Von Knöpfen und Köpfen: Wie sich die Welt öffnen und gestalten lässt
Das Kleine im Großen
Knöpfe sind in der Regel unauffällig – häufig bemerkt man sie erst, wenn sie fehlen. Für die meisten Menschen sind sie lediglich Mittel zum Zweck, unauffällige Schnittstellen, die Kleidungsstücke zusammenhalten. Im Digitalisierungszeitalter, in dem die Bedeutung des Analogen immer mehr verschwindet, sind sie für einige Menschen zu begehrten Kunstwerken geworden, beispielsweise Knöpfe aus vergangenen Chanel-Kollektionen. Knopfmanufakturen der Pariser haute Couture stecken sehr viel Arbeit und Sorgfalt in Designs und in kleinste Details. Es braucht ein Dutzend Arbeitsschritte, bis die Knöpfe fertig sind. Knöpfe spiegeln den Zeitgeist wider und haben eine enorme Symbolkraft: So werden Menschen als „aufgeknöpft“ oder „zugeknöpft“ bezeichnet, wenn sie anderen gegenüber aufgeschlossen oder distanziert sind.
Wer das Kleine in seinem Denken und Tun vernachlässigt und geringschätzt, wird es auch im Großen zu nichts Nachhaltigem bringen. Die Klugen verbinden das Kleine, das buchstäblich begriffen und verändert werden kann, auch mit dem Anfang, der trennt, verbindet und im Dazwischen liegt. Wenn sich in Büchern und Filmen Knöpfe öffnen, tut sich eine große Fantasiewelt auf. Der Schlagersänger Bata Illic besang 1976, wohin das Ganze führen wird: „Ich möcht' der Knopf an deiner Bluse sein“. Aber auch die hohe Kunst setzt auf dieses kleine Detail. So schreibt Goethe in seinen „Maximen und Reflexionen“: „Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zu Rande.“ Mit seinem Reisemantel, einem knielangen „Carrick“, war der Dichter mehr als 40.000 Kilometer unterwegs. Der Stoff ist aus gerautem Wollgewebe, abgesetzt mit Seidensamt und Seidentaftband und hat vier Knöpfe, die mit Wolltuch bezogen sind.
Das Goethe-Schiller-Denkmal, das 1857 vor dem Deutschen Nationaltheater auf dem Theaterplatz in Weimar eingeweiht wurde, schuf der Dresdner Bildhauer Ernst Rietschel. Dass er den Hofrat Goethe in formellerem Habitus darstellte als den Privatmann Schiller, sorgte einige Jahrzehnte später für Aufsehen: Der offene Knopf an Schillers Weste habe einen wahren Wettstreit der Epigonen erzeugt. Die jüngeren Schiller-Denkmäler hätten als Ziel vor Augen, "einander in der saloppen Darstellung seiner äußeren Erscheinung zu überbieten". Rietschel hat diese Tendenz vermutlich vorhergesehen. Das entdeckten Restauratoren allerdings erst viel später: Denn auch bei Goethe sind am rechten Hosenbein der Kniebundhose und an der Weste unter der Hand mit dem Lorbeer - zwei Knöpfe offen. Die Nahtstellen an den Armen und Köpfen sind jedoch nur für den Fachmann zu erkennen, auf den Laien wirken sie im Griff nach dem Lorbeer untrennbar vereint.
Auch die „Gorgonenknöpfe“ sind mit Goethe verbunden: Sie sind mit Köpfen von Satyrn bzw. Gorgonen (in der griechischen Sage weibliche geflügelte Schreckgestalten mit Schlangenhaaren, bei deren Anblick der Mensch vor Entsetzen versteinerte) verziert und werden als Auszeichnung jeweils von Schauspieler zu Schauspieler weitergegeben (in der Regel nicht zu Lebzeiten des Trägers. Die beiden Satyr-Knöpfe (Gorgonenknöpfe) stammen angeblich vom Rock Goethes. Von Goethe erhielt August Wilhelm Iffland die Knöpfe, später Ernst von Possart. Dessen Erben übergaben sie 1923 an Werner Krauß, wie dieser in einem Brief an Gustaf Gründgens vom 22. Dezember 1938 vermerkt. Hier drückt Krauß auch seinen Wunsch aus, Gründgens die Knöpfe zu vermachen. Angeblich ließ sich Gründgens Manschettenknöpfe daraus anfertigen. Da er keinen Nachfolger bestimmt hat, befragte zu Gründgens 100. Geburtstag der Regisseur Imo Moszkowicz, der Regieassistent bei ihm war, Mitglieder des ehemaligen Preußischen Staatsschauspiels in Berlin, um einen neuen Träger zu bestimmen. Die Wahl fiel auf Martin Benrath, den Gründgens 1953 nach Düsseldorf engagierte. Benrath starb etwa einen Monat, nachdem er die Knöpfe erhalten hatte. Kurz vor seinem Tod gab er die Knöpfe an die Schauspielerin Sunnyi Melles weiter, die ihn seit dem Jahr 2000 im Tresor bewahrt.
