Warum das analoge Zeichnen im Zeitalter der Digitalisierung nicht verschwinden darf
Hirn braucht Hand
Der innere Zusammenhang zwischen feinmotorischen und intellektuellen Fähigkeiten ist durch zahlreiche Studien belegt. Das gilt nicht nur für das Schreiben, sondern auch für das Zeichnen. Der Journalist und Diplom-Ingenieur Gerhard Matzig wünscht dem Zeichnen eine Renaissance wünscht. Das „lehrt schon der Blick in die Banalität heutiger Architektur, in der man oft nur Nullen und Einsen erkennen kann.“ Ein Genie ist für ihn, wer mit dem Stift verzaubern kann.
Die Zeichnung hatte im Quattocento einen enormen Stellenwert. Ein berühmter Abschnitt in den „Lebensbeschreibungen“ des italienischen Architekten, Hofmalers der Medici und Biographen italienischer Künstler, Giorgio Vasari (1511-1574), zitiert eine altgriechische Weisheit: „Ein fähiger Zeichner, der nur ein einziges Teil eines Ganzen beobachtet, kann sehr wohl Form und Dimension des Ganzen rekonstruieren…“ Nach Vasari ist dies Ausdruck und Nachweis für die geistige Fähigkeit jener, die dem Zeichnen nachgehen. Das hat auch viel mit uns zu tun, denn was wir unbedingt benötigen, ist ein neues digitales Denken, das in der Lage ist, viele Facetten und Perspektiven zu sehen und das große Ganze zu erfassen, aber auch ins Detail zu gehen. Wenn wir nicht in der Lage sind, wie die großen Meister auch im Kleinen ans Werk zu gehen, können wir auch die an uns gestellten Aufgaben nicht verstehen und bewältigen.
Leonardo betonte, dass das Zeichnen zwar eine handwerkliche Tätigkeit, aber dennoch eine intellektuelle Handlung ist: „Aus dieser Kenntnis heraus erschafft der Verstand eine bestimmte Anschauung und ein Urteil über einen Gegenstand und das, was danach mithilfe der Hände ausgedrückt wird, nennen wir Zeichnung.“
Verliert die Handskizzze unter Studenten durch CAD immer mehr an Bedeutung?
Leider ist das Zeichnen mittlerweile fast überall aus den Lehrplänen der Architektur und aus den Büros verschwunden. Gerhard Matzig verweist darauf, dass Architekturstudenten an den Hochschulen, Akademien und Universitäten kaum noch im freien Zeichnen unterrichtet werden. Sie entwerfen meist das, was ihre CAD-Kompetenz hergibt. Das "computer-aided design" unterstützt das rechnerunterstützte Konstruieren nach Norm, aber kaum das freie rechnerunterstützte Denken. CAD gehört zu den Handwerkszeugen, die zur Planung in der Automobilindustrie, im Maschinenbau und auch in der Städteplanung unentbehrlich geworden sind. Durch ihre mit einer CAD-Software entworfenen Modelle erhalten sie mit einem 3D-Drucker eine plastischere und anschaulichere Diskussionsgrundlage als eine Skizze auf dem Papier oder ein zweidimensionales Modell auf dem Computerbildschirm.
„Bleistift gegen KI, Aquarellpapier gegen Bit und Byte - und am Ende stehen sich unfertige Skizze und vollendeter 3-D-Druck gegenüber“, so Matzig, der dafür plädiert, sich mit Menschen zu beschäftigen, „die Papier und Stift lange vor Maus und Rechner zu Bedeutungsträgern machten“: Oscar Niemeyer, Daniel Libeskind und Zaha Hadid. Für Stararchitekt Norman Foster aus London ist die Hölle ein Ort, wo er keinen Bleistift mehr bekäme: „Ich zeichne und schreibe ununterbrochen - in Taxis, im Flugzeug, wo immer ich gerade bin, wenn ich warten muss oder auf der Fahrt."
Kinder sollen Programmieren lernen, heißt es heute immer wieder. Aber auch das Zeichnen sollte nicht vergessen werden, denn gerade dies schult nicht nur ihren aufmerksamen Blick, sondern auch ihre Urteilsfähigkeit. Es gibt derzeit zahlreiche Bemühungen, die der Zeichnung zu einer Renaissance verhelfen. „Der Bleistifthärtegrad 4 B könnte ein Comeback erleben“, so Matzig. Für das Schreiben werden meist mittelharte Modelle der Kategorie HB verwendet. Wer zeichnen will, sollte hingegen Grad-B-Varianten verwenden, da diese weicher sind. Technische Zeichnungen lassen sich mit H-Bleistiften am besten durchführen. Besonders beliebt sind heute Blei- oder Buntstifte, dessen verwendetes Holz aus nachhaltiger Forstwirtschaft stammt und die Lackierungen frei von schädlichen Stoffen sind (memolife).
Auch Verlage reagieren, indem sie verstärkt auf Reprints setzen – beispielsweise auf E. G. Lutz‘ „Wie wir zeichnen, was wir zeichnen“ von 1913. Hier lernen Kinder und Erwachsene durch einfache Schritt-für-Schritt-Anleitungen Tiere, Menschen und Objekte zu zeichnen. Markenzeichen von Lutz’ historischer Zeichenschule ist die Vereinfachung komplexer Formen. Schwierige Figuren werden auf wenige Linien reduziert und nach und nach durch Details ergänzt. Im Band „Zeichnen leicht gemacht“ von 1921 finden sich weitere, bisher unveröffentlichte Zeichenanleitungen von ihm sowie kleine Bewegungsstudien, Hinweise zur Landschaftsmalerei und zeitlose Sätze wie diesen: „Ein weicher Radiergummi, ein kleines Geofreieck, ein Lineal und ein Zirkel mit Bleistiftaufsatz sind auch hilfreich. Diese wenigen Utensilien sind die einfacheren Varianten der präzisen Zeichengeräte, die Erfinder, Ingenieure und Architekten bei der Planung der alltäglichen Dinge verwenden, die wir jeden Tag benutzen: Das Haus, in dem du lebst, das Fahrzeug, in dem du fährst, und die Maschinen, die die vielen Dinge produzieren, die du trägst und verwendest – sie alle wurden mit Hilfe von Zirkel, Lineal und anderen Zeichengeräten entwickelt.“
Weiterführende Informationen:
Mario Taddei, Domenico Laurenza und Edoardo Zanon: Leonardos Maschinen. In der Werkstatt des genialen Erfinders. Theiss Verlag – WBG, Darmstadt 2017.
Gerhard Matzig: Klüger als der Kopf. In: Süddeutsche Zeitung (15./16.2.2020), S. 17.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.