Wachstumsschwäche in Deutschland – So ist die Lage in wichtigen Branchen
Geringe Kaufkraft, fehlende Aufträge: Schlüsselindustrien fürchten eine weitere Verschlechterung der Konjunktur. Nur in einer Branche läuft es besser.
Wien, Düsseldorf. Deutschland leidet unter einer anhaltenden Wachstumsschwäche. Die Aussichten in den wichtigsten Branchen sind eingetrübt: Viele Menschen fahren ihr altes Auto länger, statt ein neues zu kaufen. Weil Verbraucherinnen und Verbraucher wegen hoher Kosten sparen müssen, machen Hersteller und Händler weniger Gewinn – oder gehen gleich pleite. Auch Maschinenbauer klagen mittlerweile über fehlende Aufträge.
Die Chemiebranche, die als Frühindikator für die Konjunktur gilt, geht davon aus, dass die Umsätze in diesem Jahr um 14 Prozent sinken. Das ist ein schlechtes Zeichen für die deutsche Wirtschaft, die im zweiten Quartal stagnierte, wie das Statistische Bundesamt am Freitag in einer ersten Schätzung mitteilte. Einige Konjunkturforscher erwarten inzwischen, dass das Bruttoinlandsprodukt im Gesamtjahr 2023 zurückgehen wird.
Das Handelsblatt gibt einen Überblick, wie die Lage in Deutschlands Schlüsselbranchen ist.
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Auto: Fahrzeughersteller steuern auf Überkapazitäten zu
Die Lage in Deutschlands wichtigster Industrie ist trügerisch. Das erste Halbjahr verlief für Autobauer wie Volkswagen und Mercedes-Benz gut, Absatz und Umsatz legten kräftig zu.
Dennoch blickt die Branche beunruhigt nach vorn. VW musste seine ambitionierte Prognose, dieses Jahr 9,5 Millionen Fahrzeuge weltweit zu verkaufen, am Donnerstag wieder einkassieren. Auch Mercedes-Chef Ola Källenius warnte kürzlich im Handelsblatt-Interview davor, dass das Umfeld härter werde. „Die Zentralbanken erhöhen die Zinsen, die Weltwirtschaft kühlt ab.“
Die hohe Inflation, gepaart mit steigenden Finanzierungskosten, dämpfen die Kauflaune. Viele Verbraucher fahren ihr aktuelles Auto lieber länger, als einen Neuwagen zu erwerben oder zu leasen. Vielerorts brechen die Aufträge ein, besonders bei batterieelektrischen Fahrzeugen. In Deutschland liegt die Nachfrage nach Stromern aktuell um mehr als ein Drittel unter der im Vorjahr.
Die kommenden Quartale würden auf „breiter Front sehr herausfordernd“, warnt daher der Branchenverband VDA. Erschwert wird die Lage dadurch, dass Autos keine Mangelware mehr sind. Die Engpässe bei Halbleitern und Kabelbäumen, die die Industrie in den Vorjahren gebremst hatten, haben sich aufgelöst.
Sobald der Auftragsberg aus den Vorjahren abgearbeitet ist, steuert die Industrie wieder auf Überkapazitäten zu. „Wir erwarten in den kommenden Quartalen geringere Margen bei allen Autobauern“, prognostizieren die Analysten der Investmentbank UBS.
Chemie: Sinkende Gewinne sind schlechte Vorboten für die Gesamtwirtschaft
Die Chemieindustrie schwächelt: BASF, Evonik und Lanxess mussten ihre Ziele für das Jahr schon zusammenstreichen und haben Gewinnwarnungen herausgegeben. „Wir sind der erste Dominostein, der wackelt“, sagt Markus Steilemann, Präsident des Branchenverbands VCI und Chef des Kunststoffherstellers Covestro. „Wenn es uns am Anfang der Wertschöpfungskette schlecht geht, trifft es bald auch andere.“
Die Nachfrage nach Produkten der Chemieindustrie ist derzeit gering – was viel über die gesamtwirtschaftliche Lage aussagt. 95 Prozent aller Industrieerzeugnisse basieren auf Basischemikalien. Viele Kunden der Chemiefirmen haben hohe Lagerbestände und benötigen vorerst keine neuen Produkte. Das liegt daran, dass sie weniger produziert haben als ursprünglich geplant.
Die Umsätze der Chemiefirmen sanken im ersten Halbjahr laut VCI um 11,5 Prozent. „Die Zahlen für das erste Halbjahr sind rot und die Produktionskosten am Standort Deutschland nicht wettbewerbsfähig“, kritisiert Steilemann. In einer Mitgliederumfrage des Branchenverbands klagen fast zwei Drittel der Chemieunternehmen über Gewinnrückgänge oder Verluste.
Die Industrie hatte vor allem auf Erholung in China gesetzt. Die Volksrepublik macht 45 Prozent der globalen Nachfrage nach chemischen Produkten aus. Doch auch hier kämpfen die Unternehmen weiter mit schwacher Nachfrage, vor allem, weil die Bauindustrie schwächelt.
