Warum Infografiken in einer von digitalen Datensätzen geprägten Welt so beliebt sind
Datenspuren: Infografiken und wie sie in die Welt kamen
Zunehmende Komplexität und Ungewissheit ist ein Grund für viele lokale und globale Krisen. Was heute als Krise bezeichnet wird, sind „Geburtswehen der Neuen Welt". Diese Übergangsphase nennt der Autor William Bridges das „no-man's-land": das Alte ist nicht mehr, und das Neue ist noch nicht da. Das deckt sich mit der Aussage des Managementvordenkers Fredmund Malik, dass vieles in der Alten Welt nicht mehr funktioniert, weil sie ihrem Ende zugeht, und in der Neuen Welt vieles noch nicht geht, weil es entweder noch nicht richtig da oder noch nicht reif genug ist. Das erzeugt Ängste und Verunsicherung. Alte Methoden sind untauglich geworden. Was damals eine Revolution durch Maschinen war, ist nach Malik eine Revolution durch Organisation. Denn alles steht derzeit auf dem Prüfstand und muss neu überdacht werden: alte Denkmuster, Strukturen, Prozesse und Werte. Zuverlässig Orientierung zu erhalten, ist zu einer großen Herausforderung geworden. Es braucht deshalb Synthesen, Präzision und Klarheit.
Neue Gesellschaftsstrukturen brachten stets auch neue Machtverhältnisse, ein neues Wirtschaften und neue Arbeits- und Lebensformen hervor. Nach der Erfindung der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks befinden wir uns heute in der vierten Medienrevolution der Menschheit. Im aktuellen Transformationsprozess nehmen der Umgang mit Komplexität und das ganzheitliche Denken einen bedeutenden Stellenwert ein. Es reicht deshalb nicht, nur Programmieren zu lernen – wer die digitale Revolution und ihre Auswirkungen verstehen und gestalten will, sollte interdisziplinär gebildet sein und sich auch mit der Geschichte der Informationsvisualisierung und des Buchdrucks beschäftigen. Beide Entwicklungen haben viel gemeinsam – wenngleich die Informationsflut heute viel stärker wächst. Auch werden die Innovationsschübe an sich immer schneller. So liegen zum Beispiel zwischen der Erfindung der Druckerpresse durch Johannes Gutenberg um 1442 und der Erfindung des ersten Computerdruckers 1953 etwa 500 Jahre, während es danach nur etwa 30 Jahre bis zur Erfindung des ersten 3-D-Druckers im Jahr 1984 brauchte.
In einer von digitalen Datensätzen geprägten Welt, in der sich Nachrichten im Internet rasant verbreiten, sind Infografiken besonders beliebt, denn sie können dazu beitragen, Komplexität auf einen Blick verständlich zu machen. Seit vielen Jahren entstehen neue Darstellungsmöglichkeiten und technische Werkzeuge in diesem Bereich. Gestalter, Programmierer, Redakteure und Wissenschaftler entwickeln ständig Ideen, wie kleine und große Informationsdisplays unseren Alltag bereichern können. Eingängig und visuell werden heute Themengebiete mithilfe von Infografiken beispielsweise in Factbooks bis hin zur wissenschaftlichen Auswertung und Aufbereitung von Unternehmensgeschichten aufbereitet. Auch 3D-Videos werden häufig von mehreren Infografiken flankiert.
„Wenn ich weiter sehen konnte, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stand“, schrieb Isaac Newton in einem Brief an Robert Hooke im Jahr 1676. Das Bewusstsein, dass wir selbst auf den Schultern von Riesen stehen, ist nur gering ausgeprägt und die Geschichte der Informationsgrafik nur punktuell bekannt. Mit den neuen digitalen Werkzeugen wächst der Informationsvisualisierung heute eine völlig neue Relevanz zu – intellektuell, ästhetisch, epistemologisch. Die reiche Geschichte wird nachhaltig im Buch History of Information Graphics entfaltet. Das Werk unterstreicht, dass die Kulturtechnik des visuellen Wissenstransfers schon lange einen zentralen Platz zwischen dem wissenschaftlichen Text und dem künstlerischen Bild „als Denkwerkzeug der westlichen Kultur beanspruchen kann.“
Widerlegt wird die Vorstellung, dass die Informationsvisualisierung erst durch die Digitalisierung zu einer eigenen Kulturtechnik herangereift ist, denn die Praxis, Informationen visuell zu codieren und zu speichern, um mit ihnen zu arbeiten und sie weiterzureichen, ist uralt (mesopotamische Rechentafeln in Keilschrift, in Stein gemeißelte Karten). Zudem wird ein Überblick über die Geschichte der „Informationsgrafik“ gegeben. Der spezifische Begriff bezieht sich ursprünglich auf Arbeiten, die als Druckgrafiken verbreitet wurden. Über Jahrhunderte waren gedruckte Holzschnitte, Radierungen oder Lithografien in der westlichen Kultur das dominierende Medium für Werke der Informationsvisualisierung.
