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Im schlimmsten Fall droht Firmen die Pleite, weil kein Geld mehr nachkommt. - (Foto: Hero Images/Getty Images)
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Wagniskapitalgeber drehen Tech-Start-ups den Geldhahn zu

Seit 2022 müssen viele Gründer in der bis dato erfolgsverwöhnten US-Tech-Branche um neue Finanzmittel kämpfen. Experten halten das für heilsam.

New York. Die Entlassungswelle bei US-Start-ups ist in vollem Gang. Rund 74.000 Mitarbeiter bei 560 Start-ups mussten in den vergangenen Monaten gehen, wie Daten des Branchendienstes Layoffs.fyi zeigen. Gerade in den Monaten Mai, Juni und Juli haben die Stellenstreichungen deutlich zugenommen. Es ist die größte Entlassungswelle seit dem Platzen der Dotcom-Blase.

„Es hat sich etwas verändert am Markt. Bis zum letzten Jahr hat praktisch jeder Gründer mit einer halbgaren Idee Geld von Risikokapitalgebern bekommen. Das ist in vielen Bereichen vorbei“, sagt Daniel Barke, Gründer des Personalvermittlungs-Start-ups Workgenius aus New York.

Auch der einstige Starinvestor Masayoshi Son, CEO von Softbank, stimmt zurückhaltende Töne an. Er gehe von einer langen Eiszeit aus, sagte er nach der Veröffentlichung der tiefroten Quartalszahlen. Einst hat er selbst mit seinem 100 Milliarden Dollar schweren Vision Fund die Bewertungen von Start-ups wie Wework und Uber in die Höhe getrieben. Nun müssten sie jedoch „noch viel weiter sinken, als es viele gern wahrhaben wollen“.

Doch das heißt nicht, dass gar nichts läuft in der einst so erfolgsverwöhnten Welt der schnell wachsenden Technologiefirmen.

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Das Handelsblatt hat vier besonders heiß gehandelte Sparten der US-Tech-Branche unter die Lupe genommen. Bei allen zeigt sich: Das Wagniskapital fließt deutlich langsamer als in den Vorjahren. Manche Start-ups kämpfen schon um die Existenz. Aber Beobachter begrüßen eine neue Ernsthaftigkeit.

1. Beispiel: Mobilität

Spätestens seit dem Aufstieg des Elektroautoherstellers Tesla ist die US-Mobilitätsbranche eine der am heißesten gehandelten Sparten der Tech-Welt. Start-ups für Batterie-, Sensor- und neue Mobilitätslösungen erlebten einen Gründungsboom. Doch 2022 muss die Branche kämpfen, wie eine Auswertung des Analysehauses Pitchbook zeigt.

613 Deals mit Venture-Capital (VC) zählten die Analysten im ersten Halbjahr 2022, nach 1736 im Gesamtjahr 2021. Heißt: Selbst wenn das Dealtempo im zweiten Halbjahr noch einmal zulegen sollte, sind die Zahlen früherer Jahre kaum mehr erreichbar. Ähnliches gilt für das Dealvolumen. Und gab es im Gesamtjahr 2021 noch 182 Exits, lag die Zahl im ersten Halbjahr 2022 bei 67. Erzielten Risikokapitalgeber bei Börsengängen 2021 noch 280 Milliarden Dollar an Einnahmen, wurden im ersten Halbjahr 2022 nur noch kümmerliche 23 Milliarden Dollar erlöst.

„Im zweiten Quartal 2022 kühlten sich die VC-Aktivitäten in der Mobilitätsbranche weiter ab, da die wirtschaftliche Unsicherheit und die Volatilität der Aktienmärkte zunahmen“, schreiben die Analysten. Und selbst wenn man herausrechne, dass 2021 ein außergewöhnlich gutes Jahr für VC-Deals war, lägen die aktuellen Zahlen ein Drittel unter dem Fünf-Jahres-Durchschnitt.

