Warum bürokratische Organisationen jetzt durchgelüftet werden müssen
„Man sollte alle Orte meiden, denen es an Durchzug fehlt." (Roland Schimmelpfennig)
In letzter Zeit sprechen Führungskräfte immer wieder von der Dringlichkeit, ihre Institutionen durchzulüften und betonen mehr Transparenz und keine Abschottung zu wollen: Fenster und Türen sollten geöffnet werden, um frische Luft hereinzulassen. Alle Organisationen, die sich jahrelang nicht verändern mussten, weil das System ja immer funktioniert hat, stehen vor einer enormen Herausforderung. Sie müssen den Sprung ins Digitalisierungszeitalter schaffen, weil sie sonst im Zeitalter der Gleichzeitigkeit auf der Strecke bleiben. Die symbolische Öffnung des Fensters steht für das Hereinlassen und Durchziehen der Welt - und weckt die Hoffnung auf eine andere Zukunft mit frischem Wind.
Durchlüften hilft, wenn innen die Organisationshygiene stimmt
Eine Organisationskultur lässt sich nicht von heute auf morgen verändern. Zugleich haben vor allem Großorganisationen feste Strukturen, die der Dynamik naturgemäß entgegenstehen. Um sich einem immer schneller verändernden Umfeld anzupassen, braucht es eine nachhaltige Symbiose zwischen Ordnung und kreativer Zerstörung. Um mit den Entwicklungen Schritt zu halten, wäre eine integrale Sicht (Helikopterperspektive) vonnöten, weil nur dadurch Einzelergebnisse und Betrachtungen zugeordnet werden können, ohne das Ganze aus dem Blick zu verlieren.
Gewiss sind offene Bücher eine notwendige Voraussetzung für die Transparenz einer Organisation. Doch was ist mit den alten Verhaltensmustern, Gewohnheiten und Normen, die das Wesen Tayloristischer Systeme prägen? Hier hat sich eine hinderliche Überregulierung eingeschlichen, die sich in umständlichen bürokratischen Abläufen, Gewohnheiten und Anforderungen zeigt (hierarchisches internes Berichtswesen, Kommissionen und Ausschüsse, Funktionen und Zuständigkeiten dominieren Inhalte und Aufgaben).
Es ist vielfach erwiesen, dass sich Menschen systemkonform („schwarmdumm") verhalten, wenn das System falsch ist.
Da Organisationen jedoch „menschengemacht" sind, gibt es Hoffnung, dass sie auch verändert werden und an die Gegenwart angepasst werden können. Der US-amerikanische Ethnologe David Graeber zeigt in seinem Buch „Bürokratie", dass bürokratische Institutionen stets eine Kultur der „Komplizenschaft“ hervorbringen, die selten neutral sind. Prof. Alexander Eisenkopf von der Zeppelin Universität in Friedrichshafen sprach im VW-Kontext sogar von „bandenmäßiger Kriminalität". Fast ausnahmslos werden solche Systeme durch bestimmte privilegierte Gruppen dominiert, weil einzelnen Mitgliedern der Verwaltung zu große „persönliche Machtbefugnisse" zugestanden werden. Durch Bürokratie geschaffene Macht führt „zu einer Form institutionalisierter Trägheit".
Es ist bedenklich, dass gerade jene Systeme auf alte Kontrollmechanismen setzen, die ein gravierendes Vertrauensproblem haben. Sie festigen das System der Kontrolle von oben. Auch in anderen bürokratischen Organisationen scheinen sich keine direkt Verantwortlichen zu finden, weil die Verantwortung organisatorisch so aufgestellt ist, dass kaum eine Person persönlich Verantwortung trägt.
Wo solche Systeme herrschen, werden erwachsene Menschen unmündig, weil sie zu reinen Regel- und Anweisungsempfängern werden. Dazu gehört beispielsweise die Genehmigung eines Vorgesetzten bei alltäglichen Entscheidungen. Teure Fehler sind hier häufig mit noch teureren Kontrollsystemen verbunden: noch mehr Regeln, noch mehr Compliance… noch mehr Bürokratiekosten. Lebende Systeme kontrollieren sich in Beziehungsnetzen selbst, wodurch die dezentrale Verantwortung gefördert wird.
Weiterführende Literatur:
David Graeber: Bürokratie. Die Utopie der Regeln. J. G. Cotta‘sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart 2016.
Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.