Diese Dominanz dürfte nach Ansicht der Autoren der Grund dafür sein, dass das verkürzte Wort „Infografik“ noch immer als allgemeine Gattungsbezeichnung für vielfältige statische Informationsvisualisierungen gebraucht wird. Zuweilen sorgt dies heute für Verwirrung, weil ein Großteil auch der statischen Arbeiten schon seit vielen Jahren nicht mehr auf Papier gedruckt, sondern digital hergestellt und veröffentlicht wird. Doch auch schon vor der Erfindung des Computers waren Druckgrafiken nicht das einzig denkbare Medium für die Herstellung einer Visualisierung. Dazu gehören gezeichnete, gemalte oder geschnitzte Karten und Diagramme sowie dreidimensionale Objekte, beispielsweise anatomische oder botanische Modelle.
Der Band bietet mit über 400 Karten, Diagrammen und Zeichnungen einen Querschnitt durch die visuelle Wissensvermittlung und erstreckt sich über viele Länder, Medien und Epochen – von mittelalterlichen Manuskripten bis zu farbigen Druckgrafiken, von Pergamentrollen bis zu Prachtatlanten, von handgemalten Diagrammen bis zu digitalen Datenkarten. Neben Meisterwerken wie der Weltkarte von Martin Waldseemüller, dem Netzplan der New Yorker U-Bahn von Massimo Vignelli und Bob Noorda birgt die von Sandra Rendgen kuratierte Auswahl viele wertvolle Wissenschätze.
Besonders interessant sind auch die Naturstudien von Ernst Haeckel (1834–1919), die im Zeitalter der Digitalisierung ebenfalls hochaktuell sind. Der Breite seiner Forschungs- und Interessengebiete ist es zu verdanken, dass die Philosophie biologische Erkenntnisse aufgriff, und dass die modernen Geistes- und Naturwissenschaften sich in weiten Bereichen zu berühren und zu ergänzen begannen. In Goethe‘scher Tradition vermittelte er die Freiheit des Denkens und eine grenzüberschreitende Weltsicht. Als leidenschaftlicher Verfechter und Fortentwickler der Theorien Darwins verfasste Haeckel nicht nur philosophische Abhandlungen und promovierte in Zoologie, sondern prägte auch wissenschaftliche Begriffe, die bis in unsere Alltagssprache vorgedrungen sind.
Beispielsweise stammt der Begriff „Ökologie“ von Haeckel. Er verstand darunter „die Wissenschaft von den Wechselbeziehungen der Organismen untereinander“. Wir verdanken ihm aber auch ein ganzheitliches Weltbild, an dem wir uns im Sinne des nachhaltigen Handels orientieren sollten, denn heute ist nicht nur das Wissen der Welt, sondern auch die Welt selbst nur einen Klick von uns entfernt. Die digitalen Möglichkeiten der Information, Transaktion und Interaktion bereichern und prägen unser Leben.
Wie der Naturforscher Alexander von Humboldt wollte es Haeckel nicht nur entdecken, sondern auch erklären (ein wichtiger Aspekt, der im Kontext der Digitalisierung häufig vernachlässigt wird). Dazu fertigte er Hunderte detaillierter Zeichnungen, Aquarelle und Skizzen seiner Forschungsergebnisse an, die im 19. und 20. Jahrhundert in mehreren Bänden veröffentlicht wurden - unter anderem in einer Reihe meeresbiologischer Monografien sowie in seinen prachtvollen „Kunstformen der Natur“, die sein Lebenswerk zusammenfassen.
Infografiken tragen dazu bei, das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt begreifbar zu machen
David Rumsey, Michael Friendly, Michael Stoll und Scott Klein im Band History of Information Graphics einen Einblick in ihre einzigartigen historischen Sammlungen. Nach Information Graphics und Understanding the World schließt Sandra Rendgen mit diesem Buch eine Lücke im wissenschaftlichen Diskurs und schafft ein beispielloses Referenzwerk für Datencracks, Designer, Historiker und jeden interessierten Leser. Zahlreiche Grafiken aus der Astronomie, Kartografie, Anthropologie und Technik erzählen die Evolution der Informationsvisualisierung und zeigen auf anschauliche Weise, wie wir Menschen leben, lehren und lernen.