Aufmerksam registriert wurde, wie prominent sogar die börsennotierten E-Auto-Start-ups Rivian, Nikola und Lucid zuletzt darauf verwiesen, durchfinanziert zu sein. „Rivian und Co. müssen betonen, genug Cash zu halten“, sagt Christian Koenig. Der Autoexperte hat für Porsche in Nordamerika gearbeitet und führt in Atlanta eine Beratung für Elektromobilität. „Es ist mehr Sensibilität und Zurückhaltung im Tech-Markt. Die Inflation ist seit geraumer Zeit hoch. Die Verbraucher halten sich bei Käufen zurück. Daher sinken die Börsenbewertungen.“

Das wirke auch auf die Start-ups zurück, die auf VC-Kapital angewiesen sind, ergänzt Gründer Barke. „Wenn schon die börsennotierten Unternehmen einer Branche Federn lassen müssen, dann wird das Marktumfeld für Start-ups, die auf VC-Gelder angewiesen sind, noch schwieriger.“

2. Beispiel: Biotechnologie

Eine andere Branche, die in den vergangenen Jahren einen starken Hype erfuhr, ist die Biotech-Welt. In der Covidpandemie wuchsen neue Spieler zu Branchenriesen, etwa Biontech mit einem Umsatz von zuletzt 19 Milliarden Dollar. Und doch brach der Biontech-Aktienkurs 2022 um 36 Prozent ein.

Noch 2021 nahmen Biotech-Start-ups weltweit 34 Milliarden Dollar ein, doppelt so viel wie 2020. Im ersten Halbjahr 2021 gab es allein in den USA 61 Biotech-Börsengänge, wie das Magazin „Economist“ notierte. Doch 2022 kam der Einbruch: In der ersten Jahreshälfte gab es nur 14 US-Biotech-Börsengänge. Und keines der 24 Start-ups, die laut der Silicon Valley Bank dieses Jahr an die Börsen gehen sollten, hat bisher den IPO geschafft.

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Risikokapitalhäuser haben in den letzten drei Jahren über 100 Milliarden Dollar für Investitionen in Life-Sciences-Unternehmen ausgegeben, schätzt der Vermögensverwalter Abingworth. Doch nun fließe das VC-Geld spärlicher. Die Folge: Viele Firmen bauen Personal ab – und die Bewertungen sinken.

Der Biontech-Aktienkurs brach 2022 um 36 Prozent ein. - (Foto: dpa)
Der Biontech-Aktienkurs brach 2022 um 36 Prozent ein. - (Foto: dpa)

war gelte die Gesundheitsbranche als recht immun gegenüber wirtschaftlichen Schwankungen, sagt Pitchbook-Analystin Rebecca Springer. Schließlich seien die Entwicklungszyklen lang, und staatliche Forschungsmittel flössen verlässlich. Aber: „Bei der Dealaktivität folgt der Bereich anderen Sektoren.“ Auf der VC-Seite registriert Springer 2022 ein deutliches Abflauen der Finanzmittel. Die Firmen Olive und Bright Health seien etwa bereits in Schwierigkeiten.

Die Branche werde 2022 keine „frenetisch bejubelten Deals mit Mondbewertungen“ mehr sehen, glaubt Springer. Gleichzeitig ist die Analystin überzeugt, dass sich die Aktivität 2023 wieder normalisieren dürfte. „Risikokapitalgeber halten ihr Pulver trocken. Einen noch stärkeren Einbruch erwarten wir nicht.“ Aktuell könnten die gesunkenen Bewertungen sogar gute Kaufgelegenheiten für große Pharmakonzerne bedeuten.

3. Beispiel: Fintech

Im vergangenen Jahr waren Finanztechnologie-Start-ups die großen Stars. Sie zogen weltweit die größte Menge an Risikokapital an, 131,5 Milliarden Dollar, wie CB Insights errechnet hat. Nun jedoch halten sie einen anderen Rekord: Fintechs haben mehr Mitarbeiter entlassen als andere Start-ups.