Auch das restliche Jahr dürfte für die Chemieindustrie schwierig werden: „Wir erwarten nur eine zaghafte Erholung, da wir davon ausgehen, dass die weltweite Nachfrage nach Konsumgütern schwächer wachsen wird als bisher angenommen“, sagte BASF-Chef Brudermüller am Freitag. Der VCI prognostiziert, dass die Umsätze der chemisch-pharmazeutischen Industrie 2023 um 14 Prozent sinken, die Produktion um acht Prozent.
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Handel: Konsumzurückhaltung bremst die Geschäfte – und sorgt für Pleiten
Der Handelsverband Deutschland (HDE) schlägt Alarm: In den kommenden Monaten sei mit einer anhaltenden Schwäche des privaten Konsums zu rechnen. Nach etwas Erholung habe sich die Stimmung der Verbraucher im Juli wieder verschlechtert.
In einer Verbandsumfrage unter 900 Unternehmen gaben 35 Prozent an, dass sie im zweiten Halbjahr mit Umsatzrückgängen rechnen. Im Schnitt erwartet der HDE ein reales Minus von vier Prozent. „Insbesondere die nach wie vor hohe Inflation sorgt dafür, dass die Branche nicht richtig ins Laufen kommt“, so HDE-Präsident Alexander von Preen.
Bereits im ersten Halbjahr war das Geschäft der Einzelhändler rückläufig. Wie das Statistische Bundesamt am Montag meldete, sanken die inflationsbereinigten Umsätze um 4,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Wie sehr die Verbraucher auf die Preise achten, zeigt sich im Lebensmittelhandel, wo sich die Marktanteile immer weiter von Supermärkten zu Discountern verschieben. Auch greifen Kunden verstärkt zu preisgünstigen Eigenmarken statt zu teureren Markenartikeln. Deren Hersteller geraten dadurch unter Druck.
Noch härter trifft es Branchen, die Produkte verkaufen, die Verbraucher nicht zwingend zum Leben brauchen – etwa Mode, Möbel oder Elektrogeräte. Hier verschieben viele Kunden den Kauf oder verzichten gleich ganz. Hinzu kommt, dass viele Menschen während der Pandemie langfristige Anschaffungen vorgezogen hatten. Weil Reisen und Restaurantbesuche ausfielen, war das Budget damals höher.
Die Lage der Branche zeigt sich am Onlinemodehändler About You. Zu Jahresbeginn wuchs dessen Umsatz nur marginal, im Geschäftsjahr 2022/23 hatte das Plus noch zehn Prozent betragen. „Unsere Ergebnisse spiegeln die makroökonomischen Herausforderungen wider“, erklärte Firmenchef Tarek Müller.
Mitunter sind die Folgen noch drastischer: Mehr als 40 Modehändler haben dieses Jahr in Deutschland bereits Insolvenz angemeldet, darunter bekannte Namen wie Hallhuber, Gerry Weber oder Peek & Cloppenburg. Zuletzt traf es die Modekette Zapata – zum dritten Mal in acht Jahren.
Maschinenbau und Elektroindustrie: Bestellungen nehmen ab
Auch in anderen Teilen der Wirtschaft stockt das Geschäft: Im Maschinenbau sanken die Auftragseingänge im Mai um zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr. „Der Abwärtstrend der vergangenen Monate hat sich fortgesetzt“, sagt Ralph Wiechers, Chefvolkswirt des Branchenverbands VDMA.
57 Prozent der Firmen gaben in einer Befragung des Verbands an, dass ihr Auftragsbestand geringfügig oder sogar stark abgenommen hat. Unternehmen würden im Augenblick noch von den Ordern aus den Vormonaten leben, „aber die werden jetzt aufgebraucht“, so Wiechers.
Wegen der Folgen von Pandemie, Ukrainekrieg und Handelskonflikten wisse man nicht, wo man im Konjunkturzyklus stehe. Wiechers rechnet aber für das kommende Jahr mit einer Wende. „Gemessen am aktuellen Niveau müsste dann ein Aufschwung anstehen.“
In der Elektroindustrie ist die Lage trotz wirtschaftlicher Probleme positiver. Die Exporte stiegen im Mai 2023 laut Branchenverband ZVEI um 6,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die Pandemie habe die Unternehmen nicht so stark getroffen wie andere, erklärt Jürgen Polzin, Konjunkturexperte des Verbands. „Die Erholung in den Jahren 2021 und 2022 war kräftig – vor allem bei Produktion, Umsatz, Export und Beschäftigung.“
Der Gesamtumsatz der heimischen Elektroindustrie belief sich im Mai auf 19,7 Milliarden Euro, 8,1 Prozent mehr als im Vorjahr. Der Auftragsbestand ist weiter hoch, allerdings sanken zuletzt auch hier die Bestellungen. Insgesamt sei eine Abflachung der Dynamik erkennbar, so Polzin – bislang aber kein Rückgang.
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