Sandra Rendgen ist Autorin und Konzeptentwicklerin, zu ihren Publikationen gehören TASCHENs Information Graphics und Understanding the World. Sie studierte Kulturwissenschaften und Kunstgeschichte in Berlin und Amsterdam und interessiert sich seit jeher für die Querverbindungen zwischen visueller Kultur und Technologie. Datenvisualisierung und interaktive Medien gehören zu ihren zentralen Themen, ebenso wie die Geschichte der Infografik. Sandra Rendgen lebt mit ihrer Familie in Berlin. Der Herausgeber Julius Wiedemann studierte Grafikdesign und Marketing und arbeitete in Tokio als Kunstredakteur für digitale Medien und Designmagazine. Zu seinen TASCHEN-Titeln zählen Illustration Now!, Logo Design, Jazz Covers und Information Graphics.
Die Auswahl des Buches liegt darin, dass die Praxis der Informationsvisualisierung immer ein selbstverständlicher Teil der intellektuellen Kultur war und zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen und Themenfelder überspannt. Neben herausragenden und bekannten Beispielen, wie der Weltkarte von Martin Waldseemüller oder geologischen Karte von William Smith, finden deshalb auch alltägliche oder wissenschaftlich nicht haltbare Beispiele Berücksichtigung, weil sie zum Gesamtkontext der Informationsvisualisierung in Europa und Nordamerika dazugehören.
Vater der Massenkommunikation
Johannes Gutenberg wollte zeigen, dass sich Dinge seriell produzieren lassen. 1999 wurde er von US-Journalisten zum "Menschen des Jahrtausends" gewählt und zum "Bill Gates des Mittelalters" ernannt. Nachdem Gutenberg zwischen 1440 und 1450 den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfunden hatte, wurden sie das erste Massenmedium der Neuzeit. Zunächst wurde es für religiöse Werke genutzt, dreihundert Jahre später trug die Drucktechnik vor allem zur Verbreitung der Ideen der Aufklärung bei. Seit Beginn der Neuzeit sind Bücher der wichtigste (Über-)Träger von Zivilisation und westlicher Kultur.
Zum Wesen der Digitalisierung gehört es heute, eine Verbindung der virtuellen und der realen Welt zu schaffen, so dass beide schließlich miteinander verschmelzen. Das erfordert neue Denkstile, Methoden und Formen interdisziplinärer Zusammenarbeit, denn die Herausforderungen von heute können nur mit einem breiten Horizont bewältigt werden. Neu denken bedeutet aber auch, Vergangenes mit Gegenwärtigem wie zu verbinden, so dass das Alte das Neue erklärt und umgekehrt. Das gelingt dem Buch History of Information Graphics mit seinen historischen Beispielen der Datenvisualisierung in besonderer Weise, denn es erinnert auch an jene, die schon zu ihren Lebzeiten aus der Zeit gefallen waren, weil sie immer das Ganze im Blick hatten und nicht nur den Wimpernschlag ihrer eigenen kurzen Geschichte.
Weiterführende Literatur:
Sandra Rendgen, Ed. Julius Wiedemann: History of Information Graphics. TASCHEN Verlag, Köln 2019 (Deutsch, Englisch, Französisch).
CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag. Berlin Heidelberg 2017.
Die Gutenberg-Bibel von 1454. Mit einem Kommentar zu Leben und Werk von Johannes Gutenberg, zum Bibeldruck, den Besonderheiten des Göttinger Exemplars, dem „Göttinger Musterbuch“ und dem „Helmaspergischen Notariatsinstrument“ von Stephan Füssel. 2 Bände mit Begleitheft. TASCHEN Verlag. Köln 2018.
Die Luther-Bibel von 1534. Hardcover, 2 Bände mit Begleitheft im Schuber. Mit einer kulturhistorischen Einführung von Stephan Füssel. TASCHEN Verlag. Köln 2017.
Fredmund Malik: Navigieren in Zeiten des Umbruchs. Die Welt neu denken und gestalten. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2015.
Rainer Willmann, Julia Voss: Kunst und Wissenschaft Ernst Haeckels (Deutsch, Englisch, Französisch). TASCHEN Verlag, Köln 2017.