerkschaften haben schon angedeutet, dass höhere Preise an Tankstellen, im Supermarkt oder fürs Heizen deutliche Lohnerhöhungen für Beschäftigte zur Folge haben müssten. Bei der gerade erst abgeschlossenen Tarifrunde in der Chemie- und Pharmabranche zeigten sich die Arbeitnehmervertreter jedoch angesichts des Ukrainekriegs kompromissbereit. So einigten sich die Tarifparteien vergangene Woche auf eine sogenannte „Krisen-Brücke“. Diese sieht Einmalzahlungen in Höhe von 1400 Euro vor. Im Herbst werde weiter über dauerhafte Lohnsteigerungen verhandelt. Fuest hält das für das richtige Signal.
Aus Sicht von Experten müssten Arbeitgeber vor allem stärker darauf achten, ihre besten Mitarbeiter zu halten, um große Gehaltssprünge zu vermeiden. So zeigen Studien des Stanford-Ökonomen Nicholas Bloom etwa, dass zwei Tage Homeoffice als Zusatzleistung etwa gleichzusetzen sind mit einer Gehaltserhöhung von sieben bis acht Prozent.
Andere Unternehmen behelfen sich mit Bleibegesprächen oder Mitarbeiterbeteiligungsprogrammen. „Es geht Bewerbern nicht immer nur ums Gehalt“, ordnet Frank Hensgens, Chef der Online-Jobbörse Indeed, ein. Unternehmen müssten deshalb verstärkt über Alternativen zur klassischen Gehaltserhöhung nachdenken – „gerade jetzt“.