Der chilenische Dichter und Literaturnobelpreisträger Pablo Neruda widmete sich den Knöpfen in seiner „Ode an die Dinge“:
„Ich liebe / alle / Dinge, / nicht weil sie / brennen / oder / duften, / sondern / ich weiß nicht warum, / weil / dieser Ozean dir gehört, / mit gehört: / Die Knöpfe (!), / die Räder, / die kleinen / vergessenen / Schätze…“
Steigendes Interesse an analogen Nischenprodukten im Onlinezeitalter
Knöpfe stabilisieren, sind Produkte des Übergangs und spielen für viele Menschen deshalb eine Rolle, weil sie Komplexität reduzieren, handhabbar und praktisch sind. So ist es auch kein Wunder, dass Nischensortimente heute boomen und kleine Läden (vor allem in der Großstadt) neu betrachtet werden. Dazu gehört auch der Knopferlmayer in Salzburg bei der berühmten Getreidegasse. Der Familienbetrieb in achter Generation wurde 1758 gegründet. Im Knopf-Universum findet sich eine Auswahl von 3500 Knopfmodellen. Diesen ausgefallenen Fundort beschreibt Hans Magnus Enzensberger auch in seinem Buch „Eine Experten-Revue in 89 Nummern“: „Kein Museum kann mit der Firma Knopferlmayer konkurrieren, solange hie und da die Türklingel ertönt und jemand eintritt, der genau weiß, was er will. das sind Kunden, die den Überfluß schätzen, dem Überflüssigen aber aus dem weg gehen.“
Den Nerv der Zeit treffen vor allem bei der jungen Generation auch Öko-Knöpfe, die aus biologisch abbaubarem Material bestehen und unterschiedliche Oberflächen haben, z.B. Steinnuss-, Perlmutt- oder Lederoptik. Ökoversender wie die memo AG bieten im Onlineshop für Privatkunden memolife unter anderem Produkte wie einen MELAWEAR Damen-Cardigan mit Kokosnuss-Knöpfen auch mit veganer Qualität an. Die Zusammensetzung der Polymere sind Cellulose, Lignin, Harze und Wachse aus pflanzlichem Ursprung. Sie ermöglicht den natürlichen Abbau des Materials in der Erde: Es zersetzt sich innerhalb weniger Wochen ohne dass Giftstoffe oder gesundheitsschädliche Elemente freigesetzt werden. Produkte aus gewebter Bio-Baumwolle werden oft mit Kokosnuss-Knöpfen angeboten. Hintergrundinformationen sind u.a. auf Nachhaltigkeitsportalen wie Utopia oder memolife zu finden.
Das Thema Knöpfe offenbart zugleich das große Feld der Globalisierung und den damit verbundenen Problemen im Kleinen: So werden bei Kleidungsstücken, die außerhalb der EU produziert werden, häufig aggressive Mittel eingesetzt. Knöpfe und Reißverschlüsse sind oft aus Metallen und Stoffen hergestellt, die so genannte Kontaktallergien hervorrufen können. Sie manifestiert sich durch Symptome wie Juckreiz, Ausschläge und Rötungen der Haut bis hin zu chronischen Ekzemen. Viele Menschen reagieren allergisch auf ihren Jeansknopf, wenn beispielsweise eine Nickelallergie vorliegt. Nicht immer ist jedes Material für Knöpfe auf den Etiketten der Bekleidungsstücke vermerkt. Das gilt vor allem bei Billigkleidung. Deshalb empfiehlt es sich, bei ökologischen Anbietern oder Modehäusern einzukaufen, die auf die Einhaltung von Nachhaltigkeitsstandards achten.
Greifbares Philosophie
Alles hängt heute mit allem zusammen – am Beispiel des Knopfes bündelt sich das Große im Kleinen, ja er ist nicht nur (nachhaltiger) „Öffner“ zu etwas hin, sondern auch Haltepunkt in einer instabilen und komplexen Welt. In seinem Buch „Verlegene Vernunft“ entfaltet der Philosoph und Psychologe Gerhard Gamm anhand von alltäglichem Verhalten wie Anfangen und Verständigen, Verantworten und Vertrauen, Ignorieren und Verdrängen eine Philosophie der sozialen Welt. Praxis heißt für ihn, im Gebrauch sein. Auch plädiert er für Anfänge, die beleben und durch ihre Unbestimmtheit und ihre (begreifliche) Unbegreiflichkeit begeistern. Darin steckt das Geheimnis ihrer Größe. Vom Knopf wird hier zwar nicht gesprochen, doch es ist vielleicht kein Zufall, dass sich Knopf auf Kopf reimt.
Richtig Denken bedeutet heute, Urteilskraft zu besitzen, in der Lage zu sein, sich einen Überblick zu verschaffen und aus der „unübersichtlichen Vielfalt der Aspekte eine prägnante Wahrnehmung zeitüberdauernder Entwicklungspfade zu formen“, so der Wissenschaftler. Der Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten, die Übertragung des Lokalen ins Globale verlangt - wie bei der Handhabung mit Knöpfen – „eine gewisse Kunstfertigkeit“.
Weitere Informationen:
CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag. Berlin, Heidelberg 2017.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Hans Magnus Enzensberger: Eine Experten-Revue in 89 Nummern. Mit einem Dialog zwischen der Natur und einem Unzufriedenen: vom Dämon der Arbeitsteilung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
Gerhard Gamm: Verlegene Vernunft. Eine Philosophie der sozialen Welt. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2017.
Anne Goebel: Monokultur. In: Süddeutsche Zeitung (8./9.10.6.2019), S. 58.
Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen. Aphorismen und Aufzeichnungen. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs hg. von Max Hecker, Verlag der Goethe-Gesellschaft, Weimar 1907.