Eine ganze Reihe von Faktoren bereitet Geldgebern Sorgen. „Fintechs, die Geld verleihen, müssen nun zeigen, dass ihre Kreditmodelle in einer Krise bestehen können“, gibt Dan Allred von der Silicon Valley Bank zu bedenken.

Steigende Zinsen und die Angst vor einer Rezession haben besonders die „Buy now, pay later“-Start-ups hart getroffen, die Ratenzahlungen anbieten. So war Affirm zu den besten Zeiten rund 50 Milliarden Dollar wert, mehr als doppelt so viel wie die Deutsche Bank.

Heute ist der Kurs gut 80 Prozent vom Allzeithoch entfernt. Das macht auch Druck auf die Start-ups kurz vor dem Börsengang. Bestes Beispiel ist das schwedische Fintech Klarna, dessen Bewertung bei der jüngsten Finanzierungsrunde um 85 Prozent eingebrochen ist.

„Es ist gar nicht so leicht festzustellen, was heute als normal gilt, weil das vergangene Jahr so heiß gelaufen war“, gibt Allred zu bedenken. Eine Neuanpassung der Bewertungen sei im Gang, doch könnte es gerade bei Fintechs noch eine Weile dauern. Denn anders als Klarna haben viele andere Start-ups noch ausreichend Barreserven. Um sicherzustellen, dass diese möglichst lange halten, haben viele Start-ups Sparrunden angekündigt und Mitarbeiter entlassen. „Sie interessieren sich auch zunehmend für Kreditfinanzierungen, statt neues Risikokapital zu geringeren Bewertungen aufzunehmen.“

Das soll jedoch nicht heißen, dass sich Risikokapitalgeber komplett abwenden: Geldgeber würden sich derzeit vermehrt Start-ups anschauen, die die Kreditvergabe einfacher machen, so Allred. Das gelte für Konsumenten- wie Unternehmenskredite. „Gerade wenn die Zinsen weiter steigen, könnte dieser Bereich sehr lukrativ sein.“

4. Beispiel: Krypto

Investments in Kryptofirmen gingen im ersten Halbjahr um 26 Prozent zurück, wie aus Daten des Analysehauses Crunchbase hervorgeht. Sie beliefen sich auf 9,3 Milliarden Dollar. Die ersten sechs Monate waren in der Kryptowelt besonders turbulent. Der Zusammenbruch des algorithmischen Stablecoins Terra USA sowie die Pleite des Hedgefonds Three Arrows sorgten für heftige Verluste und zogen eine Pleitewelle bei Kryptoplattformen wie Celsius nach sich.

Risikokapitalgeber scheinen dennoch nicht komplett abgeschreckt von dem Feld, das zuletzt ins Visier der Regulierungsbehörden geriet. Im zweiten Quartal investierten sie gut 4,2 Milliarden Dollar, was in etwa auf Vorjahresniveau lag und etwa eine Milliarde niedriger als in den ersten drei Monaten des Jahres.

Der Investor Andreessen Horowitz legte im Mai trotz der Turbulenzen einen neuen Fonds auf, der sich auf Start-ups im Bereich Krypto und „Web 3“ fokussiert. Web 3 ist ein Oberbegriff, bei dem es um digitale Welten geht, in denen häufig mit Token bezahlt wird. Dennoch erwartet Allred, dass die Konsolidierungsphase der etablierten Unternehmen anhält.

Denn Übertreibungen am VC-Markt waren zuletzt keine Seltenheit – wie im Fall des umstrittenen Wework-Gründers Adam Neumann. Er hatte zuletzt 350 Millionen Dollar für Anteile an seinem Start-up Flow erhalten, das noch gar kein Produkt vorwies.

Manche Experten sehen daher einen heilsamen Effekt der Durststrecke. „Geschäftsmodelle, die profitabel sind oder einen klaren Weg zur Profitabilität aufweisen, sind für VC-Geber wesentlich attraktiver geworden“, glaubt Gründer Barke. „Davon profitieren letztlich alle Gründer, die eine fundierte Strategie besitzen.“

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